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Zeit ist nicht das Problem: Ein Roman der Muße
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eBook380 Seiten4 Stunden

Zeit ist nicht das Problem: Ein Roman der Muße

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Über dieses E-Book

Karl Grün verbringt ein Jahr lang mit Nichtstun. Während um ihn herum die Menschen Existenzen aufbauen, strampeln und schuften, widmet er sich der stillen Kunst der Muße. Und erlebt Erstaunliches.
Warum das eigentlich nicht geht?
Warum man es aber trotzdem unbedingt machen sollte?
Eine spannende Reise in die Tiefen der menschlichen Psyche im Gegenspiel zu gesellschaftlichen Normen.
Zeit ist nicht das Problem ist ein Roman über den kreativen Quell, der in uns allen sprudelt - wenn wir ihm den Raum geben. Er provoziert mit der Behauptung, dass Arbeit nichts, aber Nichtstun alles ist.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum8. Feb. 2013
ISBN9783847629283
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    Buchvorschau

    Zeit ist nicht das Problem - Jens Wollmerath

    Erster Teil / 1

    Muße ist ein weiter Raum, der unbenutzt ist. (Lin Yutang in Die Weisheit des lächelnden Lebens, Rowohlt 1997)

    Karl hatte nichts getan. Gar nichts. Und ich? Ich war selbst schuld. Denn jeder, der im Leben noch etwas vorhat, zieht von hier weg. Diese Stadt ist eine Abflughalle: einchecken und dann los, überall sonst muss es besser sein. Und ausgerechnet hier schickte ich mich an, eine Existenz aufzubauen. Man kann so etwas stur oder auch einfach nur entsetzlich blöd nennen. Was wollte ich mir denn beweisen? Glaubte ich wirklich, diese klotzköpfigen Küstenbewohner wären schon reif für Cafékultur und exquisites Essen? Die Zahl der Gäste an diesem neunten April überzeugte mich vom Gegenteil. Ich wollte es offensichtlich live bestätigt haben – immer und immer wieder.

    Ganze vier Personen saßen da. Zwei schlürften Filterkaffee, ein dürres Männlein umklammerte ein Glas Glühwein und die Oma in der Ecke links fuhr seit zehn Minuten mit dem Finger die Karte rauf und runter. Meine Ratatouille und ich standen auf verlorenem Posten.

    Vielleicht hätte ich auf die Kreidetafel vor dem Eingang schreiben sollen: „Holsteiner Rübenmus zum halben Preis! Dazu als Nachtisch gratis: Crespelle ripiene!"

    Dabei war die Eröffnung vor rund einer Woche doch ein voller Erfolg gewesen. Weil es alles billig gab?

    Karl schien das überhaupt nicht zu interessieren. Ja, richtig, der hockte auch hier, aber irgendwie konnte ich ihn nicht zu den Gästen zählen, er gehörte ja fast zum Inventar.

    Er hatte sich verändert und das schien mit dieser mysteriösen Geschichte zu tun haben. Soweit ich wusste, hatte er sogar einen Vertrag dafür unterschrieben.

    „Und, wie läuft´s denn so, ich meine diese Sache?" fragte ich deshalb als erstes, während ich meine Gläsersammlung zum vierten Mal in dieser Woche auf Hochglanz polierte; vielleicht hatte er ja schon wieder alles hin geschmissen.

    Nichts! Ich hätte auch mit einem Reissack reden können. Karl Grün baute schweigend einen Bierdeckelturm und hatte soeben die zweite Etage geschafft. Er blickte schließlich doch auf.

    „Das Projekt? Läuft soweit eigentlich ganz gut. Ich hab die beiden letzten Stunden am Strand gesessen und fühl mich jetzt bereit, was zu Stande zu bringen."

    Na, eine Antwort nach Maß. Aber, was hatte ich denn auch erwartet. Wohl eher einen Gefühlsausbruch mit Tränen und wildem Gefuchtel.

    Denn die ganze Sache hatte anfangs überhaupt nicht so gut ausgesehen. Wie mich das Wort Projekt schon aufregte. Ich dachte dabei immer an diese öden Bastel- und Quasseltreffen aus der Schulzeit.

    „Ich hab dich vorhin gesehen. Du hast ja nichts gemacht, außer doof im Sand rumzukauern und auf den Horizont zu starren."

    Ich klang übler gelaunt, als ich gehofft hatte.

    „Hast du mich beobachtet?"

    „Warst ja nicht zu übersehen. Wie Buddha mit Pudelmütze. Kannst du mir sagen, was du eigentlich machst?"

    „Na, nichts halt..."

    Wie dem auch sei, Tatsache ist, in meinem Café gibt es den besten Milchkaffee der Stadt. Und genau den hatte Monsieur sich vor fünf Minuten bestellt, als er durch die Tür der Strandbar herein stolziert war.

    Jetzt thronte Sir Charles I. mit seinen Einsachtundsiebzig nicht mehr im Sand dafür aber auf einem Barhocker an der Theke, und statt die gewünschte Milchhaube zu bewundern, beschäftigte er sich lieber mit Bierdeckeln.

    Plötzlich betrat da ein Märchenwesen mein bescheidenes Etablissement. Gott, war die hübsch! Höchstens Mitte Zwanzig und eine Figur zum Niederknien.

    Sie guckte erst Karl an und dann, ja, ihr Blick blieb endlich an der alten Jukebox hängen, die der ganze Stolz meines Lokals ist.

    „Geht die noch?"

    „Wie geschmiert. Vorausgesetzt, du fütterst ihr hungriges Edelstahlmäulchen mit ein paar blinkenden Münzen aus deinen samtigen Händen, Verehrteste", wäre wohl die angemessene Antwort gewesen. Stattdessen nickte ich nur stumm und versuchte Karl durch angestrengte Mimik auf den Engel im Lichtschein aufmerksam zu machen. Mein Freund beschäftigte sich aber schon mit dem nächsten Stockwerk des Pappturms und schien überhaupt nichts zu bemerken.

    Während ich mit meinem Geschirrtuch in der Hand wie ein Affe Grimassen schnitt, war die Elfe bereits auf den Musikautomaten zugeschwebt, zauberte zwischen ihren Fingern ein Geldstück hervor und ließ es klirrend im Bauch der Maschine verschwinden. Schon erfüllte die Falsettstimme Brian Wilsons den Raum und wie auf ein Signal kehrte Karl in das Reich der Realität jenseits von Filigranpapparchitekur zurück. Er drehte sich auf dem Hocker um und…

    Nein, immer schön der Reihe nach, wie beim Kochen. Das ist nicht der Anfang von Karls Geschichte; begonnen hatte sie schon eine Weile früher.

    2

    „He, hallo Karl!"

    Er blieb stehen, drehte sich um und sah Max Stubenrauch auf sich zu kommen.

    „Mensch, prima dass ich dich hier treffe. Hast du auch eine Vorladung für heute bekommen?"

    Karl nickte.

    Warum der? Der letzte, den ich jetzt sehen möchte.

    „Ja, jetzt wird´s ernst und wir ernten die Früchte unserer jahrelangen geisteswissenschaftlichen Turnübungen. Heute mal keine metaphysischen Instanzen und schon gar keine Phänomenologie des Geistes. Jetzt kommt das Leben!"

    Oh Mann, wie ich diesen Schwätzer hasse.

    „Was biste denn so still?, bemerkte Max mit großen Augen. „Bist du schlecht drauf, weil du humpelst? Was ist denn mit deinem Fuß passiert?

    Während sich die beiden durch den Haupteingang der Universität an den Entgegenkommenden vorbeizwängten und langsam Richtung Sekretariat weitergingen, informierte Karl seinen Begleiter knapp über den Grund seiner neuen Gangart.

    Er war beim Joggen über einen Ast gestolpert und mit dem Fuß umgeknickt. Das war in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert. Erstens hatte Karl seinen Körper schon viele Jahre nicht mehr derart in Bewegung gesetzt, zweitens hatte er in der Nacht zuvor geträumt, einen weißen Hasen zu verfolgen und sich dabei den Fuß zu verstauchen. Das erzählte er Max aber nicht.

    Der hörte eh nicht zu.

    „Mann, jetzt kriegen wir endlich unseren Titel, damit kannst du die Damenwelt tief beeindrucken."

    Er packte Karl kurz am Arm und zeigte mit dem Kinn nach vorne.

    „Guck mal, was haben wir denn da? Die hat ja ´ne Oberweite wie Pam Anderson! Wieso ist mir die noch nie aufgefallen?"

    Pam? Scheinst ja alle Stars persönlich zu kennen. Klar, dass du auf die Brüste glotzt. Die hat so ein hübsches Lächeln. Und wie diese Fahrwassertonne sieht die ja wohl gar nicht aus.

    Karl und Max näherten sich langsam dem blonden Mädchen, das am Ende des Flures auf einem Stuhl saß.

    „Wartest du auch für das Prüfungsamt?"

    „Ja, aber da ist noch jemand drin".

    Sie lächelte Karl an, er nickte nur.

    Sie hat mich länger als fünf Sekunden angesehen! Ich habe mitgezählt.

    Trotzdem tat er so, als ob er ihren Blick nicht bemerkte und lehnte sich an die Wand.

    „Mensch Karl, deine Stimme klingt ja wie das Piepsen einer Feldmaus", hörte er neben sich Max, doch er hatte keine Lust auf Ärger.

    Sie sieht wirklich gar nicht so schlecht aus. Aber, Meister Grün, man müsste wissen, wie man sie jetzt rumkriegt. Stattdessen lieber die Klappe halten und heute Nachmittag schön melancholisch vor der Anlage rumhängen und Broken-Heart-Songs hören. Du weißt doch, allein ist man am besten unglücklich!

    Während Karls Miene sich zunehmend verfinsterte und es Max anscheinend auch die Sprache verschlagen hatte, wurde der Gang durch das Öffnen der Tür erhellt. Ein Student kam aus dem Büro und nickte dem Mädchen zu. Sie erhob sich und ver­schwand hinter dem sich wieder schließenden Lichtschein.

    „Dann setz ich mich mal!" schnaufte Karl und ließ seine 80 Kilo auf den freigewordenen Stuhl sacken.

    „Jetzt sag bloß nicht, dass dich das Anbaggern so angestrengt hat, erwiderte Max. Er war sauer, schließlich hatte ihn die junge Schöne kaum beachtet. „Von mir aus kannst du deine Knochen schonen, im Stehen quatscht es sich sowieso besser.

    Nein, bitte bloß nicht weiterreden. Ist schon schlimm genug hier. Warum befindet sich das Leben in einer permanenten Wiederholungsschleife? Wie oft haben wir schon in dunklen Gängen vor Türen gesessen, von denen bereits der Lack abblättert, und darauf gewartet, die Zahnräder der Bürokratie sich einige wenige Millimeter weiter bewegen zu sehen. Ob wir wohl auch eines Tages mal hinter so einer Tür sitzen und im Rhythmus der zu Boden schwebenden Farbpartikel meterhohe Stapel von Akten in Ablagefächer sortieren? Was sollen wir denn sonst machen?

    Als hätte er Karls Gedanken erraten legte Max los: „Na, mal wieder dem Tiefsinn verfallen. ‚Wie soll das denn alles werden? Die böse, böse Welt da draußen hat uns gar nicht lieb.’ Alter, du musst mal lockerer werden. Warst du eigentlich in den letzten sechs Semestern einmal in der Disco oder mit 'ner Frau aus? Oder doch immer nur Buchladen? Meine Oma hat mal gesagt..."

    Karl sollte niemals erfahren, welchen Rat die alte Frau Stubenrauch ihrem Enkel gegeben hatte, denn in diesem Moment öffnete sich die Tür des Prüfungsamtes ein zweites Mal.

    „Du kannst jetzt rein."

    Wieder lächelte das Mädchen Karl zu und hielt ihm die Tür auf.

    „Danke", antwortete er ohne sie anzusehen, stand auf und hinkte mit gesenktem Kopf an ihrer Schulter vorbei in das Büro.

    Hinter einem Nussbaumschreibtisch aus den zwanziger Jahren saß die Hüterin der Abschlussnoten und schob einen Aktenberg zur Seite. Sie sah Karl kurz an.

    Mann, die sieht so alt aus wie ihr Schreibtisch. Und die Hornbrille...

    „Guten Tag" sagte Karl kaum vernehmbar und setzte sich auf die Vorderkante des Stuhls vor dem Schreibtisch.

    Er kramte in seiner Kollegmappe und räusperte sich.

    Wieso fragt mich diese Tante nicht was ich will?

    Schließlich brachte er eine verknickte Postkarte zum Vorschein.

    „Hier steht, beendete er das Schweigen, „dass ich mir heute mein Magisterzeugnis abholen kann!

    Er legte das Beweisstück auf den Tisch und wies mit dem Zeigefinger auf das Datum. Ohne die Karte eines Blickes zu würdigen drehte sich die Frau auf ihrem Drehstuhl um und beugte sich über eine Schublade mit Hängeordnern, die aus einem Schrank an der hinteren Wand des Zimmers herausragte.

    „Name?" sagte sie monoton, ohne den Kopf zu wenden.

    „Grün. Karl Grün. Meine Matrikelnummer ist…"

    „Brauch ich nicht", unterbrach ihn die Aktenbevollmächtigte und zerrte einen der Ordner heraus.

    Stöhnend drehte sie sich in ihre alte Sitzposition zurück und schlug die Mappe auf dem Schreibtisch auf. Sie entnahm einige Blätter und breitete sie aus. Schließlich schob sie Karl eines von ihnen zu.

    „Da unterschreiben!"

    Karl zögerte einen Augenblick.

    „Hätten Sie eventuell einen Stift?"

    Die so Angesprochene verdrehte kurz die Augen und wollte gerade zu ihrem Lieblingsmonolog über das Organisationstalent von Studenten im Allgemeinen und deren Qualifikation für das wahre Leben im Besonderen ansetzen, als Karl einen Kugelschreiber aus der Innentasche seiner Jacke hervorzauberte.

    „Hab ihn schon, lächelte er triumphierend und kritzelte sein Autogramm auf das Formular. „Bitte sehr.

    Ohne etwas zu erwidern zog die Frau das Blatt wieder zu sich zurück, drückte einen Datumsstempel auf den oberen rechten Rand und schob es in eines der Ablagefächer, die sich zu ihrer Linken auf dem Schreibtisch stapelten. Anschließend überreichte sie Karl die übrigen beiden Blätter, die noch vor ihr lagen.

    „Hier Ihr Zeugnis! Und die Magisterurkunde!"

    Karl nahm die Dokumente entgegen und betrachtete sie kurz.

    Eine Note betone nie.

    „Das können Sie doch auch draußen lesen, oder? wies Frau Namenlos mit Zornesfalten und gestrecktem Zeigefinger zur Tür, „Sie sehen doch, was hier zu tun ist!

    Äh, nein! Sehe ich nicht.

    Er stand auf und wollte schon zur Klinke greifen, als er sich noch einmal umdrehte.

    „Danke! Dieser bedeutende Moment wird auf ewig in meinem Gedächtnis bleiben. Was für eine Festlichkeit!"

    Und bevor die Angestellte des Prüfungsamtes etwas entgegnen konnte, war Karl schon durch die Tür verschwunden, die mit einem Knall hinter ihm zufiel.

    Wieder auf dem Flur, atmete er erst einmal tief durch und blickte auf Max, der nun auf dem Stuhl Platz genommen hatte.

    „Viel Spaß da drin. Die Dame ist von einer ansteckenden Fröhlichkeit!"

    „Hä?"

    „Tut mit leid, aber ich bin etwas in Eile. Muss noch zu einem dringenden Termin."

    Er klopfte Max kurz auf die Schulter, murmelte: „Man sieht sich!" und humpelte davon.

    Über die Stufen des Hauptportals trat er zurück auf den sonnigen Campus.

    Und? Was fühlst du, Meister Grün? Nichts! Absolute Leere. Du bist weder besonders klug noch gebildet, weißt zwar, wie man eine Hausarbeit schreibt oder sich mit Pflichtseminaren durchs Semester mogelt, aber sonst... Ob diese ganzen Studis hier auf der Campuswiese wohl wissen, worauf sie da zusteuern? Magister und arbeitslos? Na bravo! Aber in der Sonne baden, das haben wir gelernt. Vielleicht soll ich sie warnen. Vielleicht muss ich hier und jetzt die anti-akademische Revolution ausrufen. Vergesst euren Kopf, alle Macht der Hand!

    Eine solche krachte mit Wucht auf seine Schulter. Karl drehte sich um und musste lachen. Vor ihm stand sein alter Schulfreund Steve.

    „Na, wovon hast du denn gerade geträumt?"

    „Ach, nichts Besonderes. Hab’ gerade mein Abschluss -zeugnis abgeholt und wollte jetzt…"

    „… mit mir feiern gehen, fiel ihm Steve ins Wort, „ein guter Plan!

    Steve war einen halben Kopf größer als Karl und nichts an seinem Äußeren verriet ihn als Koch, er sah eher aus wie ein Holzfäller aus den Rocky Mountains. Doch nur sein Großvater war Kanadier und vierzig Jahre lang Buchhalter in einem Handelsbüro in Halifax gewesen. Ihm verdankte er seinen Vornamen.

    „Du bist also jetzt komplett fertig?"

    „In jeder Hinsicht, antwortete Karl, „aber was machst du denn hier an der Uni?

    „Ich war bei der Studentenjob-Vermittlung. Ich suche jemanden, der mir beim Streichen hilft!"

    „Heißt das, du machst wirklich…"

    „…ja, mein Café an der Strandpromenade auf."

    Steve war ein Meister im Unterbrechen.

    „Dann hast du deinen Job im „König aufgegeben?

    „Ja, Ende des Monats bin ich raus. Keine Lust mehr auf Stammessen. Pizza, Auflauf, Pizza, Carbonara, Pizza, Bolognese, Pizza..."

    „Aber, warum hast du mich nicht gefragt, ob ich dir helfe?" spielte Karl den empörten Freund.

    „Weil ich dachte, du hättest noch irgendwelche Prüfungen. Ich hab da keinen Überblick! Aber wenn du willst. Die hatten sowieso gerade keinen Helfer für mich!"

    „Na, auf mich kannst du zählen. Bis morgen ist mein Fuß bestimmt wieder o.k., ich hab vormittags allerdings erst noch einen anderen Termin!

    3

    Das „A" über dem gelb geziegelten Hochhaus prangte wie das Symbol einer obskuren Sekte in den Winterhimmel und war schon aus der Ferne zu erkennen. Karl blickte aus dem Fenster des Busses, der an den Kantstein der nächsten Haltestelle glitt.

    „Arbeitsamt", ließ die krachende Lautsprecherstimme vernehmen.

    Dachte, das heißt jetzt Agentur. Sind nicht so schnell, die Leute vom ÖPNV.

    Karl erhob sich , spürte einen Stich im rechten Fuß und trat in die Kälte. Was der gestrige Tag an Frühlings -versprechungen gemacht hatte, glich der heutige durch nackte Winterrealität wieder aus. Mit beiden Händen hielt Karl seinen Mantel zusammen, presste die Lippen aufeinander und lief auf die Glastüre des Hochhauses zu. Drinnen roch es nach Putzmitteln und PVC-Fußböden aus einer Zeit vor der Einführung von Schadstoffgrenzwerten.

    Karl ging zum Empfangstisch und beugte sich dicht an das Loch in der Glasscheibe.

    „Ich bin Hochschulabsolvent und wollte…"

    „Vierter Stock! Rechts die Treppe hoch, der Fahrstuhl ist kaputt", rasselte der Pförtner hinter der Scheibe herunter.

    Wunderbar!

    Keuchend erklomm Karl die letzte Stufe und betrat den Wartebereich. In unbestimmter Ordnung standen einige Stühle und Tische herum, an denen bereits zahlreiche Arbeits- suchende Platz genommen hatten. Karl steuerte auf den den Tisch zu, der den einzigen noch freien Stuhl bereithielt.

    „Wo muss man sich denn hier anmelden?" schnaufte er und hielt sich an der Tischplatte fest.

    Ein Endzwanziger im dunkelgrauen Anzug, blauen Hemd und rot gemusterter Polyester-Krawatte sah ihn von unten bis oben an.

    „Steht doch groß auf der Tafel da!"

    Er nickte mit dem Kopf leicht nach links.

    Karl folgte mit dem Blick und sah auf ein Pappschild, das mit Klebestreifen an der aschgrauen Wand befestigt war. Es klärte ihn darüber auf, dass er sich zunächst in Zimmer 402 zu melden habe, dort eine Nummer erhalten und dann aufgerufen würde.

    Karl hatte nach Eroberung seines Nummernzettelchens kaum neben dem Anzugträger Platz genommen, da bestätigten sich seine Befürchtungen schon.

    „Was hast du denn studiert?" drang es an sein Ohr.

    „Philosophie", antwortete er und vermied es den Fragesteller anzublicken.

    „Ach wie schlau, damit kann man doch gar nichts anfangen! Was willst du denn arbeiten?"

    Bevor Karl auch nur an eine Antwort denken konnte, setzte der Quälgeist sein Verhör fort: „Warum hast du denn nicht irgendwas Praktisches studiert? Ich hab zum Beispiel BWL mit Englisch kombiniert, damit kann ich…"

    eine McDonald’s Filiale in Kenia leiten.

    Karl schwieg und vertiefte sich in eine der Broschüren, die auf dem Tisch auslagen.

    Kurz darauf wurde die Nummer seines Tischnachbarn aufgerufen, der auf der Stelle die Hacken zusammenschlug und aufsprang. Dem Text des Faltblattes konnte Karl entnehmen, dass die Mitarbeiter des Arbeitsamtes stets bemüht seien, den Arbeitssuchenden hilfreich zur Seite zu stehen, diese sich aber auch selbst darum kümmern müssten, schnell einen Arbeitsplatz zu finden.

    Soll das ein Witz sein? Da draußen laufen knapp fünf Millionen Arbeitslose herum. Wie soll man denn da eine Stelle finden? Als ich anfing zu studieren, haben alle was von „Soft-Skills gefaselt. Egal, was du an der Uni machst, Hauptsache du entwickelst diese weichen Fähigkeiten, von denen sowieso niemand weiß, was sie sind und wofür man sie braucht. Geh in die Medien, da brauchen sie solche Leute wie dich. Und dann dieser bescheuerte „Neue Markt". Agenturen, die man aus dem Boden stampft um sie dann sogleich von selbigem wieder verschluckt zu sehen. Wie soll denn das gehen, Firmen, die nur auf der virtuellen Kohle von irgendwelchen dubiosen Investoren basieren. Und wenn die abspringen – Bumm – das war’s! Vielleicht hätte mir der Quatschkopf eben erklären können, wie das funktioniert.

    Dieser trat genau in dem Moment wieder in den Wartebereich. Er strahlte über das ganze Gesicht und lief direkt auf Karl zu.

    „Hier, hab schon so gut wie sicher eine Stelle! Der schlaue Hasenbein weiß halt, wo es langgeht."

    Die wulstige Hand hielt Karl ein Blatt vor die Nase.

    „Na, dann viel Spaß bei deinem unbezahlten Praktikum", erwiderte Karl unbeeindruckt und deutete mit seinem Zeigefinger auf die unterste Zeile des Stellenangebots.

    „Was? Das ist ja…"

    Karl kümmerte sich nicht weiter um die Reaktion des Wirtschaftsexperten und vertiefte sich in ein weiteres Faltblättchen aus dem Sortiment der Arbeitslosenverwalter. Nach einer Stunde war der Wartebereich leer bis auf Karl. Er saß noch an seinem Tisch und wartete, dass seine Nummer endlich aufgerufen würde. Es passierte aber nichts. Schließlich stand er auf und steckte seinen Kopf noch einmal durch die Tür des Anmeldezimmers.

    „Wann bin ich denn dran?" fragte er die junge Frau, die sich weit in den Bürostuhl lehnte und genussvoll in ein Butterbrot biss.

    Vor Schreck verschluckte sie sich fast an ihrem Wurtsteiggemisch und stammelte mit vollem Mund:

    „Wir haben doch längst Mittagspause!"

    „Aha, und wann werde ich dann bedient?"

    „Heute gar nicht mehr, die Nachmittagssprechzeiten sind donnerstags von zwei bis sechs!"

    „Das ist ja nicht zu fassen! Wozu gibt es dann diese bescheuerten Nummern, wenn sowieso nur Dienst nach Vorschrift gemacht wird?"

    Karl zerknüllte den Zettel in seiner Faust und verließ wortlos das Büro. Die Uhr im Wartebereich zeigte kurz vor halb eins.

    Um halb zwei bin ich mit Steve zum Streichen verabredet. Prima! Eine Stunde lang kann ich mich jetzt noch über diese Sesselpupser aufregen.

    Karl rutschte auf dem Treppengeländer hinunter, humpelte durch die Drehtür ins Freie und erwischte tatsächlich noch den Bus. Während der Fahrt betrachtete er die Stadt, in der er nun schon so lange wohnte.

    Komisch, mich hat es nie so richtig in die Ferne gezogen!

    4

    Über die Ostsee wehte der Wind und trieb die Wellen an den Strand. Hier und da riss die Wolkendecke auf und einige Sonnenstrahlen blitzten durch das Grau. Die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, Mütze in die Stirn gezogen, kämpfte Karl auf der Strandpromenade gegen die Ostbriese, die wie Sandpapier über seine Wangen rieb. Schließlich erreichte er ein Backsteinhaus, das von zwei Krüppelkiefern eingerahmt war und sich unmittelbar am Strandweg hinter dem Deich duckte. An der Eingangstür des Ladenlokals im Erdgeschoss klebte ein Zettel mit dem Hinweis:

    Hier öffnet im Frühjahr die „Strandbar" von Steve K.

    Karl wollte gerade klopfen, als Steve schon die Tür aufriss und ihn angrinste. In seiner Rechten hielt er eine Anstreichrolle.

    „Gut, dass du da bist, habe gerade mit der Küche begonnen."

    Er ließ Karl herein, der sich interessiert umsah.

    „Schickes Plätzchen hast du dir hier ausgesucht. Ich glaube, ich werde öfter hier sein."

    „Wann immer du willst, aber jetzt musst du mir erst mal helfen, die Bude hier auf Vordermann zu bringen."

    Karl zog seine Jacke aus, krempelte seine Hemdsärmel nach oben und nahm den Pinsel, den Steve ihm entgegenstreckte.

    „Du machst die Ecken. Ich bin eh schon voll Farbe! Wo warst du denn heute? Und was war eigentlich mit deinem Hinkebein los?"

    Durch das Ladenfenster schien jetzt die Wintersonne in den Raum und warf ein leuchtendes Rechteck auf die Zeitungen, die den Fußboden bedeckten.

    „Ach, mein Fuß ist schon fast wieder o.k., hab´ ihn beim Joggen umgeknickt, aber das andere nervt mich viel mehr. Ich hab´ vorhin beim Arbeitsamt mein Glück versucht, glaube aber, das ist ziemlich aussichtslos mit einem Job!"

    Ratlos guckte Karl auf die Zeitungen am Boden.

    „Was würdest du denn gerne machen?" fragte Steve, während er eine weitere Bahn Farbe auf die Wand rollte.

    „Das ist ja gerade das Blöde. Ich kann irgendwie alles und gar nichts."

    „Haben sie euch denn nichts Schlaues beigebracht auf der Uni?"

    Steve strich unermüdlich weiter, während Karl am Fenster stand und nachdenklich die dahin eilenden Wolken über der Ostsee betrachtete.

    „Wenn ich das nur wüsste. Ich hab wohl schon gelernt analytisch zu denken und schreiben kann ich wahrscheinlich auch einigermaßen."

    „Na, das ist doch schon einiges. Ich kann nur kochen und das war’s. Willst du nicht vielleicht irgendwas mit Medien oder so machen?"

    „Klar, das wollen doch fast alle mit meiner Fachrichtung.

    Mann, so viele Journalisten und Werbefuzzis kann dieser Planet nun wirklich nicht gebrauchen. Ich dachte immer, dass ich mich mit dem Studium für eine wirklich anspruchsvolle geistige Tätigkeit qualifizieren würde. Jetzt kann ich nur hoffen, vielleicht irgendwo als Hausmeister zu arbeiten."

    „Aber Maler solltest du auf keinen Fall werden, lachte Steve. „Du lässt ja alles auf den Boden tropfen!

    „Mist", schimpfte Karl. Die Farbe hatte ihren Weg genau zwischen zwei der Zeitungsblätter gefunden und bildete jetzt einen Klecks auf den Holzdielen.

    „Hinter der Theke steht ein Eimer mit Wasser und irgendwo liegt da auch noch mehr Papier", sagte Steve, der seine Arbeit nicht unterbrochen hatte.

    Während Karl sein Ungeschick wieder ausbügelte setzte Steve seine berufskundlichen Überlegungen fort.

    „Und was ist, wenn du doch noch Lehrer wirst? Die verdienen doch unglaublich viel und haben dauernd frei."

    „Kann ich nicht, ich habe nicht auf Lehramt studiert. Außerdem habe ich einfach keinen Bock, irgendwelchen Fünfzehnjährigen meine Lebensweisheiten mitzuteilen."

    Karl legte ein neues Stück Zeitung auf die Stelle, die er gerade gesäubert hatte. Der Lichtfleck der Sonne war ein Stück weiter gewandert und schien jetzt genau auf das Papier unter seinen Händen.

    „Ja, dann weiß ich auch nicht, was du machen sollst, vielleicht…"

    Karl hörte den Worten seines Freundes nicht mehr zu. Er blickte konzentriert auf eine Annonce in der Rubrik ‚Stellenanzeigen Allgemein’, die vom Sonnenlicht bestrahlt wurde.

    Proband für außergewöhnliches Forschungsprojekt gesucht. Sie sind zwischen 25 und 35 Jahre alt und sind neugierig auf eine neue Lebenserfahrung? Dann melden Sie sich bei der Universität Halsterberg unter der angegebenen Rufnummer.

    Vorsichtig nahm Karl das Blatt wieder hoch und betrachtete den Text noch eine Weile.

    Das ist ja tatsächlich die Zeitung von dieser Woche, ganz aktuell.

    „… mir hat es auch sehr geholfen, erst mal eine Zeit lang wegzufahren."

    Steve dachte noch immer über einen guten Plan für Karls Zukunft nach.

    „Hier, Karl streckte ihm die Zeitungsseite entgegen, „sieh mal die erste Anzeige!

    Steve nahm das Papier und las.

    „Hmm, klingt komisch. Wahrscheinlich irgendwas mit Medikamenten oder so. Da wäre ich vorsichtig!"

    „Ja aber vielleicht ist es ja auch eine gute Chance,…"

    „Dann würden sie doch schreiben, worum es geht. Glaub mir, das ist ’ne krumme Sache. Ich hab da Erfahrung. Als ich meine Ausbildung fertig hatte, da hab ich ’ne Anzeige gelesen für…"

    „Ja, ich weiß. Karl kannte die Geschichte schon. „Da wurde eine Stelle für einen Koch ausgeschrieben und dabei ging es um die Bewirtschaftung einer Pommesbude.

    „Und genauso klingt das hier auch. ‚Neue Lebenserfahrung’! Die knallen dich mit Pillen voll und gucken zu, wie du Verfolgungswahn bekommst, um den dann mit anderen Tabletten zu stoppen!"

    Karl musste lachen.

    „Du und deine Fantasie. Aber wahrscheinlich hast du Recht."

    Der Rest des

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