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Schattenfrucht: Welches Geheimnis verbirgt sich hinter dem Tod der alten Dame
Schattenfrucht: Welches Geheimnis verbirgt sich hinter dem Tod der alten Dame
Schattenfrucht: Welches Geheimnis verbirgt sich hinter dem Tod der alten Dame
eBook483 Seiten6 Stunden

Schattenfrucht: Welches Geheimnis verbirgt sich hinter dem Tod der alten Dame

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Über dieses E-Book

Tania Redleffs, Mitte Zwanzig, gerade dabei, ihr angepasstes, anspruchsloses Dasein in neue Bahnen zu lenken, entdeckt unter mysteriösen Umständen die Leiche einer alten Frau. Von da an gerät sie in einen Strudel von Ereignissen: Sie lernt einen sehr interessanten Mann kennen, unmittelbar darauf steckt sie in einer ausweglosen Situation. Mit unglaublicher Energie kämpft sie um ihr Leben.
Kriminalkommissar Burkhardt, ganz am Anfang seiner Laufbahn, gleicht fehlende Intuition und Feinfühligkeit durch unerschütterliche Beharrlichkeit aus. Allen Widrigkeiten zum Trotz sucht er die verschwundene Tania. Kurz darauf wird die Leiche einer anderen jungen Frau gefunden, die Burkhardt zuvor sogar bei den Ermittlungen unterstützt hatte.
Der Kommissar durchpflügt das gesamte Umfeld. Welche Rolle spielt Tanias Freund, der sein Leben der Wissenschaft gewidmet hat? Ist in Forschungsunterlagen ein Ansatzpunkt zu finden? Hat der Mord an einem Apotheker etwas mit dem Fall zu tun? Wer ist der geheimnisvolle Unbekannte, der Tania nachweislich begleitete?
Burkhardt ermittelt Einzelheiten, die einen Blick auf das Geschehen um den Tod der alten Dame freigeben. Doch die bedrohliche Allianz, die sich dahinter verbirgt, ist noch nicht enttarnt und greift weiterhin massiv ins Leben ein.

Eigentlich wollten sie nur die Welt retten….. Ein Blick in die Schatten des Machbaren.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum4. Feb. 2020
ISBN9783750223639
Schattenfrucht: Welches Geheimnis verbirgt sich hinter dem Tod der alten Dame

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    Buchvorschau

    Schattenfrucht - Maren Nordberg

    1

    Was hinter uns

    und was vor uns liegt,

    ist relativ unbedeutend verglichen mit dem,

    was in uns liegt.

    Pearl S. Buck

    Prolog: Vor fünf Jahren

    Der Kaffee duftete und sie trat beschwingt in die sonnendurchflutete Küche. Sie konnte sich glücklich schätzen, so einen tollen Mann geheiratet zu haben. Er trug sie immer noch auf Händen, und das nach zehn Ehejahren. Maria strahlte. Wie es aussah, sollte sich jetzt auch, allen Prophezeiungen und Untersuchungen zum Trotz, ihr Lebenstraum erfüllen. Sie blies sich die kastanienbraunen Locken aus dem Gesicht und schmiegte sich kurz an seine Schulter. Wie so oft hatte er schon den Frühstückstisch gedeckt und Kaffee gekocht. An diesem Tag standen vier Gedecke auf dem Tisch.

    »Camilla bringt gleich frische Brötchen mit, den Toaster brauchen wir nicht«, meinte sie.

    Bevor sie den Toaster vom Tisch räumen konnte, wendete sie sich abrupt ab und schaffte es gerade noch bis zur Spüle. Die morgendliche Übelkeit überkam sie seit Tagen regelmäßig.

    Ihr Mann legte ihr zärtlich die Hand auf den Bauch und reichte ihr ein Tuch.

    »Na, da macht sich der kleine Racker ja schon ganz schön bemerkbar.«

    Sie lächelte und tupfte sich den Mund.

    »Mal sehen, ob es ein Racker wird, vielleicht bekommen wir ja ein Mädchen. Dann übernehmen wir Frauen hier die Herrschaft.« Sie war so glücklich, endlich schwanger zu sein. Angeblich war ihr Mann unfruchtbar, jedenfalls wenn man den Ausführungen seiner Urologen glaubte. So unfruchtbar, dass man nicht mal über eine künstliche Befruchtung nachzudenken brauchte.

    Sie trat ans Fenster und sah, wie ihre Freundin Luisa vor dem Haus parkte. Ohne sie wäre sie jetzt sicher nicht schwanger, aber davon durfte ihr Mann niemals etwas erfahren. Er machte sich immer so viele Gedanken und war in manchen Dingen einfach zu vorsichtig. Jetzt half ihre Freundin der dreijährigen Tochter aus dem Kindersitz.

    Bei ihr hatte diese Tablette auch gewirkt, mit gutem Erfolg. Die beiden liefen beschwingt auf den Eingang zu. Das kleine Mädchen mit den weißblonden Haaren machte sich einen Spaß daraus, über die langen schmalen Schatten der Rosenstämmchen zu springen. Es war eben für Frauen heute nicht immer einfach mit dem Kinderwunsch. Wenn man mit Ausbildung, Studium und Berufserfahrung so weit war, dass man über Kinder nachdachte, war die fruchtbarste Zeit bereits abgelaufen. Glücklicherweise kannte ihre Freundin diese Pille und konnte sie sogar besorgen. Angeblich war sie in Europa nicht zugelassen, sie sollte wohl aus der Tiermedizin kommen, so genau wollte man es lieber nicht wissen.

    Sie öffnete die Tür und umarmte ihre Freundin. Dann hob sie das Mädchen hoch in die Luft, das vor Freude quietschte, wie immer bei diesem Begrüßungsritual. Obwohl ihre Freundin Camilla regelmäßig Fernsehsendungen moderierte und nebenher noch modelte, nahm sie sich genug Zeit für ihre Familie und Freunde.

    »Die Natur ist ein Wunderwerk. Es ist erstaunlich, dass deine Tochter so hellblonde Haare hat, obwohl dein Mann doch eher ein dunkler Typ ist.« Sie setzte die Kleine vorsichtig wieder ab, die sofort in Richtung Küche voranlief.

    »Das sagt meine Mutter auch immer. Sie meint, so habe ich früher auch ausgesehen. Sogar meine hellblauen Augen und mein Muttermal am Kinn habe ich ihr vererbt.«

    Tania schob das ordentlich aufgerollte Baumwolltuch als Schutz gegen Bienenstiche in den Kragen, ihre glatten dunkelblonden Haare fielen locker darüber. Zu zweit wäre es viel einfacher gewesen, den Imkeranzug anzulegen. So musste Tania selbst darauf achten, dass kein Schlupfloch für die Bienen frei blieb. Nachdem sie den Hut mit dem Visier aus dünnem Drahtgeflecht aufgesetzt hatte, kamen die Handschuhe an die Reihe. Während sie den getrockneten Rainfarn im Rauchgerät, dem sogenannte Smoker, mit einem Feuerzeug entzündete, verscheuchte sie alle Gedanken an Ebola. In der letzten Zeit musste sie jedes Mal daran denken, sobald sie ihren Imkeranzug anzog. Wenn sie schon mit diesem Anzug Mühe hatte, wie fürchterlich musste es sein, sich in einen dieser gelben Ebola-Plastikschutzanzüge zu quälen. Und wenn sie selbst einen Fehler machte, gab es vielleicht ein paar Bienenstiche, ein Fehler beim Ebolaschutz bedeutete den Tod. Aber die Leute, die sich in diese gelben Anzüge quälten, die taten wenigstens etwas Sinnvolles, sie überbrückten mit dem Einsatz ihres Lebens die Zeit, bis endlich ein Impfstoff gegen Ebola zur Verfügung stand. Und was tat sie? Sie hütete die Bienen, während der eigentliche Imker mit der Polarstern auf wochenlanger Forschungsreise war.

    Sie hängte sich den Jutebeutel mit den Listen über die Schulter, nahm einen Stockmeißel und den kleinen schmalen Handfeger aus dem Kofferraum des Fiat Punto und ging bewaffnet mit dem Smoker in Richtung der grünen Bienenkästen. Wenn sie in diesem Anzug steckte, sah man zwar, dass sie sehr groß war, aber wie schlank, und leider auch kantig und eckig ihr Körper gebaut war, war nicht mehr zu ahnen. Das trockene Laub raschelte unter ihren festen Lederschuhen und die kleinen Äste knackten laut in der Stille. Ihr fiel jetzt erst auf, dass kein Lüftchen wehte, ein für Bremen sehr ungewöhnlicher Zustand.

    Die Bienenkästen waren auf zwei Standorte in und um Bremen herum verteilt. Hier am Ende des Parks mit den großen alten Bäumen standen nur fünf dieser quadratischen Styropor-Beuten. Es handelte sich um Bienenvölker, deren Honigertrag, Krankheitsresistenz und Friedfertigkeit begutachtet werden sollte. Die Natur wurde in diesem Fall akribisch vermessen, wie es seit dem Beginn der Wissenschaften geschah, um sie anschließend in ein Korsett zu pressen, dass den Menschen dienlich war. Naja, oder das der Wirtschaftlichkeit und damit dem Geldbeutel von Konzernen nützlich war. Sie musste an die seltsamen Markenrechte für bestimmte Kartoffelsorten denken. Fast wäre ihre Lieblingssorte Linda vom Markt verschwunden, weil der Rechteinhaber keine Setzkartoffeln mehr anbieten wollte.

    Bei den Bienenkästen angekommen, hielt sie einen Moment inne und ließ ihren Blick über die angrenzenden Weiden und Felder schweifen. Hier war die Welt noch in Ordnung, man sah keinen Fabrikschornstein und hörte auch keine Autobahn. Sie konnte gut verstehen, dass die Leute mit genug Geld gern hier im Bremer Stadtteil Oberneuland eine der alten Villen kauften und herrichten ließen.

    Keine zehn Meter von ihr entfernt grenzte eines dieser alten parkähnlichen Gartengrundstücke an die Weide vor ihr, neugierig sah sie zu dem verwunschenen, mit Efeu berankten Pavillon hinüber. Dort hatte jemand den alten bemoosten Steintisch mit einer schneeweißen Tischdecke aufgepeppt. Bei ihrer letzten Kontrolle der Bienenstöcke lag sie ganz bestimmt noch nicht da. Dieses kleine Gebäude aus Stein erinnerte an einen antiken Tempel, aber im Mini-Format, so wie es sie in den englischen Landschaftsparks gab. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, wie die reichen Leute dort am lauen Vorabend gesessen hatten, Rotwein aus geschliffenen Kelchgläsern genossen und im Schutz der alten Buchen die Rehe auf den Wiesen beobachteten. Jetzt war natürlich keiner da, solche Herrschaften waren viel beschäftigt. Ihr fiel wieder auf, wie ungewöhnlich still es hier war, nichts regte sich. Sie war hier vollkommen allein und ungestört.

    Ein Blick auf die Bienenkästen zeigte ihr, dass wenigstens dort ein emsiges Treiben herrschte, Arbeiterinnen mit gelben Pollenhöschen an den hinteren Beinen kehrten zum Bienenstock zurück und ein leises Summen lag in der Luft. Sie stieß einige Hübe Rauch aus dem Smoker und begann vorsichtig, den Deckel des ersten Bienenkastens ein wenig anzuheben.

    Für Mitte September war es noch überraschend warm und angenehm windstill. Nachdem sie mit dem ersten Bienenstaat fertig war, setzte sie sich ein wenig abseits auf den Rest der niedrigen Gartenmauer des angrenzenden Grundstücks, nahm den sperrigen Hut ab und zog auch die Handschuhe aus. Sie musste das Beobachtungsprotokoll akribisch weiterführen, sonst war die monatelange Arbeit umsonst gewesen. Jakob, der Imker und gleichzeitig ihr Freund, hatte sich bestimmt nicht nur aus Interesse bereiterklärt, die Testphase mit den neu gezüchteten Königinnen durchzuführen. Er wollte natürlich auch die Aufwandsentschädigung haben, denn als fast dreißigjähriger Wissenschaftler mit befristeten Teilzeitstellen am Institut für Meeresforschung und an der Universität konnte er zusätzliche Einnahmequellen gut gebrauchen.

    Wenn sie an Jakob dachte, beschlichen sie zwiespältige Gefühle. Eigentlich waren sie beide zusammen, schon seit vier Jahren. Er brannte für die Naturwissenschaften. Jakob hatte, im Gegensatz zu ihr selbst, alles genau unter Kontrolle. Dafür bewunderte sie ihn, einerseits. Andererseits merkte sie immer wieder, dass eigentlich kein richtiger Raum für sie in seinem Leben blieb, obwohl er das niemals so sehen würde. Ihm war es außerordentlich wichtig, dass er immer genau wusste, wo sie war und was sie tat. Genauso selbstverständlich schrieb er ihr über Fortschritte bei seinen Meeresforschungen, was sie nur leidlich interessierte. Und es war selbstverständlich für ihn, dass sie seine Aufgaben bei den Bienen weiterführte, wenn er selbst keine Zeit hatte, also fast immer. Jetzt war er seit Wochen mit dem Forschungsschiff in arktischen Gewässern unterwegs, im Dezember wollte er zurückkommen. Ging es nicht um seine Forschungen, dann waren die Bienen das Thema und natürlich erkundigte er sich akribisch, was Tania so tat, mit wem sie sich traf und was sie vorhatte. Selten fragte er, wie es ihr ging. Wie auf Bestellung meldete ihr Smartphone eine eingehende Textnachricht.

    »Hab wie geplant meine zweite Versuchsreihe abgeschlossen, bist du gerade bei den Bienen?« Entnervt verdrehte sie ihre Augen. Bevor sie das Handy ohne zu antworten einsteckte, änderte sie die Einstellungen. Jakob konnte nun nicht mehr erkennen, ob sie seine Nachrichten gelesen hatte. Sie beschloss, die nächsten vierundzwanzig Stunden auf keine seiner Nachrichten zu reagieren.

    Sie seufzte, zog eine Pappmappe und den Bleistift aus dem Jutebeutel hervor und begann mit den Eintragungen. Zwischendurch atmete sie tief durch und blätterte ungeduldig eine Seite weiter. So etwas lag ihr einfach nicht, sie brauchte einen Beruf, der nicht so kleinkariert war. Gab es überhaupt einen Beruf, der ihr lag? Sie wollte sich jetzt nicht mit solchen Gedanken den schönen Tag verderben. Eigentlich ging es ihr doch gut, sie hatte ihr Auskommen mit verschiedenen Aushilfsjobs, eine eigene kleine Wohnung und eine Beziehung, die ihr zumindest physisch Freiheiten ließ. Was wollte sie eigentlich mehr? Gedankenverloren ließ sie den Blick über die Kuhweide schweifen. Die schwarzgefleckten Kühe standen in einem Pulk zusammen und schienen sich zu unterhalten. Von ihrem Platz auf der Steinmauer aus konnte sie gut in den Pavillon auf dem Nachbargrundstück hineinblicken. Sie stutzte und sah genauer hin, dort saß ja doch jemand drin.

    Es dauerte noch fast zwei Stunden, bis sie alle Arbeiten und Eintragungen vorgenommen hatte. Am Ende war sie ziemlich genervt von allem, der Rainfarn war restlos im Smoker verbrannt, sie hatte keinen Rauch mehr für den letzten Bienenstock und die blöden Bienen von diesem Volk waren sowieso viel aggressiver als alle anderen. Dafür sammelten sie aber auch mehr Honig als die anderen vier Völker zusammen, die Waben waren so voll mit Honig, dass es ihr schwer fiel, die Kästen zu heben. Als sie den Deckel oben aufsetzen wollte, krabbelten immer wieder Arbeitsbienen in den Fugen herum, so dass ihr nichts anderes übrig blieb, als den Deckel beherzt zuzudrücken. Das Knacken der platzenden Bienenkörper verursachte ihr eine Gänsehaut. Es war schon eine eigenartige Natur, die Arbeiterinnen eines solchen Volkes trugen alle das gleiche Erbgut in sich, es ließ sich durch Züchtung vorherbestimmen, wie ruhig ein Volk blieb und ob es viel Honig sammelte. Und jede Biene hatte ihre Aufgabe, Individualität gab es in einem funktionierenden Insektenstaat nicht. Irgendwie war es Jakob auch genug, wenn sie richtig funktionierte, so wie es sich für eine gute Freundin gehörte.

    Jetzt hatte sie aber wirklich genug von den Bienen, eilig pellte sie sich aus dem Schutzanzug. Ihr Blick wanderte zum Pavillon hinüber, die Person saß immer noch genauso dort wie vorhin. Weit hinten im Pavillon, auf einer Steinbank, den Oberkörper in der Ecke angelehnt. Unter einem schwarzen Hut mit breiter Krempe ringelten sich einige graue Haare hervor. Die Beine der Person waren von einem langen Rock verdeckt, die Hände lagen im Schoß. Irgendwie mutete die Szenerie gespenstisch an, hier unter diesen alten Laubbäumen. Tania schüttelt den Schauer ab, der ihr unwillkürlich über den Rücken gekrochen war und lachte laut auf. Das Lachen klang in ihren eigenen Ohren hohl und leer in dieser Stille. Sie war auf eine dieser skurrilen Puppen hereingefallen. Dort saß eine dieser Figuren, wie sie auch am Wümmedeich vor einem der Häuser auf der Bank saßen. Etwas unheimlich und gruselig sahen diese lebensgroßen Figuren schon aus, ihr Geschmack war es auf alle Fälle nicht.

    2

    Als sie wieder im Auto saß, war sie irgendwie erleichtert. Diese Einsamkeit und die komische Puppe mit dem breitrandigen schwarzen Hut waren ihr doch mehr aufs Gemüt geschlagen, als sie sich eingestehen wollte.

    Sie blickte abwägend auf die Uhr, gleich halb zwei. Ihre Schicht in der Baguetterie begann in einer halben Stunde, viel Zeit blieb nicht mehr, aber noch genug für einen kurzen Zwischenstopp beim Gemüseladen. Sie brauchte jetzt etwas für ihren nervösen Magen.

    Tania ließ den Wagen an und fuhr vorsichtig den kleinen Wirtschaftsweg mit den tiefen Schlaglöchern entlang, ihr kleiner Fiat sollte nirgends aufsetzen. Nach kurzer Zeit mündete der Weg in die Landstraße. Im sonnendurchfluteten dörflichen Zentrum Oberneulands hielt sie vor Dani´s Gemüseladen, Inhaberin Daniela Meininger. Sie freute sich immer noch, dass dieses Geschäft trotz eines gut sortierten Supermarkts um die Ecke vor ein paar Jahren eröffnet worden war. Meistens verlief der Verdrängungswettbewerb heute umgekehrt. Das Gebäude selbst stammte mindestens aus den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts, es war viel zu klein für heutige Ansprüche, aber für diesen rustikalen Ein-Personen-Laden schien es genau das Richtige zu sein.

    »Mahlzeit, wie gut, dass Sie in der Mittagszeit nicht schließen.« Tania nickte der kräftigen Dani mit den angegrauten, krausen Haaren zu.

    »Das ist doch selbstverständlich, mittags kommen viele Kunden, entweder in der Mittagspause oder auf dem Heimweg von Kindergruppe oder Kita mit den Kids.«

    Tania verschaffte sich einen Überblick über die Holzkisten und Weidenkörbe mit kleinen, aber knackig und frisch aussehenden Äpfeln und Birnen.

    »Das sind alles alte Sorten, die haben noch richtig Geschmack. Und sie kommen alle aus der Region, wie es heute so schön heißt. In diesem Fall kommen sie wirklich von den Bauern aus dem Umland, ich kenne die Obstbäume sozusagen persönlich.«

    Tania überlegte, ob sie sich eine Tüte mit Äpfeln zusammenstellen sollte, entschied sich aber letztendlich doch für die verlockenden Karotten. Sie nahm ein Bund aus der Kiste vor ihr und reichte sie der Frau an, die die Ärmel ihres handgestrickten Wollpullovers inzwischen hochgeschoben hatte. Wie hielt sie es überhaupt bei diesem Wetter in einem solchen Pullover aus?

    »Sind die auch von einem Acker hier in der Nähe?«

    »Natürlich, die werden von einer Familie angebaut, die hinten an der Wümme nach Feierabend noch den alten familieneigenen Gemüsegarten pflegt. Wir Ökos sind eben Idealisten, man hat ein wenig Einkommen, aber reich werden kann man damit nicht, wir leben für andere Ziele.«

    Tania zahlte und nahm die offene Papiertüte mit den Möhren an, das Grün ragte weit heraus.

    »Mmmh, die duften ja noch richtig nach Karotten.«

    »Ach, ich habe ganz vergessen zu fragen, soll ich das Grün entfernen?«

    »Nein, danke, das kann ich gut gebrauchen, ich hüte gerade das uralte Meerschweinchen von meinem Freund.« Tania zögerte kurz. »Aber wären Sie so nett und würden mir zwei Karotten abspülen, ich würde sie gerne unterwegs essen.«

    Daniela Meininger verschwand mit einem freundlichen »Selbstverständlich gern!« im hinteren Raum. Man hörte Wasser rauschen und leise Schabgeräusche, dann kam sie mit zwei abgespülten Karotten zurück.

    »Ich musste sie an einigen Stellen mit dem Messer etwas schrabben, die gute Erde saß zu fest daran.«

    »Vielen Dank, diese Nervennahrung kann ich jetzt gut gebrauchen, denn ich hatte gerade ein gruseliges Erlebnis.«

    Die Frau guckte leicht irritiert und Tania biss gierig ein großes Stück ab.

    »Karotten knacken so schön beim Kauen und rütteln das Gehirn leicht durcheinander, das hilft mir immer, wenn ich etwas verarbeiten muss. «

    Der Blick wurde noch fragender.

    Die Tania wusste selbst nicht warum, aber irgendwie hatte sie plötzlich das Bedürfnis, von der komischen Figur und ihren Gefühlen zu erzählen. Dani hörte aufmerksam, ja fast gespannt, zu.

    »Sie meinen diesen verwunschenen alten Pavillon mit Blick auf die Weide?«

    »Genau den.«

    »Und dort sitzt jetzt auch so eine lebensgroße Puppe?«

    Tania nickte und erzählte weiter, es gab manche Menschen, die luden dazu ein, ihnen ihr Herz auszuschütten. Dani gehörte eindeutig dazu. Tania fragte sich, was sie sich hier in ihrem Laden wohl schon alles anhören musste. Sie schien aber ernsthaft interessiert zu sein.

    »Die Puppe wirkt total skurril, mit dem schwarzen Hut. Ich hätte beinahe meine ganzen Imker-Utensilien fallen gelassen.«

    »Ich dachte, der nette junge Mann betreut die Bienen dort, er hält auch manchmal bei mir an und kauft sich was Frisches.« Damit war es also erwiesen, auch Jakob war mit ihr ins Gespräch gekommen.

    »Das stimmt, ich vertrete ihn nur, wem gehört eigentlich das Grundstück mit dem Pavillon?«

    Danis Gesicht hatte einen unbestimmbaren Ausdruck angenommen, als sie vage antwortete:

    »Das sollen sich irgendwelche Leute mit genug Geld zurecht gemacht haben, erzählt man sich.«

    »Und kennen Sie die Leute?«

    »Kann sein, dass die auch schon mal bei mir eingekauft haben, so genau weiß ich ja auch nicht, wo meine Kunden wohnen. Wie sieht es eigentlich mit dem Honig aus, den könnte ich doch in mein Sortiment aufnehmen.«

    Tania blickte sich im Laden um, es stimmte, Honig gab es tatsächlich noch nicht. Da Dani sich augenscheinlich nicht für Ökosiegel interessierte, bot Tania an, in den nächsten Tagen ein paar Probegläser vorbei zu bringen.

    Als sie den Laden verließ, kaute sie noch auf den Resten der Karotte herum, nun musste sie sich doch beeilen, ganz pünktlich schaffte sie es nicht mehr zur Arbeit.

    3

    »Der Cappuccino ist ja total versalzen!«

    Tania zuckte zusammen und riss den Blick von ihrem Smartphone los. Jakob schrieb ihr mittlerweile im Viertelstundentakt. Und sie antwortete nicht. Es war wie von selbst passiert, aber sie hatte auf die Bienen-Frage nicht geantwortet. Und auch auf keine weitere Nachricht.

    Der einzige Kunde stellte ihr die volle Tasse auf den Tresen, braune Brühe schwappte auf die Untertasse.

    »Ich gebe kein Salz in den Kaffee«, erklärte Tania bestimmt.

    »Das habe ich selbst besorgt.« Der große sportliche Mann mit den kräftigen, sehnigen Händen hatte wohl doch Humor, denn er stellte den Zuckerstreuer neben den verunglückten Kaffee. Claudia, ihre Chefin, kam interessiert aus der Küche nach vorne.

    »Was gibt es denn?«

    Tania ließ einige weiße Kristalle aus dem Streuer auf einen Löffel rieseln und probierte ein wenig.

    »Salz, mit Zucker, aber eindeutig auch Salz. Entschuldigen Sie bitte vielmals, manchmal haben wir hier Schüler als Gäste, vielleicht hat sich da einer einen Scherz erlaubt.«

    Mit dem neuen Cappuccino brachte sie dem Kunden drei Zuckertütchen aus Papier an den Tisch. Dann zog sie eilig alle Zuckerstreuer aus dem Verkehr, die sie heute Mittag als erstes, nachdem sie zu spät zur Arbeit erschienen war, aufgefüllt hatte.

    Claudia warf ihr missbilligende Blicke zu, als sie die Zucker-Salz-Mischungen in den Mülleimer

    kippte. Dafür war der Kunde so freundlich, die leere Tasse auf die Ablage zu stellen.

    »Vielen Dank.«

    »Nichts zu danken, wann öffnen Sie eigentlich morgens? Ich werde jetzt ab und zu hier in der Gegend zu tun haben.« Tania reichte ihm den Flyer mit den Öffnungszeiten und dem Speiseangebot, dabei meinte sie zu merken, dass sein Blick eher auf ihr selbst ruhte, als dass er den Prospekt beachtete.

    Als er gegangen war, fragte sie sich, ob ihre Sinne an diesem Tag gestört waren, erst die Sache mit der Figur im Pavillon, dann das nette Gespräch mit der ihr fremden Gemüsefrau, jetzt dieser Kunde mit seinen Blicken und zwischendurch noch der verwechselte Zucker. Wahrscheinlich lag das alles daran, dass es sie viel zu viel Energie kostete, Jakobs Nachrichten nicht zu beantworten. Und trotzdem war es richtig, das fühlte sie, sie musste sich Abstand verschaffen, damit sie ihre eigenen Gefühle und Wünsche endlich sortiert bekam. Jakob, wie aus heiterem Himmel durchzuckte sie die Erkenntnis, dass sie seine wichtige Mappe mit den Beobachtungen bei den Bienen vergessen hatte. Und nachts sollte es kräftig regnen. Das war ein toller Tag, wo sollte das noch hinführen?

    Die folgenden Stunden war sie damit beschäftigt, den Kundenansturm zu bewältigen, alle Welt wollte diesen lauen Septembertag auf der Terrasse der Baguetterie ausklingen lassen. Da sie zum Dienstantritt zu spät erschienen war, konnte sie schlecht darum bitten, früher zu gehen. So beobachtete sie mit gemischten Gefühlen die dunklen Wolken, die sich langsam zu einer tiefen, unheimlichen Masse zusammenschoben. Von Ferne grollte immer mal wieder ein leiser Donner und im Radio wiederholte sich die Warnung vor örtlichen Gewittern mit schweren Sturmböen und Starkregen.

    Als Tania endlich, nach heißem Käse und süßen Crêpes stinkend, wieder im Wagen saß, lauerte sie skeptisch auf die ersten dicken Regentropfen auf der Windschutzscheibe. Die blieben aber aus, während sie auf schnellstem Weg zu den Bienen fuhr. Sie war so angespannt, dass ihr Nacken wieder zu schmerzen begann. Der kleine, buckelige Wirtschaftsweg war auch mit Hilfe der Scheinwerfer kaum noch zu sehen, sie tastete sich die letzten Meter mit dem Wagen vorsichtig voran, die dunklen Bäume hoben sich gerade noch vom düsteren Himmel ab.

    Wie gut, dass sie auf ihrem Handy eine Taschenlampen-App hatte, so konnte sie den Rest des Weges zu den Bienen zu Fuß zurücklegen, ohne sich die Beine zu brechen. Ab und zu fuhr eine Windböe kräftig in die dicken Äste der Baumkronen, dann war es wieder ganz still, wie die Ruhe vor dem Sturm. Knackte da jemand hinter ihr? Erschrocken blieb sie stehen und deckte das Licht ab. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie meinte, es zu hören. Leise bewegte sie sich weiter voran und blieb immer wieder zwischendurch stehen um zu lauschen. Sie war schon eine alberne Gans, nur weil es dunkel war, machte sie sich in die Hosen. Jetzt klatschten die ersten dicken Tropfen laut auf das Blätterdach der Bäume. Augenblicklich verstummte das leise Fiepen einer Maus. Am Rand zur Wiese, wo die Bienenkästen standen, war es glücklicherweise etwas heller - und man konnte die Wassermassen sehen, die vom Himmel fielen. Jetzt aber schnell, dachte Tania, denn die Bäume schützten vor einem solchen Wolkenbruch nur kurz. Der Wind frischte wieder auf. Und richtig, dort auf der verwitterten Mauer, wo sie am Mittag in Ruhe ihre Eintragungen vorgenommen hatte, lag unschuldig der Jutebeutel mit der Pappmappe. Sie griff ihn, gleichzeitig schüttelte eine Sturmböe das ganze Wasser aus der Baumkrone über ihr. Es gelang ihr gerade noch, die kostbare Mappe vor den Bauch zu halten und sich schützend darüber zu beugen. Vor ihr krachte ein dicker Ast zu Boden. Instinktiv rettete sie sich unter das nächste zur Verfügung stehende Dach: Als sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, stand sie schon im alten Pavillon, direkt neben der skurrilen Figur. Grübelnd betrachtete sie die Wasserlache, die sich unter ihr bildete. Draußen war es wieder etwas heller geworden, aber es stürmte und regnete noch stärker. Das Wasser verteilte sich auf dem Boden und kroch am Rocksaum von dieser komischen Frauenfigur hoch.

    Tania schüttelte sich, da hatte sie ja gerade nochmal Glück gehabt. Wenn der dicke Ast ihren Kopf getroffen hätte, darüber mochte sie nicht nachdenken. Ihr wurde erst so langsam klar, in welche Gefahr sie sich begeben hatte, nur um diese blöden Aufzeichnungen zu holen. Sie hängte den Beutel, der kaum einen Spritzer abbekommen hatte, an einen rostigen Nagel an der hinteren Wand. Sie selbst merkte, wie ihr die kalte Nässe vom Rücken aus überall hin kroch. Prima Kur für ihren verspannten Nacken.

    Notgedrungen setzte sie sich an die äußerste Kante der Steinbank und starrte in das Unwetter. Angst vor irgendwelchen Mitmenschen, die jetzt im Wald herumstreunten, brauchte sie bei diesem Wetter jedenfalls nicht mehr zu haben. Es war sowieso Quatsch, warum war sie bloß so ängstlich? Es war doch alles eine Frage der Sichtweise. Hier in diesem Pavillon, abgeschirmt durch das Unwetter, fühlte sie sich plötzlich geborgen. Was war sie bloß für eine dumme Kuh, sie hütete Jakobs Meerschwein, seine Bienen und versuchte sonst auch, ihm alles recht zu machen. Und wenn sie mal einen Fehler machte, rannte sie los und versuchte, es wieder gut zu machen. Und feige war sie außerdem. Anstatt auf sein Nachrichten-Bombardement mit Worten zu reagieren, ihm Paroli zu bieten, schwieg sie still vor sich hin. Es reichte jetzt! Wütend schlug sie die flache Hand gegen die Steinmauer. Dabei verrutschte der schwarze Hut ihrer Banknachbarin. Ganz wie es ihre Gewohnheit war, wollte sie ihn wieder zurecht rücken. Mitten in der Bewegung erstarrte sie. Wie blöd war sie eigentlich? Der Hut war sowas von hässlich und unheimlich, der passte nicht an so einen schönen Ort. In hohem Bogen segelte der Hut in den Regen und wurde augenblicklich zu Boden gepeitscht.

    Ohne Kopfbedeckung sah die Figur auch nicht besser aus, Tania betrachtete mit Widerwillen im Halbdunkeln den altmodischen Rock und die geblümte Bluse mit dem weißen Kragen, den man jetzt, da der Hut fehlte, genauer sehen konnte. Die anheimelnde Stimmung war verdorben, ihr kroch wieder ein kalter Schauer über den Rücken. Die Figur sah aber auch so widerlich echt aus. Sie musste die dunklen Gedanken aus ihrem Kopf endlich vertreiben, da half nur eins: Sie startete wieder ihre Taschenlampen-App, richtete den Lichtschein auf das Gesicht der Figur - und erstarrte. Das linke Augenlid hing in angefressenen Fetzen herab und gab den Blick auf ein glasiges, totes Auge frei. Der Unterkiefer hing schief herunter und eine bläuliche, aufgequollene Zunge drängte eine strahlend weiße Prothese aus dem Mund.

    Das Smartphone schlug in die Pfütze auf dem Betonboden, das Licht erlosch.

    Dann rannte Tania los. Quer durch Sträucher und Büsche, riss sich von Brombeerranken los, stieß sich den Kopf an tief hängenden Ästen, musste kurz anhalten, weil sich der Würgreiz nicht mehr unterdrücken ließ und hetzte weiter. Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte sie ein Auto, kurze Zeit später sah sie auch die dazu gehörenden Scheinwerfer. Ohne nachzudenken sprang sie aus dem Gebüsch auf die Straße.

    4

    Der junge Kriminalkommissar Patrick Burkhardt knallte die Bürotür lauter hinter sich zu, als es ihm mit seiner gerade sechs Wochen andauernden Amtszeit auf Probe zustand. Seit dem ersten August war er im Amt. Und schon wieder war er mit seinem Vorgesetzten zusammengestoßen, der ihn von Anfang an auf das Abstellgleis geschoben hatte. Dafür gab es keinen Grund, aber Arbeit genug. Warum sollte er gerade heute wieder Innendienst schieben, während es große Unruhe in der Stadt durch die Fehde zweier Großfamilien gab. Alle anderen diensthabenden Kollegen waren mit dieser Sache beschäftigt, oder sie ermittelten in zwei anderen Fällen von Mord oder Totschlag. Er war doch nicht zur Mordkommission gekommen, um sich mit seinen neunundzwanzig Jahren ins Büro verbannen zu lassen.

    Lustlos blätterte er durch den Papierstapel, mit dem er sich heute Abend vergnügen durfte. Es handelte sich um längst abgearbeitete Angaben von Zeugen in alten Fällen, die noch in die Datenbank eingepflegt werden mussten. Die Fälle lagen auf Eis, die Polizei war mit ihrem Latein am Ende. Burkhardt war davon überzeugt, dass jede Schreibkraft seine Tätigkeit übernehmen könnte, damit er Zeit für einen einzigen dieser Altfälle hatte. Seufzend loggte er sich ins System ein und ging in die Teeküche, für diese stupide Arbeit brauchte er mehr als nur eine Tasse Kaffee. Da er sich kaum überwinden konnte anzufangen, blieb er noch eine Weile mit der Dose Energy-Drink aus dem Kühlschrank am Fenster stehen. Der Parkplatz wurde von einigen rechteckigen Leuchten an dünnen, langen Metallpfählen, erleuchtet. Schnell war das Weißblech der Dose in seiner Hand vom ersten feinen Kondenswasser überzogen. Während seine Hand angenehm gekühlt wurde, betrachtete er die großen Pfützen, die das Unwetter auf dem Betonpflaster hinterlassen hatte. Es war mit unerwarteten Regenmengen über Bremen hereingebrochen und urplötzlich wieder verstummt.

    In seiner Bürotür prallte er fast mit seinem Vorgesetzten, Holger Arndt, zusammen. Was wollte der denn schon wieder von ihm.

    »Warum sind Sie nicht an Ihrem Platz, wenn sie im System eingeloggt sind? Das ist gegen die Vorschriften!« Arndts rötlicher Vollbart, der an einen stolzen Wikinger erinnerte, erzitterte.

    Wurde das jetzt Schikane oder bloße Kontrolle?

    Burkhardt sagte vorsichtshalber nichts sondern rieb sich abwartend über das glattrasierte Kinn. Wenn er Spätdienst hatte, rasierte er sich vor Dienstantritt, damit er sich nicht am Ende seiner Schicht in den frühen Morgenstunden wie ein unrasierter Penner fühlte.

    Wie zwei Stiere standen sie sich gegenüber, bis Arndt kurz hervorstieß: »Los, loggen Sie sich wieder aus, Sie müssen nach Oberneuland, dort gibt es wohl eine Leiche.«

    Damit wandte er sich um und verschwand wieder in seinem eigenen Büro.

    »Das war kein Wort zu viel«, ärgerte sich Burkhardt. Er konnte es sich aber gut vorstellen, die Streifenwagen waren wegen überschwemmter Straßen und umgestürzter Bäume im Einsatz, alle Kommissare der Mordkommission mit wichtigen Aufgaben betraut, da schickten sie ihn zu seinem ersten Einsatz alleine los.

    Wie beschrieben stand der VW Golf eines Objektschutz-Unternehmens mit Warnblinklicht auf dem Bürgersteig an der Oberneulander Landstraße vor dem Haus mit der Nummer 51. Die Hausnummer war auch in der Dunkelheit sehr gut zu erkennen, weil die alte Villa mit Strahlern wie ein Baudenkmal beleuchtet war. Auch im parkähnlichen Vorgarten hatten Lichtkünstler ihre Akzente gesetzt, Skulpturen schimmerten dezent violett und die Fontänen im recht üppigen Gartenteich schillerten in Regenbogenfarben. Ein Rettungswagen war noch nicht eingetroffen.

    Burkhardt stieg aus dem Zivilfahrzeug, zog die dunkelbraune hüftlange Lederjacke glatt und ging auf einen kleinen, noch sehr jung wirkenden Mann zu, der jetzt aus dem Golf stieg. Er sah nur zur Hälfte seriös aus, denn zur typischen Cargohose mit Emblem eines Objektschutzunternehmens trug er lediglich ein enges, weißes Muscle-Shirt.

    »Moin, mein Name ist Burkhardt, Kriminalpolizei Bremen«, er hielt seinen Polizeiausweis hoch, »haben Sie die Polizei informiert?«

    Der junge Mann, augenscheinlich südländischer Abstammung, nickte.

    »Ja, mein Name ist Hassan Domoglu, sie kam direkt dort zwischen den Sträuchern hervor.«

    Er deutete den entsetzten, suchenden Blick des Polizeibeamten richtig.

    »Nein, nein, ich konnte rechtzeitig bremsen, sie heißt übrigens Tania Redleffs, sie ist zwar nass und friert, aber ihr ist nichts passiert. Sie sitzt auf dem Beifahrersitz, ich habe ihr meine Uniformjacke und das Hemd gegeben.« Er hob die Schultern. »Sie hat wohl in dem Wäldchen eine Leiche gefunden.«

    Burkhardt trat an die Beifahrertür und eine junge Frau mit halblangen, in nassen Strähnen ins Gesicht hängenden Haaren öffnete das Fenster.

    »Endlich, sind Sie von der Polizei?« Sie konnte vor Zittern kaum sprechen.

    »Entschuldigen Sie, wenn ich nicht aussteige, aber ich habe fast nichts mehr an«, ihre Zähne schlugen unrhythmisch aufeinander, »die Leiche ist dort ganz am Ende des Grundstück, das zu dieser beleuchteten Villa gehört. Dort gibt es einen kleinen Pavillon, da sitzt sie drin, man muss nur diesem kleinen Weg dort folgen.«

    Burkhardt musste etwas seltsam geguckt haben, jedenfalls ergänzte sie: »Ja, sie sitzt dort auf einer Bank, an die Wand gelehnt wie eine Puppe.«

    Der Kriminalbeamte schien immer noch nicht so recht überzeugt zu sein, also ergänzte sie ihre Angaben.

    »Ich habe diesen schwarzen Hut zufällig heruntergestoßen, als ich im Pavillon Schutz vor dem Unwetter gesucht habe. Da habe ich das angefressene Gesicht gesehen.«

    Sie öffnete ruckartig die Wagentür und übergab sie sich.

    Burkhardt konnte gerade noch einen Schritt zurücktreten, er glaubte, dass seine Schuhe keine Spritzer abbekommen hatten. Er überlegte die Spurensicherung zu rufen, entschied sich aber vorher zu einem ersten Inspektionsgang. Das wäre für seine Kollegen ein gefundenes Fressen, wenn es gar keine Leiche gab. Aber die Reaktion der Frau ließ auf ein wirklich erschreckendes Erlebnis schließen. Er erkundigte sich in der Zentrale nach dem Verbleib des Rettungswagens und nahm dann den starken Strahler aus dem Kofferraum.

    »Warten Sie, ich begleite Sie«, Hassan Domoglu folgte ihm mit langen Schritten und hielt seinerseits ebenfalls eine starke Taschenlampe in der Hand.

    5

    Tania erlebte die folgende halbe Stunde wir im Zeitraffer, der Kriminalbeamte verschwand mit einem langgezogenen hellen Lichtkegel vor den Füßen zwischen den dunklen Bäumen, der nette junge Türke, in dessen Dienstwagen sie saß, rannte mit einer eigenen Taschenlampe hinter ihm her. Dann geschah lange Zeit nichts, bis es plötzlich von Streifenwagen wimmelte. Sie parkten mit eingeschaltetem Blaulicht kreuz und quer die Straße zu. Schließlich tauchten auch die Leute von der Spurensicherung in VW-Bussen auf, die wie im Film in ihre weißen Anzüge schlüpften und mit Alukoffern und großen Strahlern im Wald verschwanden. Dann sah sie den Kommissar von vorhin wieder, der an der herrschaftlichen Eingangstür des Hauses Nummer 51 klingelte. Niemand öffnete ihm. Was für ein Wunder, dachte Tania, falls dort jemand zu Hause war, hätte er oder sie wohl inzwischen was von dem Riesenzirkus im Garten mitbekommen.

    Langsam wurde ihr wieder wärmer, dank der Sitzheizung, die Hassan Domoglu für sie auf die höchste Stufe gedreht hatte.

    Als zu guter Letzt der bestellte Krankenwagen doch noch auftauchte, ging es ihr schon wieder einigermaßen gut. Dankend nahm sie die

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