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TRAUM ZEIT PORTAL: Im Schatten des Würfelspiels
TRAUM ZEIT PORTAL: Im Schatten des Würfelspiels
TRAUM ZEIT PORTAL: Im Schatten des Würfelspiels
eBook358 Seiten5 Stunden

TRAUM ZEIT PORTAL: Im Schatten des Würfelspiels

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Über dieses E-Book

Es gibt für Bernhard nichts Schöneres, als im selbstgebauten Baumhaus zu sitzen, gemeinsam mit seinem Freund Lukas im nahegelegenen Fluss zu baden oder zu angeln. Das ändert sich schlagartig, als Karla, rothaarig, frech und mit einem nervigen Bruder gesegnet, die Beschaulichkeit der beiden zerstört. Angeblich ist sie eine Nachfahrin der Zauberin Ardene, Hüterin der Gerechtigkeit. Tatsächlich gelingt es den Kindern, mithilfe einer unscheinbaren Kaffeemühle, in die Zeit des Frankenburger Würfelspiels zu reisen. Was als tolles Abenteuer beginnt, entpuppt sich allerdings bald als Horrortrip. Auf die Kinder wartet nicht nur der grausame Graf Herberstorff, sondern auch Riehel, Ardenes erbitterter Gegner im Kampf um die Gerechtigkeit.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. Nov. 2018
ISBN9783746958705
TRAUM ZEIT PORTAL: Im Schatten des Würfelspiels

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    Buchvorschau

    TRAUM ZEIT PORTAL - Silvia Drach

    Karla

    Es war im späten Frühjahr, als Karla an unserer Haustür auftauchte. Ihre rote Haarpracht stand wie üblich nach allen vier Himmelsrichtungen ab, als sie heftig hervorpresste: „Bernhard König, du musst etwas für mich tun, du bist der Einzige, der mir helfen kann."

    „Komm erst mal rein, was ist denn passiert?", fragte ich und dabei war mir unbehaglich zumute. Jedes Mal, wenn Karla mich mit Vor- und Nachnamen anredete, herrschte sozusagen Alarmstufe rot. Etwas war geschehen, so viel war klar. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass über Karlas Leben die fürchterlichsten Dinge hereinbrachen und ich helfen musste. So wie voriges Jahr, als Fred, der Familienkater der Köhlers auf den höchsten Baum im nahe gelegenen Fichtenwald geklettert war. Noch Tage danach schaute ich aus, als hätte ich mit einem Kaktus drei Runden im Ring gekämpft. Ich war damals mit meinem Fahrrad unterwegs, um Lukas zu besuchen, als Karla plötzlich vor mir stand und wild mit den Armen fuchtelte. Prompt war ich vom Rad gefallen und vor ihren Füßen gelandet. Es hatte sich in unserer Schule herumgesprochen, dass ich ausgesprochen gerne auf den höchsten Bäumen herumkletterte. Doch damals musste ich erkennen, dass es ein winzig kleiner Unterschied ist, ob man zum Spaß auf einen Baum klettert, oder ob man eine widerspenstige, total verängstigte Katze mit hinunterschleppt. Aber von da an war ich in Karlas Augen ein Held.

    Das, was Karla für mich so interessant und außergewöhnlich machte, war ihre Spontaneität und Lebensfreude. Sie war all das, was ich nicht war. Sie ging auf jeden Menschen zu und hatte keine Hemmungen zu tun, was sie eben tun wollte. Mit ihr hatte ich erfahren, wie es war, anstatt zur Schule zu gehen, bei minus fünf Grad in der Vöckla, einem schmalen Fluss, der sich durch unser Tal zieht, zu baden. Anschließend lagen wir beide eine Woche lang mit Schnupfen und einer ausgewachsenen Grippe im Bett. Trotzdem hatte sich das Abenteuer gelohnt. Mein Ansehen in der Schule stieg ins Unermessliche. Na ja, nicht gerade bei den Lehrern, dafür umso mehr bei meinen Mitschülern.

    „Du glaubst nicht, was passiert ist!" Karla starrte mich an. Ich kannte diesen Blick. Er sagte, du kannst raten, bis du schwarz wirst, du errätst es sowieso nicht.

    „Nun sag endlich, was los ist", brummte ich.

    „Meine Mutter hat ein Geheimnis!" Karla stemmte beide Fäuste gegen ihr Kinn und schaute mich herausfordernd an.

    „Was für ein Geheimnis?", fragte ich skeptisch, schließlich hat jeder Mensch Geheimnisse, klein oder groß, je nach dem. Ich konnte ein Lied davon singen. Und ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Frau Köhler ein großes Geheimnis umgab. Schließlich sah ich sie stets in diesen unförmigen Kleidern und mit dicken, flauschigen Hausschuhen. Konnten sich dahinter Geheimnisse verbergen? Unvorstellbar!

    Unvermittelt platzte Karla heraus: „Mama hat eine Schwester!"

    Nun war ich geschockt. Ich hatte ja schon gehört, dass manche Menschen Geschwister hatten, aber die Mutter von Karla eine Schwester? Nie und nimmer.

    „Und wo ist das Geheimnis?", fragte ich und legte vorsichtshalber meine Stirn in Denkerfalten, überzeugt davon, erst die halbe Geschichte zu kennen.

    „Verstehst du denn nicht?, stöhnte sie auf, „Mama hat immer behauptet, keine Geschwister zu haben, und jetzt das!

    In der Tat, wir hatten ein Problem. Ich erfasste erst so nach und nach die Dimension.

    „Okay, sagte ich schließlich, „und woher kommt diese plötzliche Erkenntnis?

    Karla schüttelte den Kopf und schaute, wie ich meinte, etwas verlegen zu mir her. „Das erklär’ ich dir später, stieß sie hervor. Dann sprang sie auf. „Du musst für mich Mamas Computer ausspionieren, du kannst das doch oder? Scheinheilig schaute sie mich von der Seite an. Schließlich weiß jeder in unserer Schule, dass ich unschlagbar bin. Zumindest bei Computern.

    „Na ja, ich zögerte, „ich weiß nicht, ob Frau Köhler damit einverstanden ist. Die meisten Menschen mögen es gar nicht gern, wenn man ihren Computer anzapft.

    Karla warf mir wieder einen ihrer Blicke zu. „Sie darf es natürlich niemals erfahren!"

    „Natürlich nicht!", murmelte ich matt. Da rollten Probleme auf mich zu, so groß wie Granitsteine, ich spürte es am ganzen Körper. Andererseits war Karla eine Freundin, auf die ich immer zählen konnte, feige nein zu sagen kam also nicht in Frage. Und ehe ich mich versah, steckte ich mitten drin in einem Abenteuer, das nicht nur mir die Haare zu Berge stehen ließ. Mein Freund Lukas und Karlas kleiner Bruder Berti gehörten ebenfalls zu den Glücklichen. Dann waren da noch Anna und Linda …

    Wir verabredeten uns für Sonntag, wenn Herr und Frau Köhler den Gottesdienst besuchen wollten. Karla beschloss, Kopfschmerzen zu bekommen, damit wir ungestört unser schändliches Vorhaben in die Tat umsetzen konnten und ich wollte mir ebenfalls eine originelle Ausrede einfallen lassen.

    Am Sonntag wachte ich mit Magenschmerzen auf. Mama merkte beim Frühstück sofort, dass ich unpässlich war und schickte mich mit einer Tasse Kamillentee wieder ins Bett. Das erste Problem war gelöst. Kaum hörte ich die Haustür zuschlagen, sprang ich aus dem Bett und zog mich an. Ich spornte mein Fahrrad zur Höchstleistung an, denn immerhin brauchte ich zehn Minuten bis zu Karlas Elternhaus. Ich läutete und starrte auf Berti, der schwungvoll die Tür aufriss.

    „Komm rein, Karla wartet schon, was habt ihr vor, wieso sagt mir nie einer was?"

    „Wieso bist du daheim?", beantwortete ich seine Frage mit einer pfeilschnellen Gegenfrage, in der Hoffnung, ihn von der Fährte, die er gewittert hatte, abzulenken.

    Er grinste mich an. „Bauchweh", sagte er und zeigte auf die entsprechende Stelle.

    Originell, dachte ich. Er klebte mir auf den Fersen, als ich mich auf die Suche nach Karla machte. Jetzt hatten wir ein Problem. Berti war der kleine Bruder von Karla und er war neugierig, ätzend anhänglich und sechs Jahre alt. Außerdem konnte er kein Geheimnis für sich behalten. Das neuerliche Läuten an der Tür ließ uns beide zusammenzucken. Berti blieb zögernd stehen, drehte sich dann aber um und rannte zur Haustür zurück.

    Die Stimme kannte ich. Sie gehörte meinem Freund Lukas, der nebenan wohnte. Gleich darauf standen beide erwartungsvoll vor mir, überzeugt davon, bestens gehütete Geheimnisse zu erfahren.

    „Ich hab dich ins Haus schleichen sehen." Gekränkt schaute er mich an. Er hatte einen dicken Schal um seinen Hals gewickelt.

    „Bist du krank?", fragte ich ausweichend.

    „Eine Erkältung, sagte er und nieste. „Was machst du hier um diese Zeit?

    Nun hatten wir ein zweites Problem. Auf keinen Fall wollte ich meinen Freund anlügen, andererseits durfte Berti nicht wissen, was wir vorhatten.

    „Äh … ja also", stotterte ich.

    Da schoss Karla ums Eck, blieb verdutzt stehen und schaute uns belustigt an. „Eine Versammlung, rief sie aus, „wie spannend. Sie blickte kurz in die Runde und schien zu überlegen. „Na gut, sagte sie schließlich, „was soll’s, wenn ihr versprecht, kein Wort zu verraten, könnt ihr dableiben.

    „Du spinnst wohl, schrie Berti aufgebracht, „ich wohne hier und ich kann tun und lassen, was ich will! Kampflustig schaute er seiner Schwester ins Gesicht, die Fäuste in die Hüften gestemmt. „Soll ich vielleicht wegen dir äh … auswandern?"

    „Keine schlechte Idee, murmelte Karla und verdrehte genervt die Augen. Dann atmete sie tief durch und schaute uns der Reihe nach beschwörend an. „Mama hat eine Schwester!, ließ sie die Bombe platzen. Es war mucksmäuschenstill, denn jedermann außer mir wartete auf die große Enthüllung. Da keiner ein Wort sagte, wiederholte sie zu Berti gewandt. „Mama hat eine Schwester, obwohl sie immer behauptet, ein Einzelkind zu sein."

    Noch immer sagte keiner ein Wort, zu groß war die Enttäuschung darüber, welches Geheimnis hier enthüllt wurde. Einzig Berti konnte sich aufraffen zu fragen: „Du Karla, äh …was ist denn ein Einzelkind?"

    „Schau im Lexikon nach!, fauchte Karla ihren Bruder an. Berti rührte sich aber nicht vom Fleck. Erstens wusste er garantiert nicht, wo oder was ein Lexikon war, zweitens wollte er sich bestimmt nicht entgehen lassen, was wir vorhatten. „Wir können nur herausfinden, was los ist, wenn wir an Mamas Computer gehen, erklärte sie.

    „Oh, oh, meldete sich Berti mit erhobenem Zeigefinger, „höchste Verbotszone hat Mama gesagt!

    „Kommt endlich, Karla wedelte ungeduldig mit der Hand und schaute auf die Uhr, „wir haben nicht mehr viel Zeit.

    Und so schlichen wir mit schlechtem Gewissen in Frau Köhlers Nähzimmer. Hinter aufgetürmten Sockenbergen, Bügelwäsche und Nähzeug lugte der Computer hervor. Behutsam räumten wir die Sachen beiseite, um sie nachher wieder in genau demselben Durcheinander aufschichten zu können. Berti wurde die Verantwortung für diese schwierige Aufgabe übertragen.

    Ich näherte mich langsam dem Corpus Delicti, schließlich wollte ich mir erst einen Überblick verschaffen. Aber an Frau Köhlers Computer war nichts Ungewöhnliches, außer der Tatsache, dass er zur Ablage einzelner Socken, die offensichtlich auf die Ankunft ihres zweiten Ich warteten, benutzt wurde. Berti musste sich genau merken, welche Socken in welcher Reihenfolge er später wieder auf dem Computer zu deponieren hatte.

    „Passwort", flüsterte ich und schaute Karla fragend an.

    „Scheiße", erwiderte sie wenig damenhaft.

    Da hatten wir das nächste Problem, denn ohne Passwort, das sah ich auf den ersten Blick, konnte ich den Computer nicht öffnen. Daraufhin wurden Passwörter wie Konfetti in Frau Köhlers Nähzimmer geworfen.

    Ich hörte eine Weile zu, dann sagte ich zur großen Enttäuschung aller: „Wir haben drei Versuche, mehr nicht."

    Karla, die auffallend ruhig und nachdenklich dastand und an ihren Nägeln kaute, flüsterte mir ins Ohr: „Versuch’s mit Anna." Gehorsam tippte ich die Buchstaben in den Computer. Nichts!

    „Noch zwei Versuche, sagte ich, „dann ist es vorbei.

    „Beatrice", sagte Karla und starrte mit den anderen gebannt auf den Computer, als ich gehorsam und mit einigen Schwierigkeiten diesen ungewöhnlichen Namen eintippte. Da erwachte der Bildschirm plötzlich zum Leben.

    „Das wäre geschafft, sagte ich und drehte mich zu Karla um, „und was jetzt?

    Sie zuckte mit den Schultern und warf mir einen ratlosen Blick zu.

    Ich seufzte und fing an, Frau Köhlers Dateien zu durchforsten, und tatsächlich tauchte der Name Beatrice noch einmal auf.

    „Da, stieß Karla hervor und wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum. „Druck die Seiten über Beatrice aus!, flüsterte sie und ich druckte. Fünf Seiten lagen gleich darauf vor mir. Ich übergab Karla den dünnen Stapel und schaltete den Computer wieder aus.

    „Kein Wort zu irgendjemandem! Karla schaute uns der Reihe nach beschwörend an. „Für dich gilt das ganz besonders, Engelbert.

    „Ehrensache", grinste Berti und hob mit feierlicher Miene zwei Finger seiner rechten Hand.

    Die Familie Köhler war in der Tat eine ungewöhnliche Familie. Karlas und Bertis Vater, Berthold Köhler, war ein herzensguter Mensch. Nie habe ich ihn mit Karla oder Berti schimpfen gehört. Ruhig und bedächtig strich er über seinen kurz gestutzten Bart, wenn man ihn etwas fragte. Er hörte zu, überlegte einige Zeit, dann erst antwortete er. Karla konnte mit ihrem Vater wenig anfangen. Meistens stürmte sie bereits davon, bevor ihr Vater geantwortet hatte. „Nicht so wichtig", rief sie dann und weg war sie. Herr Köhler malte wundervolle Bilder. Ich dachte zuerst, das sei sein Hobby, aber Karla sagte einmal, ihr Vater habe keinen anderen Beruf, er sei nur Maler. Und was für ein Maler! Seine Bilder waren genau so riesig wie er selber. Nie vorher habe ich einen so großen Mann gesehen. Er schaute aus wie Rübezahl. In der großen Vorhalle des Köhler`schen Hauses hingen seine Gemälde, die er noch nicht verkauft hatte. Wie riesengroße Farbkleckse bedeckten sie sämtliche Wände. Und nicht auf einem einzigen konnte man erkennen, was es darstellen sollte.

    „Abstrakte Malerei nennt man das", sagte Karla einmal. Sein Atelier im ersten Stock war für Karla und Berti tabu, dennoch hatten wir in einer stillen Stunde, als Herr und Frau Köhler nicht zu Hause waren, einen Blick ins Heiligtum geworfen. Staffeleien so groß wie bei uns zu Hause die Rückwand unserer Küche standen herum. Riesige Farbtöpfe stapelten sich in allen möglichen Ecken und Pinsel in sämtlichen Größen und Farben lagen herum, als hätte Herr Köhler sie in einer künstlerischen Pause einfach hinter sich geworfen. Flaschen mit übelriechenden Flüssigkeiten standen auf einem überdimensionalen Regal. Wir hatten jede einzelne geöffnet und daran geschnuppert. Ekelhaft. Darüber in der Dachschräge spannte sich ein Fenster von einer Ecke des Raumes zur anderen. Der Raum war so hell, dass man geblendet die Augen schließen musste, wenn die Sonne direkt hereinstrahlte.

    „Papa braucht viel Licht, damit er malen kann, erklärte Karla. „Willst du ein ganz besonderes Bild sehen?

    Ich nickte zögernd, schließlich kannte ich die Bilder, die unten in der großen Eingangshalle hingen.

    „Komm mit, sagte sie, „du wirst staunen. Karla rannte vor mir her die Treppe hinunter und platzte in das Zimmer von Berti, ohne anzuklopfen.

    „Wo ist dein Bruder?" Ich schaute mich um, konnte ihn aber nirgends entdecken.

    Karla zuckte ungeduldig die Schultern. „Keine Ahnung, sagte sie, „sei froh, dass du keine Geschwister hast. Berti ist die reinste Nervensäge.

    Ich musste grinsen, denn Berti sagte genau dasselbe von seiner Schwester. Karla ging zielstrebig auf ein großes rechteckiges Bild zu. „Stell dir vor, Papa hat es auf dem Dachboden gefunden." Ich stellte mich vor das Bild und betrachtete es. Sieht aus wie alle anderen, dachte ich, was ist so Besonderes daran? Doch plötzlich glaubte ich in dem Durcheinander von verschwommenen Farben und Pinselstrichen die Umrisse eines Gesichtes zu erkennen. Ich schaute genauer hin und bemerkte zwei Augen, die mich anstarrten. Erschrocken wich ich zurück.

    „Was für ein Bild ist das?", fragte ich Karla mit trockenem Mund.

    „Papa sagt, nur wenige Auserwählte können erkennen, was es darstellt. Also, ich sehe nur ein großes Durcheinander, was siehst du?"

    Ich zwang mich, noch einmal einen Blick auf das Bild zu werfen, und suchte blinzelnd die starrenden Augen. Nichts! Hatte ich mich getäuscht? Die Sonne kam hinter den Wolken hervor und tauchte das Zimmer urplötzlich in blendendes Licht. Die Konturen verschwammen und ich wandte mich hastig um.

    „Ich sehe auch nichts", murmelte ich und schluckte unwillkürlich. Dann schaute ich mich in Bertis Zimmer um. Hier herrschte ein derartiges Durcheinander, dass ich an mein eigenes Zimmer zu Hause denken musste und daran, wie oft meine Mutter meinen Mangel an Ordnung beklagte. Hier sah es aus, als hätte die Müllabfuhr die Deponie nicht gefunden und den ganzen Mist in Bertis Zimmer abgeladen. Was meine Mutter wohl zu diesem Chaos hier gesagt hätte?

    Karlas Elternhaus war ein riesiges quadratisches Gebäude mit einem wunderbaren Innenhof, in dem Karlas Mutter herumtänzelte. Anders konnte man es nicht nennen. Ich habe Frau Köhler niemals wie einen normalen Menschen, wie meine Mutter zum Beispiel, gehen sehen. Stets sah es so aus, als wollte sie wie eine Balletttänzerin davon schweben. Und das mit ihren flauschigen Hausschuhen. Ich brauchte einige Zeit, um mich an diesen Anblick zu gewöhnen, ohne gleich meinen entsetzlichen Lachkrampf zu bekommen, der mich immer dann plagte, wenn es am peinlichsten für mich war. Auch ihre Kleidung fand ich außergewöhnlich. Sie trug immer gleich mehrere Schichten übereinander. Seidige, flatternde, unförmige Kleider und jede Menge Schals, die hinter ihr herschwebten. Karla hatte ihr rotes Haar von ihrer Mutter geerbt. Nie vorher habe ich solch eine Fülle von roten Haaren gesehen. Sie war eine kleine, zierliche Frau mit der Stimme einer Löwin. Wenn sie nach Karla oder Berti rief, hörte man sie noch im entferntesten Winkel des riesigen Hauses.

    „Eine außergewöhnliche Dame", sagte meine Mutter, als ich sie einmal danach fragte. Damit war für sie dieses Thema abgeschlossen. Meine Mutter mochte es nicht, wenn über andere Leute getratscht wurde.

    Mama und ich lebten in einem kleinen Häuschen, das, von wildem Wein umrankt, zwei Kilometer von Karlas Elternhaus entfernt stand. Sie sorgte alleine für uns, da mein Vater vor meiner Geburt eines Abends aus dem Haus gegangen und nie wieder zurückgekommen war. Mama weinte manchmal, sie konnte nicht verstehen, warum er das getan hatte. Auch heute noch, nach so vielen Jahren, sprach sie manchmal von ihm, als wäre er nur kurz einkaufen gegangen und käme gleich zurück. Meine Mutter war überzeugt davon, dass etwas Furchtbares passiert war. Nie hätte er uns freiwillig alleingelassen, sagte sie manchmal. „Die Polizei war bei uns", sagte Mama, aber keine Spur von meinem Vater. Die Leute tratschten viel damals und für meine Mutter war es eine schwierige Zeit. Ich wusste, dass die Ungewissheit für sie am schlimmsten war. Jedes Mal, wenn es an der Haustür läutete, bemerkte ich einen Hoffnungsschimmer in ihren Augen und jedes Mal war es eine Enttäuschung. Ich war wütend auf meinen Vater, denn ich war überzeugt, er machte sich irgendwo im Süden ein schönes Leben und ließ sich die Sonne auf den Bauch scheinen. Mama sagte manchmal, dass ich meinem Vater ähnlich schaute. Das machte mich noch wütender, denn er hatte mir braunes, widerspenstiges Haar vererbt, das sich kaum bändigen ließ, außerdem war ich zu klein und zu dünn für mein Alter, wie der Schularzt jedes Jahr aufs Neue feststellte. Andererseits hatte das aber auch Vorteile, denn ich war wendig und sportlich gut drauf, und das versöhnte mich wieder etwas mit meinem verschollenen Vater.

    Das Haus der Köhler`schen Familie hatte sicherlich einige hundert Jahre auf dem Buckel. Ich war immer wieder fasziniert, wenn ich es betrachtete. Meiner Meinung nach hatte es Ähnlichkeit mit dem Schloss Schönbrunn in Wien, im Kleinformat. Imposant und geheimnisvoll.

    Umgeben von Fichtenwäldern lag das Anwesen in der Nähe der Vöckla, und die wiederum schlängelte sich gemütlich dahinfließend durch unser Tal. Obwohl im oberen Stockwerk einige Zimmer abgeschlossen waren, blieb für uns eine stattliche Zahl von Zimmern übrig, die wir für alle möglichen verrückten Spiele gebrauchen konnten. Räuber und Gendarm spielten wir am liebsten. Üblicherweise kann es nur im Freien gespielt werden, da man viel Platz braucht, um sich zu verstecken. Eine Gruppe sind die Gendarmen, die andere Gruppe die Räuber, die sich in alle Winde verstreuen und von den Gendarmen mühsam eingefangen werden müssen. Aber in Karlas Elternhaus gab es derart viele Zimmer, dass wir oft drinnen Versteck spielten. Natürlich benötigten wir dazu eine Menge Mitspieler, das war aber kein Problem. Wenn Karla nach der Schule in den Pausenhof schrie: „Wer kommt heute zu mir?", konnte sie sicher sein, dass mindestens fünfzehn bis zwanzig Freunde eintrudelten.

    Zwei Wochen nach unserem Ausflug in Frau Köhlers Computer fing die Sache an, interessant zu werden. Lukas und ich besuchten die erste Klasse der Hauptschule in Neukirchen an der Vöckla. Wir hätten mit dem Schulbus fahren können, aber mit unseren Fahrrädern waren wir unabhängig. Und so konnten wir nach der Schule noch allerlei wichtige Sachen erledigen. Zu unserem Baumhaus fahren zum Beispiel und mit unseren selbst gebastelten Angeln ein paar Fische aus der Vöckla holen. Das war natürlich streng verboten! Abgesehen davon ließen sich die Fische von uns Anfängern sowieso nicht fangen. Aber ab und zu sahen wir einen um unsere Angel herumschwimmen, als wollte er sagen, Freunde für euch gibt es heute keinen Fisch zu essen. Ich hätte auch nicht gewusst, wie man so ein wundervoll glänzendes, schuppiges, schlüpfriges Fischlein vom Haken der Angel in unseren Baumhauskochtopf befördern sollte. Trotzdem war Angeln toll, denn dabei besprachen wir allerlei wichtige Dinge.

    An diesem Tag verstauten Lukas und ich eben unsere Rucksäcke auf unseren Fahrrädern, als Karla auf uns zustürzte.

    „Ich hab euch schon gesucht, keuchte sie, „wir müssen uns treffen. Dabei zeigte sie siegessicher mit dem Daumen nach oben. „Ich habe eine sensationelle Entdeckung gemacht!"

    „Hat deine Mutter noch eine Schwester?", fragte Lukas und blinzelte mir heimlich zu. Ich musste grinsen.

    „Idiot!", stellte Karla fest und kniff Lukas unsanft in den Arm.

    „Bist du verrückt?, schrie er. „Man wird ja wohl noch fragen dürfen.

    Wir verabredeten uns schließlich um fünf Uhr nachmittags bei ihr. Lukas hatte Einwände und wollte lieber zu unserem üblichen Treffpunkt an der Vöckla gehen. Dort hatten Lukas und ich uns im dichten Ufergebüsch ein Baumhaus zusammengezimmert. Ein Baumhaus auf der ebenen Erde. Doch so versteckt, dass niemand, der daran vorbeiging, auf den Gedanken gekommen wäre, hier könnte eine kleine Wohnstatt verborgen sein. Liebevoll hatten wir unser Heim eingerichtet. Bei uns zu Hause lagen eine Menge Sachen herum, die meiner Meinung nach keiner mehr gebrauchen konnte. Unser Holzschuppen stellte sich als wahre Fundgrube heraus. Da gab es alte Teppiche, wackelige Sessel, einen Tisch mit drei Beinen und vieles mehr. In mühseliger Handarbeit hatten wir dem Dreibein in den letzten Ferien ein viertes Bein gebastelt. Seitdem stand er da und hatte schon einiges gehört und gesehen, was nicht für jedermanns Ohren und Augen bestimmt war. Aber er war verschwiegen, belastbar und stammte noch von meinem Vater. Er hatte ihn aus rohen Holzbrettern zusammengezimmert, damit meine Mutter ihre Blumentöpfe darauf abstellen konnte. Doch das war lange her. Vor zwei Jahren schleppte meine Mutter den Tisch in den Holzschuppen und verstaute ihn im hintersten Eck. Ich wusste, sie war traurig, und jedes Mal, wenn sie den Tisch ansah, wurde sie an meinen Vater erinnert und sie hatte Tränen in den Augen.

    Bis jetzt hatte sich meine Mutter über die Abwesenheit des Tisches, diverser Möbel und allerhand sonstigem Krimskrams nicht beschwert. Über solche Kleinigkeiten sah sie großzügig hinweg.

    Lukas mochte Karlas Elternhaus nicht besonders. Dieses riesige verwinkelte Haus war ihm unheimlich. Aber Karla wollte davon nichts wissen.

    „Ihr müsst zu mir kommen, flüsterte sie. „Ich habe etwas entdeckt! Auf dem Dachboden!

    „Einverstanden", sagte ich und schaute Lukas fragend an. Er seufzte ergeben und nickte.

    „Na dann bis später", rief Karla uns zu und hetzte gleich darauf zum Schulbus.

    „Und was machen wir, wenn sie noch mehr Verwandtschaft ausgegraben hat? Ich mag meine eigenen Verwandten nicht besonders und dann erst die Verwandtschaft anderer Leute." Lukas schüttelte sich.

    „Du hast recht, stimmte ich ihm zu. „Sollte Karla eine zweite Tante aus dem Ärmel schütteln, dann … dann haben wir heute am Abend Fußballtraining.

    „Einverstanden, grinste Lukas und zwinkerte mir zu, „so machen wir’s.

    Pünktlich zur verabredeten Zeit standen wir vor der Köhler`schen Haustür. Berti riss mit derartigem Schwung die Tür auf, dass sie ihm aus der Hand rutschte und krachend gegen die Wand donnerte.

    „Sollte jemand ein Nickerchen gemacht haben, ist er spätestens jetzt wach, sagte Lukas und klopfte Berti auf die Schulter. „Gut gemacht, alter Junge. Berti fasste den Kommentar als Lob auf und errötete freudig.

    „Leider, sagte er wichtigtuerisch, „sind Mama und Papa gar nicht da, aber Karla kramt auf dem Dachboden herum.

    „Na dann los, fauchte ich ihn an, „deshalb sind wir ja gekommen.

    Beleidigt drehte Berti sich um und marschierte die breite Treppe hinauf. Als wir im zweiten Stock angelangt waren, schnauften Lukas und ich wie zwei Asthmatiker. Berti schien das nichts auszumachen, denn er redete ununterbrochen. Als wir endlich die enge, steile Stiege zum Dachboden erreichten, bedeutete er uns, leise zu sein. Seine Schritte wurden immer langsamer, bis er überhaupt stehen blieb.

    „Was ist los?, fragte ich ungeduldig, „warum gehst du nicht weiter?

    „Äh …, unsicher schaute er uns an. „Mama sagt, da oben haust ein Gespenst und wir dürfen da nicht hinaufgehen! Lukas räusperte sich. Er mochte nicht nur keine Verwandten, er mochte auch keine Gruselgeschichten und logischerweise auch keine Gespenster.

    „Unsinn, Gespenster gibt es nicht", sagte ich laut. Ich schob Berti zur Seite und ging voran. Lukas und Berti schlichen hinter mir die verwinkelte Stiege hinauf. Plötzlich hörten wir ein Rumoren, als ob jemand etwas wegrücken wollte. Da wurde es auch mir etwas mulmig zumute, bis mir einfiel, dass ja Karla da oben herumkramte.

    „Karla", rief ich entschlossen.

    „Kommt endlich rauf!", rief sie. Als Berti die Stimme seiner Schwester hörte, kehrte sein Mut zurück und er drängte sich mit spitzen Ellbogen an mir vorbei. An einer weit geöffneten Holztür blieb er abrupt stehen.

    „Wir sind da", erklärte er überflüssigerweise, da Karla bereits zu sehen war. Sie kniete neben einer riesigen Truhe, der Deckel war geöffnet. Ich sah Karla nur verschwommen. Riesige Spinnennetze hingen von der Holzdecke herab und schaukelten wie von unsichtbaren Fäden gehalten hin und her. Lukas zuckte zurück. Er mochte keine Verwandten, keine Gruselgeschichten, keine Gespenster und … keine Spinnen.

    „Ekelhaft", stöhnte er.

    Da entdeckte ich neben der Tür einen ausgefransten uralten Besen. „Besser als nichts", sagte ich und machte mich an die Arbeit. Langsam kamen wir in Karlas Nähe. Sie war über und über mit Spinnweben eingedeckt, aber das störte sie nicht. Karla war eben Karla.

    „Kommt endlich her und sehr euch das an!" Sie winkte ungeduldig.

    Ich stellte den Besen weg, der eine Menge Staub aufgewirbelt hatte und musste erst einmal niesen. Dann begutachtete ich die Truhe und deren geheimnisvollen Inhalt. Neben einer ganzen Reihe von Büchern lagen verschiedene Sachen darin verstreut, die es wohl auf jedem Dachboden gab. Nichts Ungewöhnliches oder gar Sensationelles, wie Karla uns versprochen hatte. Ein Buch mit rotem Einband lag aufgeschlagen neben Karla. Ich hob es auf und betrachtete den Umschlag. So ein Buch hatte ich noch nie gesehen. Jemand hatte mit roter Tinte „Traumtagebuch in die linke obere Ecke gekritzelt. Dann waren da verschlungene Linien, die sich veränderten, je nachdem, wie man das Buch drehte und wendete. „Eigenartig, murmelte ich, „was bedeutet das?"

    „Zeig’ mal her", sagte Berti und riss mir das Buch aus der Hand. Er drehte und wendete das Buch ebenfalls, stellte es auf den Kopf und wieder zurück. Mit einem entsetzten Schrei ließ er es plötzlich fallen.

    „Was schreist du hier so herum?", fuhr Karla ihren Bruder an und schaute ihm ins käsige Gesicht.

    „Jemand hat mich angeschaut, keuchte er mit weit aufgerissenen Augen. „Da war ein Gesicht auf dem Buch und hat mich angeschaut.

    „So ein Schwachsinn, meinte Karla, „das kommt davon, wenn man den ganzen Tag vor der Glotze hockt. Sie nahm das Buch in die Hand und betrachtete es genau. „Ich sehe kein Gesicht, nur Linien, die sich überschneiden. Los, geh runter, wenn du Angst hast." Achtlos warf sie das Buch auf den Boden.

    Berti rührte sich nicht. Noch immer war er blass. „Nein, ich mag bei euch bleiben", presste er hervor.

    Lukas hob das Buch auf und ließ sich in einen alten Couchsessel fallen. Das konnte dauern. Ich stöberte noch eine Weile in der Truhe herum und brachte alte Hüte, ausrangierte Kleidung und ein großes Gurkenglas mit Schraubverschluss zum Vorschein. Ich war ständig auf der Suche nach Dosen mit Deckeln oder Gläsern mit Schraubverschlüssen, um unsere Vorräte im Baumhaus vor Pluto zu schützen. Das Gurkenglas war zur Hälfte mit einer hellen Flüssigkeit gefüllt und ich schraubte es auf und roch daran. Der Geruch erinnerte mich irgendwie an längst vergangene Zeiten.

    „Kann ich das Glas mitnehmen? Das könnten wir im Baumhaus gut gebrauchen." Fragend zog ich die Augenbrauen hoch.

    „Klar, sagte Karla und nickte, „kein Problem. „Kommt mal her, Lukas hatte sich abrupt aufgesetzt. „Was gibt es?, fragten Karla und ich gleichzeitig und gruppierten uns um den Couchsessel.

    „Also, das ist seltsam, sagte Lukas, „alles in diesem Buch ist mit der Hand und mit roter Tinte geschrieben, seht euch das an. Er blätterte im Buch und zeigte uns verschiedene Seiten.

    „Verschiedene Handschriften, aber immer rote Tinte, er starrte Karla fragend an, „was bedeutet das?

    „Keine Ahnung, was steht denn drin?", antwortete Karla ausweichend.

    „Komische Sachen von Leuten, die

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