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SCHIKO – Portraitskizzen: Der Schulmeister aus einem vergangenen Jahrhundert: Eine kleine lokale Zeitgeschichte
SCHIKO – Portraitskizzen: Der Schulmeister aus einem vergangenen Jahrhundert: Eine kleine lokale Zeitgeschichte
SCHIKO – Portraitskizzen: Der Schulmeister aus einem vergangenen Jahrhundert: Eine kleine lokale Zeitgeschichte
eBook320 Seiten3 Stunden

SCHIKO – Portraitskizzen: Der Schulmeister aus einem vergangenen Jahrhundert: Eine kleine lokale Zeitgeschichte

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Über dieses E-Book

Klaus Schikore, geb. 1929 in Stralsund, überlebte zwei deutsche Diktaturen: als Zögling einer Elite-Schule des "Dritten Reiches" (1942-45) und als Gefangener des sowjetischen MWD und der späteren DDR (1945; 1948-54). Nach seiner Flucht 1954 in die BRD studierte er in Göttingen Deutsch, Geschichte und Philosophie, war seit 1963 als Lehrer im Gymnasium tätig und lebt als Pensionär seit 1991 in Osterholz-Scharmbeck.
Die 'Portraitskizzen' enthalten in einem 1. Teil seine Reden zur Entlassung von Abitur-Jahrgängen und andere Schulereignisse; in einem 2. Teil die Auseinandersetzung mit seiner SPD-Mitgliedschaft und seine Teilnahme in der Friedensbewegung. Ein 3. Teil enthält historisch-politische Schlussgedanken an einem Lebensausgang.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum1. Feb. 2022
ISBN9783754946640
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    Buchvorschau

    SCHIKO – Portraitskizzen - Klaus Schikore

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    SCHIKO

    Portraitskizzen: Der Schulmeister

    aus einem vergangenen Jahrhundert

    Eine kleine lokale Zeitgeschichte

    Klaus Schikore

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    Persönliches Vorwort

    ZEITZEUGE – Es ist schon ein ungewohntes, vielleicht auch ungewöhnliches Gefühl, wenn du, nun im hohen Alter, im Gespräch mit Freunden oder Nachbarn über dein Leben mit jenem Wort angesprochen wirst oder wenn gar in der Öffentlichkeit, wenn dein Name fällt, jene Bezeichnung Verwendung findet. Du hast doch ein Leben geführt mit deiner Familie, in deinem Beruf wie die meisten Menschen in diesem Lande. Sicher, manchmal wohl auch etwas herausgehoben von anderen. Da spielen unsere Charaktere, unsere Berufe ihre kleine Sonderrolle, aber das geht anderen ja ebenso.

    Nun aber sollst du – als Person – ZEUGE sein über eine ZEIT, die einer nachkommenden Generation ungekannt ist, aber mit ihren Auswirkungen auch in ihr Leben eingreift. Und ein ‚Zeuge‘ – so versteht es der alte Schulmeister – bezeugt vor dem Gericht der Geschichte sein Tun und Lassen gegenüber der Gesellschaft, in der er lebt. Da kann er den Nachkommen gegenüber als ‚Zeuge der Anklage‘ oder als ‚Zeuge der Verteidigung‘ seines Tuns verstanden werden. Das Urteil über die bezeugte Zeit in ihrem Wandel fällt allein die Geschichte, weder der ‚Kläger‘ des bezeugten Geschehens noch sein ‚Verteidiger‘, schon gar nicht Gegenwärtige, die jene Zeit nicht erlebt haben und sich anmaßen, über sie ihr Urteil zu fällen. –

    Es muss gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts gewesen sein – ein genaues Datum kann ich nicht mehr ermitteln –, als eine junge Geschichtsstudentin mich um ein Interview bat, Näheres über meine Tätigkeit damals beim Bau der „Goldenen Siedlung im Grenzdurchgangslager Friedland zu erfahren. Man habe in den Unterlagen dort meinen Namen gefunden und forsche nun nach Erinnerungen von Menschen aus dem 20. Jahrhundert, die dort „durchgegangen seien, und nach ihrem späteren Lebensweg in Deutschland. Warum sollte ich das ausschlagen? Ich war zwar nicht als ‚Flüchtling‘ dort untergebracht, sondern habe in den Ferienwochen im August 1954 als amtlich anerkannter „Spätheimkehrer und gerade aus der DDR geflüchteter ‚politischer Häftling‘ auf den Beginn meines in Göttingen beginnenden „Abiturlehrganges gewartet und während dieser drei bis vier Wochen beim Bau der „Goldenen Siedlung" {1} gearbeitet.

    Dann erreicht mich – Jahre später und völlig unerwartet – eine freundliche Mitteilung aus dem Niedersächsischen Innenministerium, dass in der ersten Septemberhälfte 2012 für mich ein Dienstwagen des Innenministeriums bereitgestellt wird, um mich nach Salzgitter zu bringen, wo ich mich als Zeitzeuge für ein Video-Interview im TV-Studio des dort haltenden „Jahrhundertbusses" {2} bereithalten möge. In Begleitung meiner Frau sind wir an besagtem Septembertag nach Salzgitter gefahren worden, wo ich im TV-Studio dann eine gute Stunde interviewt worden bin. In fünf Ausschnitten kann mein Zeitzeugen-Interview im Internet heute aufgerufen werden.{3}

    Kürzlich erzählte mir meine Enkelin Merle, eine junge Studentin, dass sie vor einiger Zeit mit Bekannten im „Haus der Geschichte in Berlin war und ihnen sagte, dass sie ihnen mal etwas zeigen möchte: Ein Knopfdruck – und da waren im Zeitzeugenportal „Gedächtnis der Nation (GDN 1940-1949) die Erinnerungsberichte ihres Großvaters ‚Schiko‘ abzurufen; ihre Begleitung hätte nicht schlecht gestaunt.

    Ja, da sind wir nun beim Titel meiner nun letzten Darlegungen: SCHIKO. Dieser Name, diese Bezeichnung, dieser Begriff hat mich nun fast ein ganzes Leben verfolgt, nein, begleitet und manches Schmunzeln, vielleicht auch stille Freude bereitet. Wohl auch ein wenig Stolz, ein bisschen gerettetes Familienbewusstsein aus den Jahren der ‚Vertreibung‘ aus dem Osten, den erst schlesischen, dann pommerschen ‚Schikos‘? Meine Frau hat mich in den 73 Jahren, die wir uns kannten, fast nur so angesprochen, mein eigentlicher Vorname fiel selten zwischen uns – im Alter dann das vertraute ‚Old‘, das mir heute Martina, meine Schwiegertochter in München, auch bewahrt. Im einstigen „Familienteil-Ost", bei meinem ältesten Sohn, ist es ‚Alter Herr‘ und wie zur DDR-Zeit ‚Chef vom Ganzen‘ geblieben. Im „Familienteil-West" ist die Anrede Schiko bei meiner Enkelin Merle und ihrem Vater geblieben, ebenso im freundschaftlichen Bekanntenkreis. Im überwiegend jüngeren Familienkreis hat sich seit Jahren ‚Großvater‘ eingebürgert. Doch all diese unterschiedlichen Bezeichnungen finden sich in der einen Person wieder: Schiko.

    Wo kommt diese eigentliche Namenskürzung her? Das ist sehr genau anzugeben. Unsere unbeschwerte Kindheit hatte uns unzertrennlichen Zwillingen die Vornamen mit etwas kindlicher Umschreibung belassen: „Horti Daus" nannte Vater sein Motorboot damals. Mit unserer Uniformierung im zehnten Lebensjahr 1939 und dem Kriegsausbruch waren dann Horst (der eine halbe Stunde ältere) und Klaus die gebräuchlichen Namensnennungen mit unseren Abkürzungen ‚HK‘. Mit dem Tod meines Bruders im November 1941 und meinem Schulwechsel auf die NPEA-Rügen in Putbus blieb dann mein Vorname nur noch eine aktenkundige Notiz in meinen Personalpapieren. Der Junge in Uniform – anfangs die feldgraue, danach die erdbraune – bekam von der Gemeinschaft der Gleichaltrigen den Namen zugesprochen, auf den er von Dienstanfang morgens um 6⁰⁰ bis zum Zapfenstreich um 20⁰⁰ bzw. 22⁰⁰ Uhr (bei den älteren Zügen). Da wir nur im ausführenden Dienst oder bei öffentlichen Anlässen mit unserem Familiennamen angesprochen wurden, hatten die Jungmannen{4} in den jeweiligen Zügen unter sich „Spitznamen" verteilt oder ihre Vornamen behalten. Ich war einer der wenigen in unserem Zug, der unter uns Zugkameraden den Nachnamen behielt, allerdings in verkürzter Form: Schiko.

    Wenn ich mich heute an meine Putbusser Zeit zurückerinnere, kann ich nicht mehr genau sagen, warum ich diese Anrede damals ohne Widerspruch angenommen habe. War es das unbewusste Gefühl, die Kindheit mit meinem nun für immer verlorenen Bruder hinter mir gelassen zu haben? War es das Wissen, als einer der ersten in der neuen Gemeinschaft den Vater früh im Krieg verloren zu haben? Nun das Bewusstsein, den Familiennamen weiterzutragen, wenn auch in „verkürzter" Form? Alles zu Beginn noch recht undeutlich, doch in den kommenden Jahren – bis zum bitteren Ende – immer klarer: Pflichterfüllung im Andenken an die Toten unserer Familie. Da ist dieser Begriff, der mich in meinem Dienst bestimmt hat: Pflicht. Damals in junger Führungsposition{5} einer Zug-Gemeinschaft in einem totalitären Staat, später in der Verantwortung für junge Menschen in einem demokratischen Rechtsstaat. Geblieben ist für mich im Wandel der Zeit mein „Spitzname": Schiko. Das hat sich in meinem Leben bis heute nicht geändert: Der Schulmeister am Gymnasium in Osterholz-Scharmbeck behielt – in Schülerkreisen, z. T. auch unter einigen Kollegen und Kolleginnen – diese Anrede aus seiner uniformierten Jugendzeit. Die Staatsformen hatten sich geändert, die Zeiten sich gewandelt, die Person hinter jener Namensbezeichnung blieb dieselbe – aber mit den Erfahrungen eines schrecklichen Krieges, einer irregeführten Jugend; einer sich demokratisch gebenden neuen Diktatur, einer jahrelangen Gefangenschaft und einer unausweichlichen Flucht aus der Heimat.

    Ja, die Person hinter jenem SCHIKO ist die gleiche geblieben. Doch die Erfahrungen eines jungen Lebens haben Spuren hinterlassen: Tod von Vater und Bruder in den ersten beiden Kriegsjahren; Ende eines in der Welt geächteten Regimes, dessen Uniform Vater und er überzeugt getragen haben; Widerstand als Schüler gegen eine sich neu anbahnende Diktatur mit dem Ende eines harten Urteils durch ein sowjetisches Militärtribunal. Und du hast in deinem jungen Leben zweimal vor Gewehrläufen einer Siegermacht gestanden. Das sind Bilder, die sich in deinem Gedächtnis eingebrannt haben. Mit diesen Erinnerungen hat der ‚Schulmeister aus dem vergangenen Jahrhundert‘ an seinem ersten Dienstort Osterholz-Scharmbeck seinen Dienst angetreten – und er wollte nur ein Jahr bleiben und mit der jungen Familie weiterziehen: Das Meer fehlte ihm, die See seiner pommerschen Heimat. Nun ist daraus ein Leben geworden. In dieser ‚Gartenstadt am Teufelsmoor‘ wurde ein Haus gebaut, in dem nun ein Enkel in dritter Generation aufwächst. Ist das nicht auch schon Heimat geworden?  –

    Mit den folgenden Aufzeichnungen, als Portraitskizzen seines Denkens ausgewiesen, möchte der ‚Schulmeister aus dem vergangenen Jahrhundert‘ den Menschen dieser Stadt, in der er – in der politischen Auseinandersetzung manchmal etwas ungeduldig – wirken durfte, Dank ableisten, hier aufgenommen worden zu sein und wo er nun sein Leben beschließen wird.

    Vor allem aber möchte er in seinen Portraitskizzen den vielen Schülern, die ihn haben erdulden müssen (er war doch gar nicht so streng , wie ihm heute noch nachgesagt wird), noch einmal aufzeigen, dass jeder junge Mensch durch offene, fordernde und durch keine Ideologie verblendete Weltsicht den Problemen seiner Zeit sich stellen muss. Gerade in Zeiten, da nationale Interessen in Wirtschaft und Politik globalen untergeordnet werden und wir längst von ihnen abhängig sind, ist eine junge Generation gefordert, den Versäumnissen und Fehlern der Vergangenheit mutig entgegenzutreten, um in einer Welt zu leben, die noch lebenswert ist.

    Der alte Schulmeister wünscht euch Glück !

    -.-.-.-.-.-.-.-.-

    TEIL 1 Im Portrait: Der Schulmeister am Dienstort

    Thematische Einführung:

    Worte einer Verabschiedung

    (Studiendirektor Ibisch verabschiedet am 02.07.1991 den Kollegen Schikore) {6}

    Lieber Herr Schikore!

    Wenn wir Sie heute aus unserer Mitte verabschieden, so verlässt uns in Ihrer Person nicht nur ein geschätzter Kollege, sondern – wie man heute so sagt – ein Zeitzeuge eines Abschnitts der deutschen Geschichte, der für Sie mit dem Ende der sogenannten „goldenen 20er" beginnt. Als Sie am 07. 06. 1929 geboren wurden, hatte sich Deutschland, so schien es, von Krieg und Inflation erholt, dunkle braune Wölkchen zogen zwar schon auf, waren aber noch nicht bedrohlich; doch ab Herbst 1929 zeigten sich Gewitterwolken einer Wirtschaftskrise von jenseits des Atlantiks, die unser Land dann schwer trafen. Was diese Wolken verursachten, schuf entscheidend die Voraussetzungen für die Zeitumstände, unter denen Sie 1939 Ihren 10ten Geburtstag begingen. Wenige Wochen danach begann der 2. Weltkrieg. Was das folgende Jahrzehnt Ihrer ausgehenden Kindheit und Jugend, für Deutschland, Europa, die Welt bedeutet, wissen wir alle aus Geschichtsbüchern. Für die älteren unter uns ist es erlebte, auch erlittene Geschichte, aber das Geschichtsbuch erzählt nichts über individuelle Schicksale. Gestatten Sie mir, das Ihrige hier ein wenig nachzuzeichnen.

    Mit 11 Jahren verlieren Sie Ihren Vater, „im Dienst für das Vaterland", wie man Ihrer Mutter schreibt. Sie erleben die ersten Bombenangriffe und sind, wie Kinder zu allen Zeiten, froh über schulfrei. Bei Ihnen allerdings wird es nach mehr als zweistündigem Fliegeralarm am nächsten Tag gewährt. Bombenalarm gehört für eine Reihe unter uns zu den Kindheitserinnerungen, aber nicht die für Sie bald erfolgende Ausbildung am Karabiner 98, am MG 42, an Panzerfaust und Panzerschreck. Osteinsatz Ende 1944 mit dem Bau von Panzergräben gegen die Rote Armee, Fronteinsatz in einer Marine-Infanterieeinheit zur Verteidigung Ihrer Heimatstadt Stralsund in den letzten Kriegstagen folgen. Sie kommen mit dem Leben davon, viele Ihrer Altersgenossen nicht.

    Im Sommer 1945 holt Sie 16jährig zum ersten Mal für einige Wochen die sowjetische Geheimpolizei (GPU, NKWD, KGB). Sie hatten ja eine Uniform getragen, Ihr Vater, Ihre Lehrer ebenfalls. Als man Sie wieder entließ, mussten Sie unterschreiben, dass Sie nicht schlecht behandelt worden waren.

    Aufgewachsen unter einem Regime, das den Zweifel an seinem Alleinvertretungsanspruch als todeswürdiges Verbrechen geahndet hatte und der nun folgenden Aufklärung, dass gerade das verbrecherisch gewesen war, konnte für Sie der Konflikt mit der neuen Macht nicht ausbleiben. Flugblätter, die sich gegen Übergriffe der Besatzungsmacht gegenüber jungen Leuten und gegen den Alleinanspruch der FDJ richteten, führten am 19.11.1948 dazu, dass der Unterprimaner Schikore mitten aus dem Mathematikunterricht abgeholt wurde und am 07.02.1949 in Greifswald von einem sowjetischen Militärgericht zum Tode verurteilt wurde. 19¾ Jahre alt – das Ende eines jungen Lebens? Vielleicht haben Sie in dieser Zeit häufig an Ihre Kameraden gedacht, die in den letzten Kriegstagen gefallen waren. Welche Lebensperspektive bot Ihnen denn die Abänderung des Todesurteils zu 25 Jahren Zuchthaus und Zwangsarbeit? Wieder in Uniform, nun einer gestreiften, mit grünem Querstreifen am linken Ärmel und rechten Hosenbein, verbrachten Sie unter der nichtssagenden Postanschrift Berlin N 4, Postfach 18 - 25 K; unter deutschem Kommando : BAUTZEN, Postfach 100, Personen-Nr. 70/A fünf Jahre im Zuchthaus, aus dem Sie am 16. 01. 1954 entlassen wurden.

    In West-Berlin wurden Sie als Spätheimkehrer anerkannt. Doch wovor standen Sie, als fast 25jähriger? Was hatten Sie denn gelernt? Während Sie Ihre Uniform trugen, waren zwei deutsche Staaten entstanden, boomte erstmals die Bundesrepublik, debattierte man über die Wiederbewaffnung, hatten wir anderen hier die Schule besuchen oder schon mit dem Studium beginnen können. Als Sie, aus Berlin ausgeflogen, mit Ihrer gesamten Habe, nämlich einem Pappkarton, in Hannover ankamen, standen Sie da nicht „draußen vor der Tür"? 1955 legten Sie in einem Lehrgang für Spätheimkehrer Ihr Abitur ab; begonnen hatte Ihre Schulzeit 1935.

    Nach dem Abitur haben Sie anfangs Theaterwissenschaften studiert – Sie haben bei Hilpert am Deutschen Theater kurz lernen können – dann Deutsch, Geschichte, Philosophie. Nach dem 1. Staatsexamen waren Sie ein viertel Jahr Moped-Kennzeichen-Versicherungs-fachmann bei der Gothaer Allgemeinen, kamen anschließend zum Vorseminar in Rinteln, von da zum Studienseminar Göttingen und sind nun seit Ihrem Assessoren-Examen seit April 1963 in Osterholz-Scharmbeck.

    Gesellschaftliche Veränderungen in der Bundesrepublik Ende der 60er Jahre zeigten Sie aufgeschlossen auch für Veränderungen in der Schule, für die Orientierungsstufe, für den Gedanken der Gesamtschule, als das Gymnasium und der Philologenverband, dessen Ortsgruppenvorsitzender Sie zeitweise waren, Ihnen nicht mehr zeitgemäß erschienen. Sie haben sich dann anders orientiert. Die Erfahrung hat Sie allerdings seitdem gelehrt, im Gymnasium moderner Form die Stätte zu sehen, in der am ehesten das Bildungsziel zu verwirklichen ist, das ich in Ihrem Sinne vielleicht in Kernsätzen so formulieren könnte: Die Qualität einer Schule wird in der harten hingebungsvollen Erziehungsarbeit des Tages geprüft. Auf der Wunschliste des Schülers steht obenan, etwas Sinnvolles fürs Leben zu lernen, gefordert zu werden, vor allem aber, gerecht behandelt zu werden. Die Schule ist die erste staatliche Instanz, mit der es der Schüler in seinem Leben zu tun bekommt. Es wäre eine Katastrophe, wenn er schon hier einsehen müsste, dass man sein Recht nicht bekommen kann, dass mit zweierlei Maß gemessen wird oder dass die Anforderungen zu billig oder zu hoch sind. Zu den verständlichen Schülerwünschen gehört aber auch Ordnung, die nicht Selbstzweck sein darf, sondern ermöglichen muss, dass zwischen den Teilnehmern am Schulleben ein Geist der Freundlichkeit wirken kann. Die Eltern haben das Recht, von den Lehrern eine angemessene wissenschaftliche und pädagogische Leistung zu fordern. Reform ist die Möglichkeit, die Formen, nicht jedoch die Grundsätze in Frage zu stellen. Leistungswille ist der Gegenpol zu geistiger Gammelei.

    Und so haben Sie in all den Jahren als engagierter Lehrer einen hohen Anspruch an Ihre Schüler gestellt, ob in Deutsch, Geschichte, Gemeinschaftskunde, Philosophie. Forderungen an die jungen Menschen zu stellen, Leistungen von ihnen zu verlangen und ihnen nicht die Illusion vorzugaukeln, in der Schule oder im Leben werde Nichtstun belohnt, war gleichrangig für Sie mit Förderung.

    Nach dem Eindruck älterer Leute – und das können die auch immer beweisen – lernt die jeweilige Jugend stets weniger als die Alten in ihrer Jugendzeit. Das mag ein Grund dafür sein, dass ich in Ihnen am Ende Ihres Schuldienstes einen entschiedenen Befürworter des Gymnasiums als der Schulform sehen, die die Forderungen der intellektuellen Bildung und der sozialen Bildung junger Menschen auch in Zukunft erfüllen kann.

    Die reformierte Oberstufe sah in Ihnen einen engagierten Verfechter. Ihre besondere Aufgabe wurde die Organisation des Abiturs. Über mehrere veränderte Auflagen der VGO mit einer Fülle dazugehöriger Erlasse und Verfügungen mussten Sie immer wieder Schüler und Eltern informieren, Kollegen beraten, und es hat immer geklappt, es sind keine Fehler unterlaufen, die uns vor das Verwaltungsgericht geführt hätten. Jeder Abiturient dieser Schule müsse über Ihren Schreibtisch, wie Sie einmal gesagt haben, und so hat kein anderer Kollege über die Jahre hinweg einen besseren Gesamtüberblick über unsere Abiturientenjahrgänge gewinnen können als Sie. Die Formen des Abiturs und besonders die Vielzahl von Abiturienten in den 80er Jahren haben Sie aber auch mit gewisser Wehmut an die ersten 10 Jahre Abitur denken lassen, als wir einfach mehr Muße und nicht diese Hektik für unser Tun hatten. Ich erinnere mich noch sehr genau und gern, wie wir beide uns vor mündlichen Abiturprüfungen zusammensetzten und jeden Prüfungstext eingehend besprachen. „Erwartungshorizont" – dieses Wort gab es noch nicht, praktiziert haben wir es lange vor seiner offiziellen Einführung. Diese Vorgespräche waren für mich immer auch befruchtende Fachgespräche.

    Wie fing eigentlich das Schulleben des Kollegen Schikore an einer höheren Schule an? Mit einem Wort: Hoffnungslos! Die Ferdinand-von-Schill-Schule, städtische Oberschule für Jungen in Stralsund, bescheinigte dem Schüler Klaus Dieter Schikore am Ende des dritten Vierteljahres 1940/41, dass er weder Mitarbeit noch Fleiß zeige, dass Deutsch, Englisch, Geschichte, Mathematik, Biologie mangelhaft, Erdkunde, Kunst, Handschrift vier seien, die Versetzung ausgeschlossen erscheine.  Und was steht am Ende dieses Schullebens? Die Arbeit des Leistungsfachlehrers im Fach Deutsch wird offiziell folgendermaßen beurteilt: ‚Die Korrektur ist eingehend, genau und sachgerecht. Aus dem Korrekturbild ergibt sich schlüssig die Bewertung. Die Gutachten verzeichnen Vorzüge und Mängel der Arbeiten zutreffend und genau. Sie sind in sich schlüssig. Das Leistungsniveau wird in den Bewertungen bei einem vorbildlich strengen Maßstab zutreffend erfasst. Ein Viertel aller Arbeiten zeigt ein beachtlich hohes Leistungsvermögen.‘ – Ist das nicht eine Spanne?! Davon zu erzählen, muss allen Hoffnungslosen Mut machen, das ist ein Beispiel, das aufrichten muss.

    Sie werden im Sommer für Wochen den festen Boden unter den Füßen aufgeben und auf einer Segeljacht die Ostsee durchkreuzen. Die Neigung zum Wasser liegt Ihnen offenbar im Blut: Schon Ihr Urgroßvater war Hafenmeister in Swinemünde, Ihr Vater fuhr im 1. Weltkrieg um Kap Hoorn. Das Meer ist hart, es verlangt und gebiert rauhe Typen, und wer hat nicht erfahren, wie unser Schiko manchmal poltern konnte, wie man sich an ihm reiben konnte, ja ganz gewaltig stoßen konnte!

    Aber wer hat eigentlich von einer ganz anderen Seite gewusst, die empfindsame Worte, zarte Lyrik zu formen weiß? Ich zitiere:

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    Es ist nicht wenig, was aus stillen Stunden davon vorliegt. Sie sollten ihn einmal darum bitten. Es eignet sich, wie ich gehört habe, auch ganz hervorragend für Interpretationsaufgaben!

    Sie haben, lieber Herr Schikore, sich gern als Schulmeister bezeichnet. Was steckte dahinter? Das Grimm’sche Wörterbuch sagt zu diesem Stichwort: 1. „In den Stadtschulen, wo man Latein lernt, ist das Wort verächtlich geworden. Deswegen haben Sie es wohl nicht gewählt. 2. „Der Schulmeister las das Buch durch, er las es noch einmal durch, er las von hinten nach vorn, er las es aus der Mitte, und er wusste nicht, was er gelesen hatte. Das passt wohl auch nicht. 3. „Gott will, man solle seine Schulmeister wie die Eltern in Ehren halten. Das könnte schon eher passen. 4. „Ein Schulmeister muss sein wie die Arche des Bundes im Alten Testament, denn in derselben war zwar die Rute des Aarons, aber auch das süßeste Manna. Das ist es: Es geht um Fordern und Fördern!

    Hat der Kollege Schikore auch außerdienstlich Eindrücke, Streiflichter hervorgerufen? O ja, z. B. als rasanter Tänzer, der für sich und seine Partnerin ungeheuer viel Platz brauchte, da er diagonal in großem Tempo die Tanzfläche zu durchmessen pflegte. Statt einer Tänzerin genügte ihm dafür auch nur ein Teller, der mit Köstlichkeiten eines kalten Büffets gefüllt war. Oder: Schon in reiferem Mannesalter bestieg er den 10-Meter-Turm im Schwimmbad und verließ selbigen mit einem wirklich vollendeten Kopfsprung. Die bewundernden Rufe der jüngeren Damenwelt konnte er wegen des Eintauchens ja nicht hören, aber die Blicke, als er das Wasser verließ!

    Lieber Herr Schikore, ich gebrauche nicht die Worte „Sie haben sich um die Schule verdient gemacht", denn die sind im politischen Bereich zu oft gesprochen worden und zu oft auch für Unverdiente, aber ich bin überzeugt und befinde mich sicher in Übereinstimmung mit den Anwesenden, wenn ich sage, dass 28 Schülerjahrgänge Ihnen zu Dank verpflichtet sind. Wir, das Kollegium, die Schule, werden ohne Sie ärmer sein. Ich wünsche Ihnen gemeinsam mit Ihrer lieben Frau noch viele Jahre eines bewegten, tätigen Ruhestandes.

    -.-.-.-.-.-.-.-.-.-

    1.1  Festreden aus besonderem Anlass des Gymnasiums OHZ

    1.1.1 Festrede zur Entlassung des Abiturjahrgangs am 24. 06. 1967

    (Klassenlehrer: StR. Schikore)

    Herr Direktor!

    Verehrtes Kollegium!

    Werte Gäste!

    Meine lieben Abiturientinnen und Abiturienten!

    Als Sie vor noch nicht Jahresfrist sich als kommende Oberprimaner in diesem Saale

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