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Matis Reise in den Bauch der Erde: Teil 1 der Trilogie
Matis Reise in den Bauch der Erde: Teil 1 der Trilogie
Matis Reise in den Bauch der Erde: Teil 1 der Trilogie
eBook313 Seiten4 Stunden

Matis Reise in den Bauch der Erde: Teil 1 der Trilogie

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Über dieses E-Book

Die Expeditionen führen Mati in immer neue, immer fremdere, unterirdische Welten. Eine plötzliche Flut reißt alle Erwachsenen mit sich - Mati ist im "Bauch der Erde" auf sich allein gestellt. Oder? Er begegnet den blau leuchtenden Gnomen der Unterwelt. Wollen sie Mati töten, wie er es in seinen Träumen vorhersieht oder werden sie ihm helfen? Trotz zahlloser Gefahren schöpft Mati immer wieder neue Hoffnung auf einen Weg hinaus aus seinem finsteren Gefängnis.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum17. Okt. 2013
ISBN9783847622062
Matis Reise in den Bauch der Erde: Teil 1 der Trilogie

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    Buchvorschau

    Matis Reise in den Bauch der Erde - Jens Poschadel

    Die letzten Tage

    „Mein Mati, nun beeil´ dich doch bitte! Jeden Morgen bist du zu spät dran und ich muss auf dich warten. Das geht mir langsam echt auf den Keks, weißt du? Hörst du mir eigentlich zu?" Das leichte Krächzen in Karls Stimme klang überdurchschnittlich angesäuert. Soso, das Warten ging ihm auf den Keks. Na denn: Asche auf mein Haupt. Nur um die Dinge von Anfang an ins richtige Licht zu rücken: mein Vater selbst war es, der mal wieder wie eine alte Dampflock am Hang des Kilimandscharo vor sich hin trödelte!

    „Hast du deine Pausenbrote und die Hausaufgaben eingesteckt? Brauchst du den Turnbeutel heute nicht? Mati, was ist, ich rede mit dir! Karls Bärenstimme dröhnte in meinen Ohren wie der Nachklang einer gigantischen Kirchenglocke. Ich speicherte den Spielstand, klappte meinen Nintendo zusammen, katapultierte mich aus dem Hochbett, landete katzenhaft zwischen zwei Schmutzwäschehaufen und trollte mich ins Badezimmer. „Was soll denn bitte ein Turnbeutel sein? So kannst du mit deinen Fossilien reden, die verstehen dich vielleicht. Keine Reaktion aus der Küche. „Bist ja selbst ein verstaubtes Fossil. Ein ziemlich cooles, verstaubtes Fossil" fügte ich leise hinzu.

    Während des Zähneputzens entschied ich mich dagegen, dem unheilbaren Morgenmuffel ein weiteres Mal zu erklären, dass ich über das Wochenende keine Hausaufgaben zu machen brauchte. Ich würde ihn auch nicht schon wieder darauf hinweisen, dass ich Sport in den letzten beiden Stunden am Dienstag hatte, während heute Montag war. Der letzte Montag übrigens vor den Sommerferien. Mein letzter Montag überhaupt in diesem öden Leben. Schon bald würde ich ein anderer Mensch sein. Ein durchtriebener Abenteurer. Ein moderner Indiana Jones. Nur wesentlich draufgängerischer und cooler. Versteht sich ja von selbst, oder?

    Wie immer stand ich auch an diesem Morgen als Erster startbereit an der Wohnungstür. Weiß der Teufel, was Karl morgens trieb, bevor wir endlich aus dem Haus konnten. Während er in seinen urzeitlichen Parka schlüpfte, schleuderte mir Karl seinen finsteren „du-hast-natürlich-Schuld-Blick mitten zwischen die Augen. Keine Ahnung, wie der seinen Weg durch die schmalen, mit schmutzigen Brillengläsern verbauten Sehschlitze fand. „Können wir jetzt endlich? Auf seiner Stirn türmte sich das allmorgendliche Faltengebirge. Fasziniert starrte ich auf den über der Nase zusammengewachsenen Augenbrauendschungel. Das Gestrüpp wurde von Tag zu Tag undurchdringlicher. „Ach verdammt! Geh´ schon mal in den Keller, ich brauche noch die Prüfungsfragen aus meinem Arbeitszimmer. Vermutlich meinte Karl die Rumpelkammer, in der unser verstreuter Wissenschaftler bergeweise Papiere stapelte. „Na klar, lass dir bloß Zeit. Irgendwie mochte ich unsere morgendliche Routine…

    Das wirklich Witzige an der Sache war, dass mein Vater eigentlich erst viel später an der Uni zu sein brauchte, als ich in der Schule. Aus unerfindlichen Gründen liebte er es anscheinend, einen Teil der Strecke mit mir gemeinsam zu fahren. Als er endlich abfahrbereit war, hatten unsere Fahrräder mittlerweile Rost angesetzt. „Mati, du weißt gar nicht, wie gut du es hast. Als ich etwa in deinem Alter war, bekam ich das alte, klapprige Fahrrad meines Vaters zur Konfirmation geschenkt. Vorher hatte ich gar keinen Drahtesel." Woher nahm er nur immer diese altmodischen Wörter? In meiner Vorstellung hockte er abends in seiner vor Büchern und Zeitschriftenartikeln überquellenden Butze und studierte historische Bezeichnungen für die Dinge des täglichen Gebrauchs aus riesigen, in seinen Händen zu Staub zerfallenden Lexika.

    „Es hatte gleich einen Platten, den ich gemeinsam mit Opa Werner reparieren musste. Oh nein, bitte nicht schon wieder und so früh morgens diese alte Geschichte! Ich hörte sie seit Jahren ohne jede Abweichung im Text und hätte sie rückwärts mitbeten können. „Du machst dir kein Bild davon, was es bedeutete, die Bastelei mit solch einem durchgeknallten Typen von Vater über sich ergehen lassen zu müssen. Er war die Ungeduld in Person. Und dann diese Pranken. Da wollte man ganz sicher keine Schraube sein. Naja, er war halt Schlosser, kein Feinmechaniker. Wirklich, du ahnst gar nicht, wie gut du es mit mir hast, mein Mati. „…ahnst gar nicht, wie gut du es mit mir hast…" schallte das Echo durch die Morgenluft.

    Ich schwang mich mit zusammengekniffenen Lippen auf mein schwarz lackiertes Mountainbike und bedauerte, dass ich nicht auch meine Ohren verschließen konnte. Karl bestieg umständlich, wie ein älterer Herr eben, seinen Drahtesel. Ich hatte mir angewöhnt, ihn mit Karl und nicht etwa mit Papa oder so anzusprechen. Dafür fühlte ich mich längst zu erwachsen. Während der schleichenden Fahrt blickte ich mich um. Am rechten Rand des Radweges welkte ein herabgefallenes Blatt vor sich hin. Links wurden wir von einer Schnirkelschnecke überholt, ihr Fahrtwind traf mich hart. Erste Zweifel türmten sich hinter meiner Stirn. Würde ich jemals in der Schule ankommen?

    Irgendwann fiel mein inzwischen hoffnungsloser Blick auf das klappernde, silbern funkelnde Schutzblech meines vor mir her wackelnden Vaters. Oder besser seines Fahrrades, obwohl mir der andere Gedanke gut gefiel. Karls Schutzblech klapperte. Das Bild heiterte mich kurz mal auf. „Alles klar da hinten, bin ich zu schnell?"

    Meine Fresse! „Noch ´nen Tick langsamer und ich verliere das Gleichgewicht!"

    Na, jedenfalls entdeckte ich auf dem Schutzblech einen Aufkleber von 1986. Etwas mit Schülerlotsen oder so, was immer das auch sein mochte. Zufällig wusste ich, dass Karl ´86 sein Abi gemacht hatte. Das Datum lag deutlich vor meiner Zeitrechnung. Für mich war das etwa genausolange her, wie Adam und Eva. Wie mochte die Welt damals gewesen sein? Gab es schon Farbfernsehen? Besaßen die Menschen selbst überhaupt schon Farben?

    Während ich mich bemühte, auf der schleichenden Fahrt hinter dem Fossil her nicht doch noch umzukippen, erschienen schwarz-weiße, aber bereits bewegte Bilder vor meinem geistigen Auge: ein bulliger Typ in einem Blaumann überreicht dem jugendlichen Vater im Konfirmationsanzug ein klappriges Herrenrad. Ich wunderte mich noch über den schwarz-weißen Blaumann, da wurde der Vater vor mir plötzlich laut quietschend noch langsamer. Kein Zweifel: bei dem akribisch geputzten und tausendfach ungeschickt reparierten Gefährt handelte es sich um genau jenes uralte Fahrrad!

    ...und dann ist er immer ganz unruhig und wütend geworden, wenn beim Reparieren etwas nicht gleich geklappt hat. Ich habe jede Menge Backpfeifen kassiert, weil ich mich angeblich ungeschickt angestellt habe. Kannst du dir das vorstellen? Ich und ungeschickt! Was zum Henker waren nun wieder Backpfeifen? Erst jetzt wurde mir bewusst, dass Karl den größten Teil der Fahrt über seine alten Geschichten vor sich hin erzählt haben musste. Sollte ich mir Sorgen machen? Aber verhielten sich nicht alle älteren Männer so oder so ähnlich? Würde ich etwa selbst meinem Sohn eines Tages mit meinen alten Storys den letzten Nerv rauben?

    Kaum zu glauben, aber wie aus dem Nichts tauchte plötzlich meine Schule vor uns auf. Ich winkte kurz einem mir über seine Schulter zuzwinkernden Karl hinterher und schaute mich um – uff, uns hatte niemand aus der Klasse gesehen.

    Ich freute mich geradezu auf meine letzte Schulwoche in der siebten Klasse. Während ich Herrn Meißner wie so häufig zu spät aus seinem alten Volvo krabbeln sah, stopfte ich mir die Kopfhörer meines MP3-Players in die Ohren. Nochmal Schwein gehabt! Es versprach ein guter Tag zu werden. Auf dem Weg durch die dunklen, nach zu vielen Schülern mit schmutzigen Schuhen riechenden Gänge lächelte ich. Meine Gedanken kreisten um den kleinen gelben Zettel, den Lu mir vor dem Wochenende zugesteckt hatte. So ´ne Art Liebesbrief eher. Sie habe mich beobachtet und fände mich süß. Logisch, dass ich die Zeilen auch den Jungs gezeigt hatte. Sollte sich inzwischen ordentlich herumgesprochen haben, die Geschichte. Ich war sehr gespannt auf Lu´s Gesicht und die geballte Rache der 7b-Mädchenfront. Klar, ich mochte Lu. Ganz schön doll sogar. Aber das muss unter uns bleiben, verstanden?

    Nach dem allgemeinen Abklatschen mit den Jungs und ein paar Funken versprühenden Blicken der Mädchen kehrte wieder Ruhe in der 7b ein. Lu erschien nicht zum Unterricht, sie hatte sich krank gemeldet. Das verabreichte mir ein leicht mulmiges Bauchgefühl, welches sich jedoch mithilfe von ein paar Schokoriegeln vorerst beheben ließ. Später sah ich aus dem Fenster und gleichzeitig die Schlagzeile

    Aus Liebeskummer: von Mati verschmähte Gymnasiastin stürzt sich in den Abgrund!"

    auf meinem internen Monitor.

    Menno, Gewissensbissen brauchte ich jetzt wirklich nicht. Mir fielen zwei Möglichkeiten ein, mich von Lu´s Schicksal abzulenken: dem Unterricht folgen und mich sogar daran beteiligen oder an etwas Aufregendes wie die bevorstehende Brasilienreise mit meinem Vater denken. Ich entschied mich dafür, bereits vor dem eigentlichen Termin die Tropfsteinhöhlen Zentralbrasiliens zu bereisen. Ich erinnerte mich an die Dias, die Karl auf seinen vorangegangenen Reisen geschossen hatte. Etwas ähnlich Schönes hatte ich mit meinen eigenen Augen bisher nicht zu sehen bekommen. Wieder lächelte ich. Ich freute mich wie ein kleines Kind auf das größte Abenteuer meines noch jungen aber umso abenteuergierigeren Lebens. An Lu dachte ich vorerst nicht mehr.

    Am Abend war Karl ungewöhnlich aufgeregt, Während er meine Lieblings-Spaghetti zubereitete, berichtete er mir vom aktuellen Stand seiner Reisevorbereitungen. Er hatte seinen Vortrag für die Tagung in São Paulo beinahe fertig vorbereitet. Seine Kollegen an der Uni dort hatten ihm eine Liste von Ausrüstungsgegenständen gemailt, die wir mitbringen sollten. Darunter befanden sich so abenteuerliche Dinge wie Karbidlampen, Strickleitern und Höhlenhelme. Ganz unten auf der Liste entdeckte ich das Wort „Notproviant"!

    Karls Mund formte derweil Worte, deren Bedeutung ich nicht verstand. Er sprach über seinen Vortrag, den zu halten ihn seine Kollegen an der Uni in São Paulo eingeladen hatten. Mein Vater war, so viel hatte ich inzwischen begriffen, eine Koryphäe unter den Speläologen. Was das bedeutet? Karl war ein international bekannter und angesehener Spezialist auf dem Gebiet der Höhlenforschung. Besonders so krasse Höhlentiere wie Grottenolme, blinde rosa Fische, weiße Krebse und Geißelspinnen hatten es ihm angetan. Gerade redete er mal wieder sein Fachchinesisch. Doch auch wenn er in meiner trivialen Alltagssprache gesprochen hätte, wären Karls Worte belanglos wie Seifenblasen an meiner Tagtraumkapsel zerplatzt.

    Ich steckte bis zur Hüfte in einer Felsspalte. Die gelb-orange, aus Karbidfelsbrocken und Wasser gezeugte Flamme meines Helmes zeichnete qualmend sich mit jeder meiner Bewegungen verändernde Schatten an feucht glitzernde Höhlenfelswände. Diese Technik faszinierte mich. Man füllte einige nach Knoblauch riechende Felsstücke in einen Plastikbehälter, gab etwas Wasser darauf und schraubte alles mit einem Deckel zu. Ein Schlauch verband die am Gürtel zu tragende, etwa thermoskannengroße Gaskapsel mit einer Art Feuerzeug an der Stirnseite des Höhlenhelmes. Ein Metallspiegel reflektierte das Licht der orangefarbenen Flamme zusätzlich in Blickrichtung des Höhlenforschers. Die chemische Reaktion der Kalziumkarbidbrocken mit dem Wasser erzeugte neben dem brennbaren Gas Acetylen auch ordentlich Wärme. Sollte es einem dort unten in den Höhlen einmal zu kalt werden, konnte man sich an der Plastikflasche die Hände oder den Hintern wärmen.

    Das alles änderte nichts an meiner misslichen Lage. Ich steckte fest und je wütender ich mich in meinem steinernen Gefängnis wand, umso kräftiger spürte ich die kalten Felsklauen sich in meinen Rücken und die Hüften krallen. Hätte ich also doch auf die Worte meines Vaters hören sollen? Hätte ich auf dieses kleine Extra-Abenteuer verzichten und mit den anderen Exkursionsteilnehmern den vermeintlich sicheren Weg den Höhlenbach entlang gehen sollen? Aber warum hatten sie mich überhaupt allein gehenlassen? Das sah meinem Vater so gar nicht ähnlich. War dies etwa eine Prüfung?

    Ich verhielt mich nun völlig ruhig, um zu lauschen, ob nicht bereits Hilfe nahte. Doch alles was ich hörte, war das feine Rauschen des an meiner Stirn verbrennenden Acetylens. Ein paar Meter vor mir verbreiterte sich der Tunnel. Schatten tanzten an den Höhlenwänden. Sie nahmen Gestalt an. Sollten die brasilianischen Führer mich gefunden haben? Ich hörte ein feines Wispern. Zunächst war es nur eine einzelne Stimme, dann folgten weitere. Das Geräusch ähnelte dem fernen Zirpen sommerabendlicher Feldgrillen. Die Schatten huschten die Wände entlang. Sie waren viel zu klein und zu flink, um von meinen Kameraden stammen zu können. Außerdem waren ihre Arme zu lang, die Beine zu kurz. Nein, das waren ganz sicher keine menschlichen Schatten.

    Scheiße, was sollte ich jetzt nur tun? Angst kroch durch meine Gedärme. Hektisch durchwühlte ich mein Hirn auf der Suche nach Regeln für den Notfall. Was hatte Karl noch gleich über Panik gesagt? Der alte Mann hatte mir schon so vieles mit auf den Weg gegeben. „Mati, es ist wichtig, in die Schule zu gehen, du lernst dort fürs Leben. Nein, Blödsinn, das war es nicht. „Messer rechts, Gabel links, wann lernst du das endlich? Auch nicht, er hatte mir fünf Regeln genannt. Wie lautete gleich die Wichtigste von allen? Plötzlich erschien die Situation deutlich vor mir. Karl hatte mich am Abend vor unserer Abreise auf einmal ganz ernst angeschaut. Er hatte seine schmutzige Brille abgenommen, mir ungewohnt direkt und geistesanwesend in die Augen gesehen und gesagt: „Mati, was immer dort unten in den Höhlen auch geschehen, wer oder was auch immer dir begegnen mag, du darfst auf gar keinen Fall in Panik geraten!"

    „Mati! Mati, träumst du schon wieder? Hörst du mir jetzt gar nicht mehr zu? Ich möchte, dass du den Löffel in die linke und die Gabel in die rechte Hand nimmst. Das macht man so, wenn man Spaghetti isst. Ist das denn wirklich so schwer zu begreifen?" Die Pasta mit den in Olivenöl gebratenen, roten Chilis und Knoblauch schmeckten köstlich. Mein Vater kochte zu meinem Glück nicht nur gut, sondern auch gern. Merkwürdig, dass ich mir die Sache mit dem Besteck nicht merken konnte. Ich tat das nicht, um ihn zu ärgern. Echt. Es fiel mir einfach nicht auf, wenn ich es falsch machte.

    Meine letzten Schultage verflogen fast vollkommen ereignislos. Lu tauchte nicht wieder auf. Beinahe hätte ich ihren Liebesbrief vergessen, wäre da nicht ihre beste Freundin Lynn gewesen. Die fragte mich am Donnerstag, ob ich eigentlich noch ruhig schlafen könne. Ich schenkte ihr mein kältestes Grinsen, obwohl mir eigentlich nicht danach zumute war. Ich mochte Lu. Ehrlich. Das einzige Problem an ihr war, dass es sich bei ihr - inzwischen unverkennbar - um ein Mädchen handelte. Offizielle Freundschaften mit Mädchen kamen in unserer Klasse noch nicht in Frage. Egal, sie würde die Schmach mit dem Zettel schon überleben und bestimmt fanden wir bald eine Gelegenheit, uns heimlich zu treffen. Falls sie das überhaupt noch wollte.

    Mein Zeugnis war nicht übel und es reichte aus, meinen Großeltern ein paar Scheine aus dem Portemonnaie zu leiern. Sie schenkten mir 100 Euro als Taschengeld für die Reise nach Brasilien. Ob die beiden überhaupt eine Vorstellung davon hatten, welches Abenteuer eine solche Reise bedeutete? Soweit ich wusste, waren Werner und Elke niemals aus ihrem Dorf herausgekommen. Außer im Krieg vielleicht. Ich bedankte mich artig für das Geld und kaufte mir eine wasserdichte Taschenlampe, ein neues Taschenmesser, eine Weste mit ungefähr zwölftausend Taschen für wichtige Abenteurerutensilien und einen Kompass mit gewölbtem Glasdeckel.

    Am Freitagmorgen, noch vor der Schule, stellten Karl und ich während unseres Morgenmüslis eine Liste der noch zu besorgenden Ausrüstungsgegenstände zusammen. Es gefiel mir, von meinem Vater in die Planung der Reise einbezogen zu werden. Ich fühlte mich wie ein Teil seiner Mannschaft, seines Forscherteams. Jedenfalls nicht wie ein Fremdkörper, der lediglich im Sinne der väterlichen Gewissensberuhigung mitgeschleppt wurde. Am Nachmittag holte Karl mich von der Schule ab und wir fuhren direkt zu einem Outdoor-Ausrüster. Unsere Höhlenhelme, wasserdichte Taschenlampen für die Forscher, Karbidlampen und so weiter stellte die Universität Hamburg.

    Außerdem brauchten wir noch höhlentaugliche Bekleidung, stabile Seile, jede Menge Karabinerhaken, ein Allwetterfeuerzeug, wasserfeste Streichhölzer, eine Strickleiter aus Stahl sowie wasserdichte Rucksäcke. Wider Erwarten machte es mir großen Spaß, die Ausrüstung gemeinsam mit meinem Vater auszusuchen. Ab und zu, wenn wir zwischen mehreren Ausführungen von Geräten wählen mussten, fragte Karl mich nach meiner Meinung. Als es um die Auswahl einer Strickleiter ging, legte Karl besonders großen Wert auf meine Einschätzung. Sobald es um die Planung einer Höhlenexpedition ging, wurde aus meinem tollpatschigen Vater wie durch ein Wunder ein gut organisierter Kollege.

    Mit jedem weiteren Ausrüstungsgegenstand in unseren Einkaufskörben verstärkte sich die Gänsehaut auf meinem Rücken. Mein rechtes Knie begann zu zittern. Es tat sehr gut, Karl an meiner Seite zu haben. Als hätte er meine Unsicherheit bemerkt, legte mein Vater seine Hand auf meine Schulter. „Es ist gut zu wissen, dass ein zuverlässiger Freund mich auf diese Reise begleitet."

    Ich weiß nicht, wie es euch mit euren Eltern geht. Ich wunderte mich manchmal darüber, wie wenig ich meinen Vater kannte. Und wie wenig er von mir wusste. Deshalb freute und befremdete es mich zugleich, dass Karl mich seinen zuverlässigen Freund nannte.

    Am Wochenende verabschiedeten wir uns von Freunden und packten unsere Taschen. Während mein Körper in Hamburg mechanisch den Seesack vollstopfte, reiste mein Geist bereits durch unerforschte Tropfsteinhöhlen voller skurriler Lebensformen. Am Samstagnachmittag traf ich meine besten Freunde und Baumhausmitbesitzer Tom, Hannes und Arne. Sie stellten allerhand teils ziemlich dumme Fragen, was mich in einem Brasilien-Experten-Licht erscheinen ließ. Ich beantwortete ihre Fragen anfangs überwiegend wahrheitsgemäß. Bald begann ich jedoch zu fantasieren, dass sich die Balken unseres Baumhauses bogen wie Bambushalme im Monsun.

    „In den brasilianischen Wäldern leben Schmetterlinge, die sind so groß wie Badehandtücher. Sie müssen den Aufwind des verdunstenden Regenwassers nutzen, um überhaupt fliegen zu können. Sechs große Augen starrten mich an. „Die etwa einen halben Meter langen, tiefschwarzen und unterarmdicken Tausendfüßer des Amazonas-Regenwaldes winden sich nachts um deine Füße, bringen sie zum Absterben und fressen sie auf, wenn sie abgefallen sind. Sechs große Augen und drei offene Münder versicherten mich der ungeteilten Aufmerksamkeit meiner Zuhörer. „In den zentralbrasilianischen Höhlen leben gigantische Spinnen, deren Netze komplette Höhlengänge versperren können. Die Netze sind unheimlich reißfest und dabei beinahe unsichtbar. Die Spinnen sind so riesig und aggressiv, dass ihnen schon einige Höhlenforscher zum Opfer gefallen sind. Sie wurden einfach leergelutscht. Sechs große Augen, zwei davon zwinkerten nervös. Drei offene Münder zierten unbemerkte Speichelfäden. Tom, der größte Angsthase von uns vieren, war nahe daran, sich in die Hose zu pinkeln. Seine Beine zappelten unruhig hin und her. „Im tiefsten Inneren der brasilianischen Tropfsteinhöhlen leben fädige Algen, die ohne Photosynthese existieren können. Sie verdauen die stetig nachwachsenden Kalkgebilde und scheiden halluzinogene Gase aus. Es sollen sich dort schon Höhlenforscher umgebracht haben. Sie sahen Fantasielebewesen, die ihnen vorgaukelten, die Welt außerhalb der Höhlen sei von Marsianern zerstört und unbewohnbar. Die verzweifelten, letzten Aufzeichnungen der Halluzinierenden beschrieben die kleinen Höhlenlebewesen übereinstimmend als total fies und irgendwie gnomartig.

    Tom verabschiedete sich um sieben. Er müsse nun ganz dringend zum Abendessen nach Hause. Hannes und Arne lauschten meinen weit hergeholten Geschichten noch bis in den späten Abend. Dann wünschten sie mir eine prall abenteuergefüllte Reise sowie eine gesunde Rückkehr. Hannes schlug vor, ich solle bei der Auswahl meiner Nachtlager bedenken, dass ein vom Tausendfüßer abgenagter Beinstumpf schon ein gewaltiger Hingucker und unbedingt ein Grund dafür wäre, ein paar Wochen lang der coolste Kerl der Klasse zu sein. Ich wünschte Hannes und Arne ein paar langweilige Wochen in Dänemark und ging nach Hause. Karl war noch nicht da, hatte mir aber belegte Brote und eine Flasche Malzbier in den Kühlschrank gestellt.

    Ich habe keine Erinnerung daran, wie ich den Rest des Wochenendes verbrachte. Ach halt: ich versuchte noch, Lu anzurufen, um mich für meine Unartigkeit zu entschuldigen und ruhigen Gewissens verschwinden zu können. Ihre Mutter sagte, Lu sei bei ihrer Oma und die habe kein Telefon. Das klang in meinen Ohren nach einer Ausrede, doch es ersparte mir immerhin die Peinlichkeit, mich direkt bei Lu entschuldigen zu müssen. Stattdessen hinterließ ich bei ihrer Mutter eine entsprechende Nachricht, womit die Angelegenheit für mich erledigt war. Ich hatte also alles erledigt und war bereit, in den berauschenden Strom unzähliger Abenteuer einzutauchen.

    Die Abreise

    Am Montagmorgen fuhren wir gemeinsam mit Ralf, einem Kollegen meines Vaters, nach Bremerhaven. Dort lag ein deutsches Forschungsschiff vor Anker, das uns nach Rio de Janeiro bringen sollte. Als ich meinen rechten Fuß auf die stählernen Planken des Schiffes setzte, pochte mein Herz direkt in meiner Halsschlagader. Das Abenteuer begann, es gab nun kein Zurück mehr. In diesem Augenblick wuchs ich um mindestens 15 Zentimeter und alterte um fünf Jahre. Ich glaube ihr wisst, was ich meine. Ich wuchs über mich hinaus, wurde erwachsen, groß, ein vollständiger Mensch in der Welt der Erwachsenen.

    Karl und ich richteten uns in unserer Kajüte ein. Wie Männer das eben tun: wir stellten unsere Taschen in eine Ecke und verteilten irgendwelche Sachen über die im Raum stehenden Möbel. Ob ich wohl seetüchtig sein würde? Die Frage schoss mir durch den Kopf, als ich die kuschelig-engen Kojen sah. Mein Vater überflog die Post des Tages und legte einen an mich adressierten Umschlag auf mein Bett. Es war ein Brief von Lu. Damit hatte ich nicht gerechnet. Er bescherte mir einen letzten Gruß aus der Heimat auf meinem Weg in die große weite Welt. Was sie wohl von mir wollte? Hatte sie meine Entschuldigung erhalten? Ich war viel zu aufgeregt, um den Brief sofort und vor allem im Beisein meines Vaters zu öffnen. Zunächst einmal würde ich das nach Diesel und Bratfisch riechende Schiff gründlichst untersuchen.

    Ein großer Teil der Besatzung unseres Forschungsschiffes bestand aus ganz normalen Seeleuten. Ich war davon ausgegangen, dass ich es bereits auf der Überfahrt allein mit Forschern zu tun haben würde. Karl hätte jetzt sicher „Pustekuchen oder so etwas gesagt. Auf dem Hauptdeck angelangt, stand ich einem mit Ausnahme des Kopfes offenbar am ganzen Körper tätowierten, kleinen Muskelprotz im Weg. Sein Hemd baumelte nutzlos im Bund seiner ausgefransten Shorts. „Hey, kleiner Mann, wer bist du denn? „Ich bin Mati, mein Vater ist einer der Wissenschaftler. „Mati also. Und sein Papa ist ein Eierkopf. Na, dann pass´ man gut auf dich auf, hier an Bord. Wenn du weiter so im Weg ´rumstehst, werden wir dich unter Deck einsperren müssen. Und da haben wir Ratten herumlaufen, die sind doppelt so groß wie du.

    Werner stellte sich wenig später doch noch als freundlicher Mensch heraus. Er zeigte mir den dröhnenden Maschinenraum, die nach Käsemauken und Schlimmerem miefenden Mannschaftsquartiere, die wissenschaftlichen Labore, die Fischfangnetze, den Stauraum und die Tiefkühlkammern für den unterwegs gefangenen Fisch. Der Seemann erklärte mir, dass eine der Strafen für im-Weg-herumstehen ein einstündiger Aufenthalt in der minus 20 Grad kalten Kühlkammer sei. An Bord gehe übrigens das Gerücht, dass ein so bestrafter Seejunge einst vergessen wurde und seitdem in der hintersten Ecke der Kammer stehe. Sein Geist spuke angeblich in Vollmondnächten durch die Kajüten. Werner zeigte mir auch ein langes Tau, mit dem in früheren Jahren der Meuterei bezichtigte Matrosen kielgeholt worden waren. Dieser schöne Brauch, so Werner, sei heutzutage mangels Meuterern leider in Vergessenheit geraten.

    Unser Rundgang endete vor der Kombüse, in der Heinz gerade wie ein in weiße Tücher gepresster Dirigent damit beschäftigt war, Fische zu filieren, die Filets sorgfältig in Teigmäntel einzuhüllen und das Ganze in einem reichlich bemessenen Ölbad goldbraun auszubacken. Nebenbei schmeckte er den am Morgen frisch zubereiteten Kartoffelsalat ab. Und bereitete einen bunten Salat vor. All dies erledigte

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