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Kinderspiel: Killerspiel
Kinderspiel: Killerspiel
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eBook281 Seiten3 Stunden

Kinderspiel: Killerspiel

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Über dieses E-Book

Yasmin ist verzweifelt. Nach dem Tod ihres Mannes ist ihr Sohn Erik, der schon immer schwierig war, noch weniger zu kontrollieren. Gewaltbereite Jugendliche und die Polizei sind auf mysteriöse Weise in das jüngste Geschehen verstrickt. Doch die Wahrheit liegt in Vergangenheit und Zukunft zugleich. Erik hütet ein bizarres Geheimnis.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum28. März 2015
ISBN9783738021943
Kinderspiel: Killerspiel

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    Buchvorschau

    Kinderspiel - Dennis Herzog

    Prolog

    Prolog

    Nichts.

    Nackte Wände, ein kahler, klinisch sauberer Boden.

    Alles war einfach fort.

    Jeden Raum, den sie durchquerte, fand sie vollkommen leer vor.

    Eben noch stand Yasmin in der Küche. Eine Hand voll Kartoffeln, leise vor sich hin brodelnd, im großen Kochtopf. Der Backofen verströmte den herrlichen Duft des beinahe fertigen Rollbratens. Sie hatte sich nur kurz gebückt, um aus dem Schrank unter der Spüle einige Untersetzer für den heißen Topf und die Auflaufform mit dem Fleisch zu holen.

    Doch als sie die Tür öffnete und in den Innenraum des weißen Küchenschrankes schaute, war sämtlicher Inhalt verschwunden. Instinktiv sah sie auch im Hängeschrank nach, der ihr am nächsten war. Es fehlten nicht einfach nur alle Gegenstände, der Stauraum sah ganz so aus, als hätten dort niemals zuvor irgendwelche Utensilien gelagert. Alles war völlig sauber, so als wären die Küchenschränke fabrikneu, ganz so als wären sie gerade erst aufgebaut worden.

    Verwirrt hatte sie sich wieder aufgerichtet, nur eine Sekunde die Augen geschlossen und sie wieder geöffnet. Vor Schreck stieß sie nun einen spitzen Schrei aus.

    Der Schrank, - eben noch offen -, direkt vor ihren Augen – weg!

    Die gesamte Arbeitsfläche, sämtliche Regale waren fort.

    Die große Küche und alles darin Befindliche war plötzlich verschwunden. Kein Fleisch im Herd, nicht einmal mehr ein Herd. Jeder Gegenstand, jedes Möbelstück, Tisch, Stühle, alles wie weggefegt. Glänzende saubere Böden, frische weiße Farbe an den Wänden. Kein Anzeichen dafür, dass hier überhaupt jemand wohnte.

    Selbst die Gardinen fehlten. An der Decke ragten nackte Kabel aus einem sauber gefrästen Loch, wo Sekunden vorher die schöne teure Lampe hing; ein Hochzeitsgeschenk ihres verstorbenen Mannes.

    Falls denn „verstorben" hier der richtige Ausdruck war.

    Kein Geruch mehr, kein Lufthauch. Völlige Stille umfing sie. So musste sich ein Taucher fühlen, der in der Tiefe, abgeschirmt von allem Anderen, durchs Wasser glitt, umgeben nur von stummen Fischen und sich wiegenden Wasserpflanzen.

    Hektisch war sie aus der Küche und ins angrenzende Wohnzimmer gestolpert, nur um dort angekommen, mit weit aufgerissenen Mund und entgleistem Blick erneut Halt zu machen. Auch hier schrien ihr nur nackte, weiße Wände entgegen. Ein glatt gefliester Boden, der nicht die Ahnung eines Staubkorns zu beherbergen schien. Nicht einmal die charakteristischen hellen Flecken, die unweigerlich auftraten, wenn man Schränke, Sofas, oder an den Wänden hängende Bilder entfernte, waren geblieben. Nichts wies überhaupt darauf hin, dass jene Dinge, die doch zuvor lange Zeit einen festen Platz in diesem Raum beansprucht hatten, jemals vorhanden gewesen waren.

    Zaghaft hatten ihre trockenen Lippen ein einzelnes Wort geformt, und sie hauchte es in die gähnende Leere, die sie jetzt umschlungen hielt, wie eine Anaconda ein Wasserschwein: „Hallo?"

    Sie sprach bewusst sehr leise und verhalten in die sterile Umgebung, und doch kam ihr ihre eigene Stimme furchtbar laut, fehl am Platz und zudem noch seltsam fremdartig vor. Ihre Frage blieb unbeantwortet. Es gab nur sie und die Einsamkeit an diesem Ort. Ein Ort der ihr über viele Jahre so vertraut war, doch nun so fremd wirkte, als sei sie in eine andere Dimension über gewechselt.

    Kurz sah sie sich ratlos um, dann begann sie das gesamte Haus zu durchlaufen. Fand in jedem Raum das gleiche schaurige Nichts vor.

    Dies war nicht das Gebäude in dem sie lebte, es war eine Kopie, eine unbewohnte, falsche Version ihres Hauses.

    Ihre Verwirrung nahm von Sekunde zu Sekunde stärkere Gestalt an. Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander, wie Guppys in einem übervölkerten Aquarium.

    Zuletzt trat sie heraus in den kleinen, hellen Wintergarten. Dieser Anbau, die letzte große Ausgabe, die Andreas zu Lebzeiten getätigt hatte, war ihr liebster Zufluchtsort.

    Dort wo sie gerne saß, ihre Abende verbrachte, oder einfach nach erledigter Hausarbeit, bei einem oder mehreren Gläsern Wein einen Roman las, blieb sie abermals stehen. Hier brach sie ihre angsterfüllte „Hausbesichtigung" ab.

    Sie schaute hinaus auf den großen, mittlerweile wild bewachsenen Garten.

    Hier sah eigentlich Alles völlig normal aus. Dennoch nagte an ihr ein eindringliches Gefühl, das ihr mit stetig wachsendem Nachdruck zuflüsterte, es könne nicht wirklich sein was sie sah. Was im Haus passiert sein musste war schlichtweg unmöglich.

    Bevor sie in der Lage war, eingehender darüber zu grübeln wie das alles hier zustande kommen konnte; was hier eigentlich los war; was sie am Anblick des Gartens störte, bemerkte sie etwas neues.

    Ihr Lieblingsplatz war nicht völlig der Realität entflohen. Etwas war anders als im Rest des Hauses. Sie blickte durch die grobmaschigen Vorhänge, die halb heruntergelassen, einen Teil der Bodentiefen Panoramafenster bedeckten.

    Die kurze, gelbe Couch stand noch an ihrem Platz. Ebenso die ordentlich arrangierten Blumenkästen mit kleinen Akazien und verschiedenen Geranien-arten, die sie liebevoll zu pflegen wusste, da ihr Anblick ihr mehr als vieles Andere Trost zu spenden vermochte.

    Jedoch jagte ihr ein neuer Schrecken einen kalten Schauer über den Rücken. Sofort zuckte sie zusammen, als sie den Blick zur Couch wandte.

    Sie musste sich die Hände auf den Mund pressen, um den Schrei zu unterdrücken, der in ihrer Kehle hochstieg. Dass sich hier, im einzigen Raum des Hauses, der augenscheinlich „normal" geblieben war, auf dem gelben Stoff des einzigen verbliebenen Möbelstückes im ganzen Gebäude eine Person befand, damit rechnete sie in der Stille und der absoluten Leere, die überall vorherrschte, am wenigsten. Offensichtlich war es eine Frau, die mit dem Gesicht zur Rückenlehne, mit dem Rücken zu ihr, dort lag. Schulterlange, braune Haare. Anscheinend schlief sie.

    Am unerklärlichsten war der Umstand, dass die Frau das gleiche kurze Sommerkleid trug, wie sie selbst. Genauer gesagt musste das gar exakt das selbe Kleid sein. Das beruhigende Blumenmuster auf blauem Grund, eine breite Kordel aus geflochtener Seide, anstelle eines Gürtels an der Hüfte. Der untrügliche Beweis dafür, dass tatsächlich jemand vor ihr lag, der ihr Gewand trug, entlockte ihr ein kurzes wehleidiges Stöhnen. Sie hatte sich am Vortag, auf eben dieser Couch, mit Wein bekleckst und sah nun eben diesen, mittlerweile eingetrockneten, rostbraunen, Fleck auf dem Stoff des Kleides der ihr vermeintlich fremden Person.

    Unvermittelt, einer bösen Ahnung folgend, sah sie an sich herunter und musste entsetzt feststellen, dass sie selbst nackt hier stand.

    Hatte sie das Haus erkundet, ohne Kleidung zu tragen? War sie eben noch angezogen gewesen und die Veränderung war erst vor Sekunden eingetreten, wie das Verschwinden der Küche mit einem Blinzeln?

    Sie trug nicht einmal Schuhe! Dabei hätte sie schwören können, beim Durchqueren der Räume den Widerhall ihrer besohlten Schuhe deutlich gehört zu haben.

    Verwirrung war kein ausreichender Ausdruck mehr, für das was in ihr vorging. Sie fühlte ihren pochenden Herzschlag, meinte ihn gar hören zu können. Sie atmete zu schnell. Gedanken und Gefühle überschlugen sich, rasten durch ihr Bewusstsein, wie Mäuse durch ihren Käfig flitzen, die ohne klares Ziel und doch meist auf der steten Suche nach Futter herumwirbelten. Das Futter, das ihr Verstand nun verzweifelt zu finden suchte, war eine „Erklärung".

    Es musste doch irgendwie, irgendwo einen Sinn ergeben? Was geschah nur mit ihr?

    Plötzlich vernahm sie ihre eigene Stimme. Sie sprach zu der weiblichen Person auf ihrem Ruheplatz: „Wach auf."

    Wach doch bitte auf!" Wiederholte sie, um einiges lauter und wurde sich bewusst, wie gereizt sie klang.

    Regelrecht zornig schrie sie: „Yasmin! Wach endlich auf!!!"

    Yasmin wachte auf.

    Kapitel 1

    Eins

    Sie öffnete nur widerwillig die Augen. Der Traum klang deutlich langsamer ab, als es ihr lieb war. Sie wusste nicht gleich wo sie sich befand, die Bilder überlagerten einander. Eindrücke, dessen, - was sie jetzt im beinahe Wachzustand sah, - und was sie zuvor im Traum erlebt hatte, vermischten sich. Ihre Atmung war flach, noch immer etwas zu schnell.

    Langsam zwängte sich ihr bewusster Verstand in den Vordergrund, schob damit die Orientierungslosigkeit beiseite und gelangte endlich erfolgreich zur Klarheit.

    Auf der kleinen Couch im Wintergarten war sie eingeschlafen. Sie lag im Moment ihres Erwachens genau so da, wie sie sich selbst im Traum gesehen hatte. Bekleidet mit dem Wein befleckten Sommerkleid, das Gesicht zur Lehne gewandt. Nur hatte sie im Traum bis zuletzt nicht wirklich begreifen wollen, dass es keine Fremde war, die sie dort gesehen hatte. Ihre hagere Figur, das feine braune Haar, selbst die Art wie die Traumversion ihrer Selbst hier gelegen hatte, hätten ihr diese Schlussfolgerung offenbaren sollen.

    Doch Träume folgten bekanntlich stets eigenen Regeln.

    Ein beklemmendes Gefühl, ein widerlicher kleiner Teil ihres Verstandes wollte darauf beharren, sie wäre noch immer nicht erwacht. Die Frau die sie gesehen hatte, hätte bloß mit ihr den Platz getauscht und starre nun in ihrem Rücken auf sie herab. Beinahe bildete sie sich ein, sie spüre den ratlosen Blick auf sich ruhen.

    Doch als sie langsam den Kopf zum Fenster drehte, war dort niemand.

    Lange konnte sie nicht geschlafen haben. Der strahlend schöne Vormittag war kaum voran geschritten, und nun blendeten sie die einfallenden Sonnenstrahlen.

    Einige Minuten lang blieb Yasmin noch liegen, ordnete ihre Gedanken, schüttelte den Traum weitestgehend ab und schaute, nachdem sich ihre Augen an die abrupte Helligkeit gewöhnt hatten, einfach hinaus in den grünen Garten.

    Jeder Busch, jeder Baum war eine wahre Wohltat für ihre Augen.

    Über dem kleinen Teich konnte sie sogar einige Libellen ausmachen, die geschwind ihre Kreise zogen. Sie mochte die seltenen, violetten Insekten, deren Körper metallisch in der Sonne glitzerten.

    Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. Eine Mimik, die nicht mehr oft vorkam.

    Yasmin erfreute sich nur noch sehr selten an irgendetwas in der heutigen Zeit.

    Sogleich fiel ihr allzu deutlich auf, wie wenig Pflege dem Rasen und allen Pflanzen im großen Bereich hinter dem Haus, in den letzten Monaten zuteil geworden war.

    Monate? - So lange war es noch nicht einmal her, da hatte es noch den geliebten Partner an ihrer Seite gegeben. Schmerzlich presste die Erinnerung ihre Brust zusammen. Eine Erinnerung an bessere Zeiten, an ihn. An den Mann, in dessen Armen sie hier Stunde um Stunde hatte verbringen dürfen, als es ihn noch gab.

    Es war August. Ihr Mann, ihr Partner und Freund hatte sie im April verlassen; war ihr entrissen worden! Nicht einmal ein halbes Jahr war vergangen, doch für Yasmin bedeutete jede Minute eine Ewigkeit in Einsamkeit.

    Täglich schwankte sie zwischen Trauer und Freude, in Gedanken an ihren wundervollen Mann. Er hatte es geliebt stundenlang im Garten zu arbeiten, wühlte im Unkraut, setzte Bäume, stutzte Büsche und kümmerte sich beherzt um Blumen und die kleine Teichanlage, die sein ganzer Stolz war.

    Seine schier unerschöpfliche Energie nutzte der stattliche Mann in beinahe jeder freien Minute, indem er entweder seine Freizeit für die beiden Kinder zu opfern bereit war, oder sich voll und ganz für seinen Garten hergab.

    Was nicht etwa hieß, dass Yasmin selbst dabei zu kurz gekommen wäre. Nein. Die Abende, wenn Rebecca und Erik im Bett waren, wenn die Sonne hinter den Hügeln verschwand, diese Zeit gehörte einzig ihrer Liebe.

    An so manchen Tagen hatte sie das Gefühl gehabt die wohl glücklichste Frau der Welt sein zu müssen. Weil sie einen Menschen wie Andreas zum Partner hatte.

    Warum nur? Wie hatte Gott zulassen können, dass ihr und ihren Kindern dieser wunderbarste aller Menschen genommen worden war?

    Den zuvor erlebten Traum zu erklären, die verschrobenen Bilder in Zusammenhang zu bringen, fiel ihr nicht einmal schwer: Es war die Leere in ihr, die ihr aufgezeigt wurde. Die Lücke, die entstanden war, durch den Tod ihres Mannes. Sie manifestierte in ihren Träumen ihre Einsamkeit mit dem Fehlen aller Dinge! Aller Notwendigkeiten. Obgleich sie die Meinung vertrat, dass es nicht einen einzigen, - und sei er noch so kostbar, - Gegenstand geben konnte, der jemals einen Menschen zu ersetzen vermochte.

    Ganz besonders nicht diesen Einen. Schrecklich und unmöglich jemals zu verkraften, dass alles was sie geteilt hatten, nun ihr allein überlassen sein sollte. So eingespielt, so vertraut waren beide im Umgang mit einander gewesen. Andreas hatte es fertiggebracht sich zeitweise buchstäblich „blind und taub" auf sie zu verlassen.

    So war es in gegenseitigem Vertrauen immer gewesen, und niemals war einer von ihnen vom jeweils anderen enttäuscht worden.

    Wie beinahe täglich, liefen Yasmin jetzt warme Tränen die Wangen herab, sie wischte sie nicht weg, ließ wie immer ihren Gefühlen freien Lauf.

    Jedenfalls, wenn sie alleine war. Vor Rebecca kam es nur selten vor. Und in Gegenwart von Erik hielt sie sich generell tapfer zurück, mimte die Unerschütterliche.

    Ihr Make-up konnte nicht verlaufen, sie trug ja keines, tat dies ohnehin beinahe nie.

    Andreas hatte sie so immer am schönsten gefunden, wenn sie sich natürlich gab.

    Unzählige Male hatte er mit stets aufrichtiger Miene verkündet: „Du bist am herrlichsten anzusehen, wenn du gerade aufgewacht bist!"

    Es fand sich somit auch heute kein geeigneter Grund, daran jetzt etwas ändern zu wollen.

    Er hatte sie geliebt, so wie sie war. So wie sie ihn geliebt hatte. Dazu bedurfte es keiner Maskerade, hatte es nie.

    Langsam wagte sie es, sich in sitzende Position aufzurichten. Wenn sie so dasaß konnte sie beinahe den groß gewachsenen, attraktiven Mann dort draußen stehen sehen. Andi hatte oft bei schönem Wetter mit freiem Oberkörper gearbeitet.

    Er trug dabei immer seine alte, zerrissene Jeans, die nicht viel länger war, als ein Minirock. Das Innenfutter der Seitentaschen nach außen gekehrt, damit es nicht albern unter dem Saum herauslugte, was nur zur Folge hatte, noch alberner zu wirken.

    Sie hatte ihn so sehr geliebt! Sie tat es noch immer!

    So oft hatte es ihr genügt, ihm einfach nur zuzusehen, wenn sich seine Muskeln unter der verschwitzten Haut abzeichneten. Die verklebten, leicht lockigen Haare fielen ihm in die Stirn. Hals Brust mit feuchter Erde beschmiert. Er trug ein auffälliges Tattoo auf dem rechten Schulterblatt. Es zeigte einen grinsenden Harlekin, der seine Haare zu wilden Zöpfen geflochten, dem Betrachter den Rücken zu wand, aber mit stechendem Blick, über die Schulter zurückblickte.

    Nicht selten hatte Yasmin ihm gesagt, wie gut ihrer Meinung nach, diese Figur zu seinem Charakter passte. Er war oft am feixen und beinahe immer zu albernen Scherzen aufgelegt gewesen, was ihm besonders bei den Kindern, als sie jünger gewesen waren, viel Sympathie eingebracht hatte.

    Früher einmal, am Anfang ihrer Beziehung, aber auch danach, besonders in der Zeit ihrer ersten Schwangerschaft, hatte sie sich immerzu gefragt, wie er nur darauf gekommen war gerade sie zu wählen.

    Oftmals hatte sie die Befürchtung gehabt, sie allein könne so viel Glück gar nicht verdient haben, - oder es ertragen.

    Andreas war schon immer einer der beliebtesten und viel umschwärmten Typen gewesen. Während der Schulzeit, in der sie seiner zum ersten Mal gewahr wurde, hatten sie anfangs kaum mit einander zu tun. Darüber hinaus hätte er unzählige Liebschaften und so manches schöne Mädchen haben können. Doch Andreas hatte sich für Yasmin entschieden.

    Sie selbst hatte nie den Mut besessen sich an ihn heran zu wagen, - er war es gewesen, der ihr eines Tages entgegentrat und sie einfach einlud mit ihm auszugehen.

    Warum sollte dieser „Star der Schule nur mit einem unscheinbaren Mädchen, wie sie es war, verkehren? Sie hatte sich natürlich nicht getraut ihm eine solche Frage zu stellen. War so überglücklich gewesen. Und doch anfangs sehr besorgt; der junge Mann könne sich vielleicht einen Scherz mit ihr erlaubt haben. Oder gar schlimmer noch, - eine blöde Wette, wie sie Jungen in Post-pubertärem Alter gerne machten, verloren haben. Die unangenehme Konsequenz daraus könnte jetzt das „unfreiwillige Treffen mit einer Grauen Maus vom Schulhof sein.

    Damit hatte sie allerdings so falsch gelegen, wie es nur sein konnte. Ihre Befürchtungen hatten sich nicht nur sprichwörtlich, sondern real in „Wohlgefallen" aufgelöst. All ihre Zweifel und Befürchtungen, seine Einladung könne nicht aufrichtig sein waren völlig unbegründet. Sie hatten einen herrlichen Abend verlebt. Andreas war ein höflicher, zuvorkommender und vor allem witziger Zeitgenosse, der sich ernsthaft und redlich für sie interessiert hatte. Er hatte sich um sie bemüht!

    Es hatte keine volle Stunde gedauert, da war Yasmins Herz für immer vergeben, und sie hatte Andi darin eingeschlossen. Ein Liebesgefängnis, - ohne Chance auf Bewährung.

    Damals war sie neunzehn, und er einundzwanzig Jahre alt gewesen. Der junge Mann stand kurz vor seinem Abitur. Sie hatte, mit dem selben Ziel, noch anderthalb Jahre Schulbank vor sich.

    Weder fand sich Yasmin zu dieser Zeit hübsch, noch hätte sie behauptet überhaupt bemerkenswert, oder gar interessant zu wirken. Ihrer Meinung nach war sie ein schlichtes, eher unscheinbares Mädchen.

    Doch dieser eine Junge, dem so viele hübsche Mädchen, mit ihren blonden Mähnen, langen Beinen und üppigen Brüsten, zu imponieren versuchten, ihm heimlich Briefe zusteckten, oder einfach plumpe Anmachen starteten, wies sie alle ab. Dieser außergewöhnliche Mensch hatte entschieden, dass ihm das langweilige, kleine Mädchen, mit den kurzen, braunen Haaren und der Brille besser gefiel. Keine blauen Augen, ein unansehnliches braun, fand sie.

    Keine großen Brüste, mit einem Meter vierundsechzig um einiges kleiner als die meisten Schulkameradinnen.

    Doch nie hatte er sie, wie andere es taten, spöttisch betrachtet.

    Auch noch zwei Tage nach ihrem ersten Date, als er zu ihr gekommen war und fragte, ob sie nicht vielleicht zusammen ins Kino gehen könnten, kam es ihr noch immer so vor, als habe er tatsächlich nicht gewusst, dass ihre Antwort in keinem Falle „Nein" hätte lauten können.

    Sie hatte kaum zu atmen gewagt, als er noch anfügte: „Oder möchtest Du Dich lieber bei einem leckeren Eis mit mir zusammen setzen und reden?"

    Er hatte zuvor mit ein paar seiner Freunde während der großen Pause auf dem Schulhof gestanden, zu denen er nun zurück ging. Wäre sie zu diesem Zeitpunkt allein, und nicht umgeben von vielen anderen, und manch neugierigen Blicken gewesen, sie wäre jauchzend und jubelnd in die Luft gesprungen, so sehr hatte sie sich damals gefreut.

    Sie erinnerte sich daran, dass jemand, - sie wusste nicht mehr wer -, mal gesagt hatte:

    Es kann genauso sehr erdrückend sein, für jemanden Liebe zu empfinden, wie das empfinden von Trauer." Dieser Satz klang für sie noch immer so seltsam, so unrichtig, und unvollständig. Und doch hatte sie ungewollt erkennen müssen, welch unwiderlegbare Wahrheit sich in diesen wenigen Worten verbarg.

    Die Liebe kommt ganz plötzlich, sie überrascht und wird willkommen geheißen. Du stehst einfach nur da, du fühlst und fühlst. Du siehst nur noch das Großartige, siehst in der Welt nur noch die Schönheit. Du lässt keinen noch so geringen Gedanken an etwas Negatives zu. Du bist überwältigt von der Liebe. Doch dieses Gefühl umgibt dich gleichzeitig, wie ein enger Käfig. Es nimmt dir jede Chance an etwas anderes zu denken, oder gar nur zu glauben, als an die Liebe.

    Die Trauer hingegen, sie ist schlimm, sie engt dich ebenso ein, aber sie ist wie eine immer wieder kehrende Stimme. Sie sagt dir immerzu, dass es dir schlecht geht. Es gelingt dir nicht diese Gefühle der Trauer zu verjagen, plötzlich sind sie richtig, sie werden dir wichtig, obgleich sie dich bedrücken. Die Trauer schleicht sich ein, wie ein nerviger Vertreter, der unangemeldet herein schneit und mit unsinnigen Angeboten lockt, - er ist nicht wirklich böse, nicht absichtlich -, doch du erkennst auch, dass er nicht wirklich an deinem Wohlergehen interessiert ist, sondern vielmehr nur seinen eigenen Vorteil zu erringen versucht.

    Dennoch wirst du ihn nicht los, hältst an seinen Worten fest, sie ergeben sogar irgendwie noch einen Sinn, denn die Trauer ist auch eine Art zu fliehen: Die Flucht davor, zu wissen!

    Dieser unterschiedlichen Gefühlen Herr zu werden, die sich doch so ähneln sollten. Zugleich all die damit einhergehenden Eindrücke und Empfindungen zu verarbeiten, war beinahe unerträglich.

    Sie schwelgte in schönen Erinnerungen an eine wunderbare Zeit, empfand eine tiefe ehrliche, ausfüllende Liebe. Zugleich

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