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80 Jahre: Auf dem Weg zum stimmigen Ende
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80 Jahre: Auf dem Weg zum stimmigen Ende
eBook484 Seiten6 Stunden

80 Jahre: Auf dem Weg zum stimmigen Ende

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Über dieses E-Book

Dieses Buch lädt Sie ein, die Summe der Erfahrungen, Gefühle und Geschichten eines besonderen Lebens zu erkunden, das 1943 beginnt und nach 80 Jahren autobiographisches Erinnern mit tiefgreifendem Assoziieren verwebt. Es ist nicht nur ein Rückblick, sondern eine Reise der Selbstreflexion und des Neuerfindens des eigenen Lebenswegs.
Der Autor, ein Pionier der Palliativmedizin in Deutschland, öffnet die Türen zu seiner Lebensgeschichte und verbindet seinen Weg zur Medizin mit persönlichen und intimen Einblicken. Tauchen Sie ein in die Zeiten des Wandels, des Zeitgeschehens und der eigenen Entwicklung. Spüren Sie die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart und erfahren Sie, wie das Leben uns formt und prägt.
»80 Jahre: Auf dem Weg zum stimmigen Ende« erinnert uns daran, dass jeder Moment eine wertvolle Chance ist, das eigene Leben zu verstehen und zu erfahren. Erforschen Sie die Vergänglichkeit und die Bedeutung unseres Daseins inmitten der großen Geschichte der Menschheit.
Entdecken Sie den Weg zum stimmigen Ende. Dieses Buch lädt Sie ein, Ihr eigenes Leben zu betrachten, die Essenz des Lebens zu begreifen und den persönlichen Weg zu einem erfüllenden Ende zu finden.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum19. Mai 2023
ISBN9783347942622
80 Jahre: Auf dem Weg zum stimmigen Ende

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    Buchvorschau

    80 Jahre - H. Christof Müller-Busch

    70 bis 80 Jahre

    Unvollendetes Leben (2013–2023)

    Auch wenn ich die letzten Jahre als Zugabe empfunden habe (und jeden Tag weiter als Geschenk empfinde), spüre ich doch, dass der Blick auf die zurückliegende Zeit für mich immer bedeutsamer wird als die, die vor mir liegt. Die Intensität des Lebens und Erlebens in den letzten zehn Jahren hat gerade diese Phase besonders wertvoll und glücklich gemacht. Einen großen Anteil daran haben sicherlich die sieben Frauen, die mein Leben in der »sinkenden Phase« inzwischen untrennbar begleiten und bestimmen. Auch wenn ich nicht der engagierteste Großvater bin, sondern eher ein »Unruhestifter« im Ruhestand und mit vielen anderen Dingen beschäftigt, war es schon sehr berührend, dass meine Enkeltochter Matilda vor elf Jahren als eines der ersten Worte »Opa« sagte. Durch Matilda, Mira und zuletzt Martha – gerade noch rechtzeitig im Coronajahr 2020 geboren – sind es mit Ella inzwischen vier Enkeltöchter geworden, deren Entwicklung ich noch möglichst lange mit Freuden beobachten möchte. Ihre Lebenswege in eine ungewisse und – wie es derzeit scheint – keineswegs bessere Zukunft als die, auf die ich zurückblicken darf, beschäftigen mich bisweilen auch mit Sorgen und Ängsten.

    Viele Großeltern meiner Generation treibt in der Zeit des fortschreitenden Alters die Sehnsucht nach vergangenen Zeiten, der alten Heimat, nach Kindheit und Jugendzeit um. Kein Wunder, dass »zum Stift gegriffen« wird, um die Erinnerungen aufschreiben, nicht zuletzt auch, um die Zeit der Jugend wieder aufleben zu lassen, zumindest aber, um sie nicht zu vergessen. Wenn ich mir die Erinnerung ermögliche, erlaube und sie (mit-)teile, begebe ich mich auf eine spezielle kommunikative Reise in mir und mit euch, denn Erinnern bedeutet immer auch eine Spurensuche nach Tradition.

    Die Dichtigkeit von zehn Jahren Lebenszeit auf rund 30 Seiten zusammenzufassen, macht Kompromisse und Mut zur Lücke notwendig, erfordert Zeitsprünge und benötigt Assoziationsvermögen. Insofern sollen diese Erinnerungen auch eher Blitzlichter sein als detaillierte und vollständige Schilderungen von Erlebnissen. Persönliches, Privates, vielleicht auch Intimes, vermischen sich mit Information. Die Utopie vom berühmten Schriftsteller habe ich inzwischen ausgeträumt. Aber ich wünsche mir doch, dass meine Erinnerungen und biografischen Reflexionen etwas zum Verstehen des Lebens in seinen verschiedenen Phasen beitragen können.

    Nach der Auflösung des elterlichen Hauses in Neustadt habe ich mich nun endgültig von der pfälzischen Heimat getrennt. Geblieben sind über 100 Jahre sorgsam dokumentierte Familiengeschichte in vielen Kisten, die von den tradierten Werten der Eltern bestimmt wurde. Vor diesem Hintergrund habe ich die Pfalz, zu der ich eine eher ambivalente, vielleicht sogar herablassende Beziehung pflegte, immer seltener besucht, dafür umso häufiger das Wendland, aber auch den Thunersee und das Berner-Oberland. Herz, Geist, Seele und Körper finden in diesen Regionen immer wieder Inspiration – auch wenn meine sportlichen Leidenschaften, z. B. das Skifahren, und Ambitionen zur Selbstpflege in einer ernüchternden Bilanz relativiert werden müssen. Aber mittelmäßiges Golfspielen und Wandern geht ja noch.

    Geblieben sind mir aus der Pfalz neben den eher ungeliebten Kisten voller Familiengeschichte die Liebe zum Pfälzer Wein und einige Freundschaften in Berlin mit Mitschülern aus der Neustädter Schulzeit. Aller Distanz zum Trotz. Dazu gehören Christian, Gerhard und ganz besonders Richard. Vielleicht werden sie zu wenig gepflegt, weil mich der bilanzierende Blick und eigentlich auch die Sehnsucht zurück viel weniger beschäftigen als das Programm der Zugabe. Mit Richard organisierte ich eine spannende Ringvorlesung an der Humboldt Universität zum Thema »Krankheit, Sterben und Tod im Leben und Schreiben europäischer Schriftsteller«, deren Beiträge in zwei interessanten Bänden erschienen sind. In diesem Zusammenhang setzte ich mich noch einmal intensiver mit dem Leben und Sterben von Federico Angst auseinander, dessen unter dem Alias Fritz Zorn erschienener Bestseller »Mars« mich wie viele andere in den 70er Jahren fasziniert hatte. Immerhin haben meine Recherchen dazu geführt, dass das verschollene schriftstellerische Werk von Federico Angst wiedergefunden wurde und aktuell aufgearbeitet wird. Eine Dissertation dazu soll zu seinem 80. Geburtstag im Jahr 2024 erscheinen.

    Richard ist im Gegensatz zu mir ein erfahrener Autor, der über 60 Bücher publiziert bzw. auch selbst geschrieben hat – ein umfassendes publizistische Œuvre und Vermächtnis, von dem ich nur träumen kann. Er ist mir in den letzten 10 Jahren ein wichtiger intellektueller Inspirator geworden.

    Ein Beispiel für die Veränderungen des unvollendeten Lebens sind auch die Art wie Feste gefeiert wurden. Weihnachtsfeste waren lange Zeit meines Lebens ein Alptraum für mich gewesen und gerne übernahm ich dankbar als junger Arzt Dienste im Krankenhaus, die andere loswerden wollten. Mit Familie, Kindern, Richard, Christine und manchmal auch anderen Gästen wurden sie zum intellektuellen Event mit kulinarischer Herausforderung. Alte Geschichten wurden erzählt und wir philosophierten über Literatur, Kunst und Politik, doch mit Beginn meines Großvaterseins veränderten sich natürlich auch Rituale. Erst als Großvater bekamen sie eine freudige Bedeutung. Ich versuchte die Enkeltöchter mit familienbewusster Selbstverständlichkeit und sogar mit fantasieverliebter Begeisterung vom Christkind und vom Weihnachtsmann zu überzeugen, Verhaltensweisen, die ich mir früher nie vorgestellt hatte. Immerhin konnte ich in den letzten zehn Jahren das kleine rote Fähnchen als Besonderheit unseres – im Übrigen fantasievoll und meist von den Enkeltöchtern geschmückten – Baumes bewahren. Ich hatte es als Alternative zur glitzernden Christbaumspitze bei Rickis erstem Weihnachtsfest 1975 in der Schlüterstraße als symbolhaftes Zeichen des Protests eingeführt und seitdem als notwendigen Schmuck unseres Tannenbaums verteidigt. Wie anspruchslos dankbar sind Ricki und ich inzwischen geworden, wenn wir ganz selbstverständlich mit unseren Kindern, ihren Männern und den Enkeltöchtern im Wendland die Weihnachstage verbringen, auch wenn ich meistens am Computer sitze und mit irgendeinem Problem beschäftigt bin. Dazu gehört inzwischen auch das Weihnachtsrätsel aus dem Tagesspiegel, das regelmäßig für einige Stunden (manchmal aber auch einige Tage) den routinierten TagNacht-Rhythmus unterbricht, je nachdem, welche Schwierigkeiten des Rätsels mich herausfordern. Je schwerer, umso besser – unlösbar gibt es nicht!

    Mit dem Wendland verbinde ich die – sicherlich aus unterschiedlicher Perspektive durchaus wechselhaft erlebte – Geschichte des gemeinsamen Lebens mit Ricki ganz besonders. Das Haus ist Zuflucht und Ausgleich zugleich. In schwierigen Zeiten, die wir in Berlin und Herdecke durchlebt haben, konnten wir im wendländischen Splietau immer wieder zueinander und zu einem Miteinander finden. Inzwischen gehören die regelmäßigen Weihnachts-, Osterund Pfingstzusammenkünfte in Splietau zu den unverzichtbaren Ritualen einer familiären Verbundenheit, auf die wir uns nicht nur freuen, sondern auf die wir auch stolz sind. Bei aller Verschiedenheit unserer Charaktere bestätigen sie uns. In den letzten Jahren – besonders auch durch die Pandemie bedingten Beschränkungen – haben unsere Töchter mit Familie, besonders aber die Enkeltöchter, die Landluft des Wendlands für sich und viele ihrer Freunde entdeckt, sodass das Haus gut genutzt wird und – trotz seiner vielen Räume – für die Alten schon fast kein Platz mehr ist. Die Ausbauaktivitäten eines Abstellraums zu einer »Covid-Lounge«, die Maries Mann Mathis während des Corona Lockdowns in Splietau entwickelte, waren ein erster zaghafter Versuch, die Raumprobleme des Splietau-Projekts anzupacken. Mehr als 200 m² Wohnfläche genügen nicht mehr, wenn alle da sein wollen und auf unterschiedliche Art ihre Ruhe suchen. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass mir das Wendland für die »freie« Zeit des Alters einmal Heimat werden würde. Schließlich verbinden mich und uns mit dem Wendland tatsächlich auch genealogische Beziehungen, die mein Bruder Klaus schon vor sechzig Jahren herausgefunden hatte. Auch diese Zusammenhänge habe ich erst in den letzten zehn Jahren in den von meiner Mutter nach dem Tod von Klaus sorgsam gehüteten und archivierten Dokumenten entdeckt:

    Vorfahren meiner Großmutter mütterlicherseits, die Eggelings bzw. Ribocks, lebten vor rund 300 Jahren in Dannenberg, Quickborn und Gorleben, bis ein Postmeister im 18. Jahrhundert über die Zwischenstation Celle ins Rheinland umzog, um dort die BuschLinie meines Stammbaums mitzugründen. Einige Kisten des Nachlasses meiner Eltern werden in der Tenne in Splietau aufbewahrt und warten immer noch darauf, durchgesehen zu werden. Und auch die nach dem Tod von Klaus angefertigte Bronzebüste befindet sich in Splietau: Sie hat unter der großen Eiche im Garten einen angemessenen Platz gefunden, wo sie hoffentlich noch einige Jahre überdauern darf bis sie verwittert – Verlusterinnerung, die mich begleitet.

    Ich empfinde mein Dasein als Geschenk und Privileg. Versöhnung und Nachsicht, ganz besonders auch mit mir selbst, beschäftigten mich und werden immer mehr zu vorherrschenden Themen. Niemals habe ich die schwindende Zeit gleichzeitig so sehr als Gewinn und gleichzeitig als Verlust empfunden wie die der vergangenen zehn Jahre. Die Vorstellung, irgendwann als Großvater in eine Lebensphase zu gelangen, in der ich so intensiv Lebenslust und Lebensfreude empfinden würde wie jetzt, war mir zu Beginn meines Erwachsenenlebens ziemlich fremd. Nicht alt zu werden, war meine unerschütterliche Überzeugung, ja vielleicht sogar so etwas wie ein Lebensplan. Das glückliche Schicksal, im Laufe der Jahre zu einem von Weiblichkeit dominierten großelterlichen Leben mit zwei Töchtern und inzwischen vier Enkelinnen gelangt zu sein und seit fünfzig Jahren ein geteiltes Leben mit derselben Frau zu führen, gab mir Bestätigung, Sicherheit und Sinn. Andererseits beunruhigte mich die Normalität der Zufriedenheit. »War’s das jetzt?«, fragte ich mich immer häufiger in den letzten Jahren und auf verschiedenen Ebenen. Nicht Zweifel begleiteten mich, sondern der Drang nach Abenteuern. Gab es in der Gegenwärtigkeit der befristeten und unsicheren Zukunft noch etwas zu entdecken, auf das ich im Rückblick nicht geachtet hatte, oder etwas, das ich versäumt oder verdrängt hatte? Welche Höhepunkte wollte und konnte ich in diesem Leben noch finden? Meine letzten zehn Jahre sind zu einer Erfahrung geworden, in der meine Lust am Leben täglich weiter zuzunehmen scheint. Sie sind mit einer Geschwindigkeit zur Vergangenheit geworden, dass ich sie zu gerne nochmals leben würde! Ich weiß: Geht nicht. Sie waren, sind und bleiben mein unvollendetes Leben, Phase der Erkenntnis, Ernüchterung und Demut, aber auch der Neugier und Lust.

    Nicht nur meine sieben Frauen aus drei Generationen trieben und treiben mich voran. Gelassenheit und Begehren führten zu einem permanenten Spannungszustand. So empfinde ich die letzten Jahre trotz aller Einsichten, Erkenntnisse und Weisheiten, die sich mit dem Altsein eingestellt haben, tatsächlich eher als unvollendete Zeit. Mein Leben hat Fülle, Bedeutung und Sinn erlangt, die ich nicht verlieren, nicht missen möchte. Tod ist kein Thema, aber das Damoklesschwert befindet sich im Raum. Auch wenn ich keine Angst vor dem Tod habe: Zur »Unzeit« wär’s schon.

    Manchmal ergreift mich verständnisloses Bedauern über die Versäumnisse des Lebens, über ausgelassene Gelegenheiten. Wie viel, was könnte ich noch nachholen? Ja, könnte ich? Wirklich? Ob es eine typisch männliche Eigenschaft ist, wenn sich trotz nachlassender Kräfte gerade im fortschreitenden Alter gegen alle Vernunft (und wider alle Möglichkeiten …) sinnliche Gefühle regen? Die Träume, die mich als junger Mensch beschäftigten und fesselten, wichen im Laufe der letzten Jahre einer Ernüchterung, in der die Herausforderungen der Gegenwart mehr im Spiegel des bilanzierenden Rückblicks als, in dem der Spekulation auf die Zukunft betrachtet werden. Die Schritte wurden wichtiger als die Spuren, die sie hinterlassen.

    Ein weiteres Beispiel wie die letzten Jahre auch Erfahrungen des offenen Herzens aber auch des offenen Geistes wurden, waren die Herausforderungen in China. Im ersten Jahr meiner Einsätze für den »Senior Experten Service« (SES) in Shandong verzauberte die 19-jährige Chinesin Xue, eine attraktive Hostess, die morgens die Gäste des Hotels zum Frühstück begrüßte, mein einsames Herz. Natürlich war es eine unerfüllbare Romanze, wenn sich unsere Blicke in kaum überwindbarer Distanz mit einem schweigsamen Lächeln begegneten, vielleicht auch deshalb so romantisch, weil ein Rendezvous, ein Fehltritt oder gar ein Seitensprung sehr fern jeglicher Vorstellung oder gar Verwirklichung war. Blicke genügten vollkommen. Aber ich spürte, wie sinnliche Gefühle mich einerseits über 50 Jahre zurück in unerfüllte und unerfüllbare Sehnsüchte vergangener Jahre zurückschickten. Ich trug das Geheimnis der Blicke in mir. Als Ricki und ich im nächsten Jahr erstmals gemeinsam nach China fuhren und im selben Hotel untergebracht wurden, begrüßte Xue immer noch die Frühstücksgäste. Oder schon wieder? Und lächelte vertraut. Mit einem schamhaften Erröten und erleichtert bat ich Ricki um ein Erinnerungsfoto von Xue und mir. Die Schwärmerei eines alternden Mannes wurde dokumentiert. Im darauffolgenden Jahr war Xue nicht mehr da. Ich hörte nie wieder etwas von ihr.

    Die letzten zehn Jahre gehörten trotz nachlassender Manneskräfte und schwindender Fähigkeiten zur wertvollsten und intensivsten Zeit meines Lebens. Sie vergingen wie im Flug und ich frage mich oft, ob es das Bewusstwerden der Frist oder der Reichtum der Erinnerungen und damit verbundener Sehnsüchte ist, die mich immer noch neugierig sein lassen und sinnlich beschäftigen. Sind es die romantischen Altersutopien oder die alterskluge Vernunft, die das alternde Leben so lebenswert machen?

    Die Relativität der Zeit in den verschiedenen Abschnitten meines Lebens – sie beschäftigte mich immer wieder. Und inzwischen befeuert sie das Alter. Ob es Ambitionen nach Leistungsbeweisen sind oder die Suche nach neuen Abenteuern: Alles verfolge ich mit einer gewissen Ungeduld – warum soll es mir anders ergehen als anderen alternden Männern? Ich versuche, mich den Zeichen der Vergänglichkeit zu widersetzen, aber muss auch erkennen, dass Utopien und Träume im Alter eher Grenzen verdeutlichen, als dass sie verwirklicht werden möchten. Was kann ich noch hinterlassen? Zum Nobelpreis hat es nicht gereicht … Aber ich will doch noch einiges aus diesem letzten Lebensabschnitt herausholen. Ihm noch möglichst viele sinnliche Momente entlocken. Auch wenn ich ernüchternd feststelle, dass die belebenden Kräfte der Vergangenheit nachlassen, nicht mehr dieselben sind und abwägendes Entsagen sich mit Ansprüchen und Sehnsüchten vertragen muss, spüre ich in mir noch – durchaus erstaunt und nicht ohne Selbstgefälligkeit – das unruhige Herz eines Kindes, das sinnliche Begehren der Jugend und die Romantik des jungen Mannes, der ich nicht mehr bin.

    Ein Resultat dieses unruhigen Neubeginns waren zunächst die SES-Aktivitäten in China. Die sechs Reisen nach Shandong und Henan haben mich (und nach meinem ersten Einsatz als Palliativ- und Schmerzexperte in Rizhao) auch Ricki mit ihrer logopädischen und neurorehabilitativen Erfahrung in den letzten Jahren sehr begeistert. Zwar haben mir die Versuche, Chinesisch (oder besser: Mandarin) zu lernen, gezeigt, dass Lernwille und Lernfähigkeit im Alter durchaus in Konflikt geraten. Natürlich: Es gibt inzwischen diese wunderbaren Übersetzungs-Apps, die eine Verständigung mit Menschen aus anderen Kultur- und Sprachregionen erleichtern, zur Kommunikation allerdings sind sie nur bedingt bis gar nicht geeignet. Bei meinen Anstrengungen, die Grundlagen der chinesischen Sprache zu erlangen, machte sich mein Seniorenmalus doch schon deutlich bemerkbar. Ich mühte mich ab, ohne belohnt zu werden. Das System der chinesischen Grammatik ist eigentlich bestechend einfach und einleuchtend. Mit wenigen Wörtern kann man sich verständlich machen, wenn es nur gelingt, diese irgendwo im Gedächtnis gespeicherten Wörter abzurufen und richtig auszusprechen. Aber genau daran scheiterte es bei mir. Noch mühsamer wird es, wenn man auch die Schriftzeichen entziffern bzw. erinnern will, und so schaffte ich es bei aller Anstrengung leider nicht, auch über die landeseigene Sprache mit den Menschen in China zu kommunizieren. Trotzdem eine großartige Herausforderung und eine mich weiterhin beschäftigende Erfahrung.

    Während der meist drei- bis vierwöchigen Einsätze als SES-Experte konnte ich mich eindrucksvoll davon überzeugen, mit welch atemberaubender Geschwindigkeit die politische, technologisch-ökonomische und zivilisatorische Entwicklung in China in den letzten Jahren erfolgt ist. Keiner kann sich ihr entziehen. Die Aufenthalte in China haben meinen »westlichen« Blick auf die Welt relativiert. Ich war erstaunt, wie gut die Menschen, denen wir in China begegnet sind, über Deutschland Bescheid wussten. Auch wenn Europa und besonders Merkel-Deutschland von den Chinesen sehr geschätzt wurde, habe ich in China erstmals und zunehmend den Eindruck gewonnen, dass die Jahre der europäischen Dominanz in der Welt zu Ende gehen und sich die Machtkonstellationen auf unserer Erde wieder einmal verändern.

    In China bestehen zu grundlegenden Begriffen unseres Wertesystems andere Vorstellungen und auch andere Umgangsweisen. Beispielhaft anführen lassen sich hier das unterschiedliche Verstehen zu den in unserer Kultur mit Recht hoch bewerteten Begriffen wie individuelle Freiheit und Demokratie, Selbstverwirklichung, Rechte und Menschenrechte sowie geistiges Eigentum. Dafür haben Freundschaft, Harmonie, Achtung im Miteinander, Erziehung und Höflichkeit einen vielleicht höheren Stellenwert als bei uns. Zu den grundlegenden ethischen Prinzipien der konfuzianischen Philosophie bzw. Ethik gehören die Mitmenschlichkeit und die Sittlichkeit. Sie bestimmen auch heute noch das Leben und umfassen die Formen, Regeln und Pflichten der Etikette und der Konventionen. Und so stellt sich – trotz aller Kritik an den Totalitaristen – für mich die Frage, ob wir nicht auch vom heutigen China – besonders unter Berücksichtigung der Rehabilitierung früher geächteter chinesischer Traditionen, in denen zwar eine hierarchische Ordnung durchaus betont wird, – für unsere vielleicht zu sehr an den Entfaltungspotenzialen des Individuums orientierten Wertvorstellungen etwas lernen können.

    Leider haben die Corona-Pandemie, vielleicht aber auch die für europäische »Langnasen« immer schwieriger zu akzeptierenden politischen Entwicklungen mit einem machtvollen Nationalismus und schwer nachvollziehbaren Restriktionen von Informationen und individuellen Freiheitsrechten, zu einer ergebnisoffenen Zwangspause geführt, sodass ungewiss ist, ob es nochmals zu einer Fortsetzung dieser SES-Einsätze kommt. Diese wurden von den an Palliative Care in China sehr interessierten Kollegen vor Ort sicherlich geschätzt und haben zu eindrucksvollen Begegnungen und inzwischen auch zu friendships mit vielen Menschen geführt, die von uns achtsam mit WeChat gehütet und gepflegt werden. Als Geste der Anerkennung wurde mir vor einigen Jahren sogar die Ehrenbürgerschaft in der Provinz Shandong verliehen.

    Zum Neubeginn der letzten unvollendeten Jahre gehörte auch, dass Ricki und ich immer mehr Zeit am Thunersee verbrachten. Zunächst waren es nur drei bis vier Wochen jährlich, in den letzten Jahren sind die Fluchten ins »Haus Bärli« mit dem faszinierenden Panoramablick auf den See und die Oberländer Berge immer länger geworden, zumal sich die WLAN-Konnektivität in dem früheren »Funkloch« merklich verbessert hat. Im ersten Corona-Jahr 2020 wurden wegen der Lockdown-Maßnahmen aus den geplanten drei Wochen sogar fünfeinhalb Monate …

    In der Schweiz entdeckte ich das Wandern als Leidenschaft – oder genauer: das wandernde Lesen, das mich in den letzten Jahren mehrere Stunden täglich beschäftigt und gleichzeitig als Test für die Belastbarkeit meiner etwas insuffizienten Herzklappe auch einen gesundheitlichen Zweck erfüllt. Nach einem Skiunfall im Berner Oberland, den ich mit einer intensiven »außerkörperlichen Erfahrung« (out-of-body experience – OBE) verbinde, hatte ich es zwar wieder auf die geliebten Bretter zurückgeschafft. Doch die Skitage sind in den letzten Jahren – selbst an Sonnentagen und auf blauen Pisten – immer seltener geworden, zumal auch Rickis Lust am Schifoahrn merklich abgenommen hat.

    Auch wenn Berge und Schnee schön sind: Ich habe mich mit dem lesenden Wandern unabhängig von den immer seltener mit gutem Schnee bedeckten Pisten gemacht und wandere nicht nur in der Schweiz, sondern überall und wie ich es einrichten kann. 20 km oder 25 000 Schritte als tägliches Ziel werden zwar nicht immer erreicht, aber immerhin habe ich in den letzten dreieinhalb Jahren mehr als eine halbe Weltumwanderung hingelegt – natürlich mit erheblichem Verbrauch an Schuhen und nicht ohne Blasenpflaster. Der Strandweg zwischen Spiez und Faulensee, auf dem schon Sepp Herberger die deutschen – und vor allem Pfälzer – Fußballer 1954 zur Weltmeisterschaft fit machte, der Panoramaweg sowie der Spiezberg gehören zu meinen Lieblingsrouten in der Schweiz. Nach sicherlich weit über 1 000 Wanderungen kenne ich inzwischen fast jeden Stein und jeden Baum und doch entdecke ich immer wieder neue Blicke auf den See und die Oberländer Berge, die mich erstaunen, berühren, zum Innehalten zwingen. Die Bilder vermitteln ein Gefühl der Erfüllung, das mit Wehmut verbunden ist, aber auch mit Dankbarkeit und Demut. So ist mir der ererbte Flecken Erde am Thunersee nicht nur wegen seiner unbestreitbaren Schönheit ein kostbarer Rückzugs-, Kraftspende- und Ruheort geworden. Hier verbindet sich die Geschichte meines Lebens mit Gegenwartsfreuden und Sorgen, aber auch Zukunftsaussichten wie nirgendwo sonst.

    Wenn ich auf den See, die Wolken und die Berge, blicke, ergreift mich oft ein Gefühl vom Stillstand der Zeit, das die Ungeduld des Alterns beruhigt und das ich gerne noch eine Weile erleben möchte. In Berlin wandere ich auf den Straßen des Westends, häufig über den Olympiapark in die Murellenschlucht oder durch die Stadt, in den Tiergarten, durch den Grunewald, am Wannsee und an der Spree entlang. Und immer wieder treibt es mich auf Friedhöfe. Wenn ich einige Tage nicht auf dem Waldfriedhof Heerstraße – mein Favorit, auch weil er so gut erreichbar ist und so viele Geschichten erzählt – gewesen bin, fehlt mir etwas. Es gibt kaum einen Ort in Berlin, den ich in den letzten Jahren nicht auch zu Fuß erreichen wollte, erreichen konnte und auch immer noch zu Fuß erreichen kann! Ich spare mir die U-Bahn, wenn ich zum Bahnhof Spandau laufe oder in die Philharmonie …

    Allerdings wird das regelmäßige Wandern allmählich nicht nur mühsamer, sondern auch zum »Zeitdieb«, sodass ich nach weniger zeitaufwendigen Alternativen suche. Aber Stillstand – auch wenn ich ihn sehr genieße – kann ich mir als sinnvollen Lebensinhalt nicht vorstellen. So wurde und bleibt das Altern eine Auseinandersetzung mit bedrängender Zeit. Auch beim Golfspielen, das ich eigentlich nur im Wendland unregelmäßig praktiziere, bemerke ich inzwischen, dass die Steigerungsfähigkeit nachgelassen hat – eine durchaus ernüchternde und schmerzliche Einsicht. Ich bewundere die langen Abschläge von Marco, dessen Handicap inzwischen deutlich besser ist als meins. Ja, was soll ich schreiben? Die besten Jahre liegen hinter mir. Überrascht das?

    Natürlich gab es neben den erlebnisreichen SES-Reisen mit Einsätzen in China und einmal in Marokko auch weitere eindrucksvolle Reisen – es ist ja ein Privileg des gesunden Alters und der finanziellen Möglichkeiten, relativ spontan unterwegs sein zu können, um diesen Planeten kennenzulernen. Wir konzentrierten uns auf Europas Geschichte und Kultur. Die Erfahrungen der Reisen mit Achim und Renate nach Spanien, Italien und Griechenland, nach Wien, Salzburg, Krakau, Barcelona und Rom, teilweise zusammen mit unseren Berliner Freunden Sofie und Helmut gehören zu den schönsten Erinnerungen der letzten Jahre. Die Planungen der Reisen machten in der Phase der zunehmend verrinnenden Frist die Zukunft – nicht zuletzt durch Achims anregende, kulturgeschichtliche Vorbereitungen und Beiträge – immer wieder zum herausfordernden Planungsprojekt. In unserem System der unterschiedlichen Perspektiven und des Vielbeschäftigtseins waren gemeinsame Terminfindungen manchmal schwierig. Die große Kreuzfahrt über verschiedene Ozeane oder nur in die Fjorde Norwegens blieb auf der Strecke, allerdings nicht aus terminlichen, sondern vor allem aus ideologischen Gründen. Die gmeinsamen Reisen bleiben mit Bildern der Dankbarkeit im Gedächtnis. Mit Freunden geteilte Lebensfreude und gemeinsames Erleben sind ein Geschenk und soziale Erfahrungen, die dem Alter – trotz aller Einschränkungen – auch neue Dimensionen bringen. Während man unterwegs immer häufiger als älterer oder sogar alter Mensch erkannt wird, fühlt man sich selbst meist jünger. Für das Jahr 2026 haben wir uns in Barcelona zur geplanten Fertigstellung der Sagrada Família verabredet, deren Baubeginn immerhin ins Jahr 1882 zurückreicht. Allerdings hat die Corona-Pandemie zu einer weiteren Verzögerung der Fertigstellung geführt, sodass die Reisepläne der »greisen Alten« ins Wanken geraten. Aber auch das Unvollendete hat seinen Reiz. Ich verbinde allerdings mit diesen von sehr viel freundschaftlicher Verbundenheit geprägten Reisen nicht nur Dankbarkeit, sondern auch persönliche Flashbacks, die mich überrascht und beschäftigt haben: klerikale Kneipen der katholischen Priester in Rom 1963 und 1964, in denen es die besten und billigsten Spaghetti und kostenlosen Wein gab: »Sacro e profano«; ein Sonnenaufgang in Barcelona 1965 nach einer verliebten, kurzen Nacht mit Frühstück auf den noch schlafenden Ramblas; auf den Spuren Kafkas im Prager Frühling 1966, Laterna magica und eine weitere amour fou; bewegende Begegnungen mit Überlebenden des Warschauer Ghettos und DDR Oppositionellen 1989 in Auschwitz beim Erklingen des abgebrochenen Trompetensignals Hejnał in Krakau; die mich immer noch begleitenden Stigmata meiner klassisch humanistisch geprägten Schulzeit in den 50er Jahren beim Rezitieren der noch präsenten Eingangsverse der Odyssee im antiken Theater von Epidauros. Die meisten Flashbacks gab es allerdings bei Reisen nach Österreich, nach Salzburg und natürlich Wien – und es gibt sie noch, auch wenn sie in den letzten Jahren seltener geworden sind. Wen wundert es?

    Zum unverzichtbaren Element meines unvollendeten Lebens in den letzten Jahren gehörte auch das regelmäßige Arbeiten. Ich empfinde es, trotz mancher Anstrengungen z. B. der zunehmenden Schwerhörigkeit, auch als Privileg, weiterhin in der Fort- und Weiterbildung bzw. der Lehre aktiv sein zu können. Die Möglichkeit, meine Altenzeit selbstbestimmt mit Arbeit zu füllen, beschäftigt zu sein und auch Geld zu verdienen, ist eine für mich wichtige Form von Sinnfindung und Self Care geworden, nicht zuletzt wegen der Bestätigung und Anerkennung, die mir dabei entgegengebracht wird. Meine Vorträge und Seminare behandeln vorwiegend palliativmedizinische, algesiologische und ethische Themen, und ich freue mich, wenn ich einen vollen Terminkalender und Jahrespläne habe und als »alter, weiser Mann« eingeladen werde. Noch habe ich das Gefühl, dass ich etwas zu sagen habe, aber vielleicht ist es manchmal auch schon so, dass man mich NOCH etwas sagen lässt. Die Grenzen der eigenen Bedeutsamkeit zu erkennen und auch anzuerkennen, benötigt kritische Selbstreflexion, aber auch aufmerksame Berücksichtigung der Rückmeldungen anderer. Das Reisen mit der, immer wieder zu neuen Überraschungen aufgelegten, Deutschen Bahn, war lange eine willkommene Abwechslung des persönlichen, aber auch beruflichen Alltags. Inzwischen ist es eine eher lästige Angelegenheit geworden, ebenso wie der wechselnde Komfort der Hotelbetten, die keineswegs einheitliche Funktionsweise von Lampen, Fernsehern, Internet, Duschen und Wasserhähnen oder die unterschiedlichen Anordnungen und Regeln der Frühstücksbuffets. Die Lehrtätigkeit in Fallseminaren zur Erlangung der Zusatzbezeichnung »Palliativmedizin für Ärztinnen und Ärzte« oder im Curriculum »Psychoonkologie« brachte mich mehrfach im Jahr mit engem Zeitplan und wenig Zeit an die gleichen Orte, so nach Westerland, Bad Segeberg, Lübeck, München, Worpswede, Kassel, Hamburg, Hannover und natürlich auch Berlin, was die Akzeptanz der verschiedenen Übernachtungsbesonderheiten immerhin erleichterte. All das fördert Altersflexibilität, oder etwa nicht? Unterrichten ist trotz aller Routine immer wieder – und bleibt immer noch – eine spannende Selbsterfahrung, weil die Gruppen sehr unterschiedlich zusammengesetzt sind und sich Spezialisten aus verschiedenen Fachdisziplinen, mit unterschiedlichen Charakteren sowie Lernstilen begegnen. Nicht immer geht das reibungslos. Ich habe allerdings in den letzten Jahren gelernt, so auf interaktiven Austausch, kommunikatives Miteinander und – wenn es geht – kritische Selbstreflexion zu achten, dass meine Herzensbotschaften meistens auch angenommen und verinnerlicht werden. Gruppenarbeit an konkreten »Fällen«, Problem orientiertes Lernen und kollegialer Erfahrungsaustausch sind wesentliche Elemente meiner Didaktik geworden. Palliativmedizinische Fallseminare gehören inzwischen zu den Geheimempfehlungen der ärztlichen Weiterbildung, deren »Erfolg« sich häufig erst viel später zeigt, nämlich in der veränderten Herangehensweise an palliative Probleme: Es geht darum, den sterbenskranken Menschen im Blick zu haben und nicht nur die Symptome und Befunde seiner Diagnosen. Die Frage nach dem Verstehen berührt immer auch die Bereitschaft, etwas aus der Perspektive des anderen zu sehen. Diesen Hinweis habe ich von Hans-Georg Gadamer schon vor fast 60 Jahren in Heidelberg bekommen. Und seine Bedeutung gewinnt auch noch im Alter an Tiefe. Zu dieser Einsicht gehört wohl auch, dass der andere recht haben könnte. Auch diese Weisheit stammt von Gadamer.

    Besonders beschäftigt hat mich in den letzten zehn Jahren das Projekt eines Fernlehrgangs zur Palliativbegleitung, dessen inhaltliches Konzept ich zusammen mit einer kleinen Autorengruppe der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) für das Hamburger Institut für Lernsysteme (ILS) entwickelte. Grundlage dieses Lehrgangs war die Erkenntnis, dass das Thema »Palliativ« in alle gesellschaftlichen Bereiche hineinreicht und eigentlich niemand für sich allein stirbt. Die Idee dieses Fernlehrgangs war es, im Rahmen der von mir 2008 initiierten »Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland« das gesamtgesellschaftliche Bewusstsein zum Thema »Palliativ« zu fördern. Mithilfe von Lehrheften im Rahmen eines Fernlehrgangs sollen Wissen und Verständnis über die schwierigen und uns alle angehenden wichtigen Problemen am Lebensende verbreitet werden, Umgangsmöglichkeiten mit diesen Problemen aufgezeigt und die Angst vor der Konfrontation mit Sterbesituationen gemindert werden. Palliativversorgung und Palliativbegleitung sind nicht nur Herausforderungen für kompetente multiprofessionelle Teams, sondern gehen uns irgendwann im Leben alle an. Auch wenn die Startbedingungen für den Fernkurs nicht ganz einfach waren, hat sich dieses Projekt recht erfolgreich entwickelt, sodass mich die Kommentierung und Korrektur der Einsendeaufgaben der Studierenden inzwischen wirklich tagtäglich eine gewisse Zeit als »Fernlehrer« beschäftigt. Für fast vier Jahre von Frühjahr 2019 bis Winter 2022 fand ich in einer ehemaligen Teilnehmerin dieses Lehrgangs inspirierende Unterstützung bei den Vertiefungsseminaren in Hamburg sowie in den gemeinsam entwickelten Webinaren. Im »Team-Teaching« wurden die Seminare zu einem Highlight von prägender Begegnung und interprofessionellem Austausch, was uns die fast durchweg sehr positiven Rückmeldungen immer wieder bestätigten. Für 2023 wurden die Karten neu gemischt und ich stecke in Anpassungsprozessen, um gemeinsam mit ILS den Kurs für die weitere Zukunft neu zu strukturieren.

    Die Teilnehmenden des Fernlehrgangs stammen aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten und gesellschaftlichen Bereichen: von der Professorin bis zum Bauarbeiter, von der gerade examinierten Altenpflegerin bis zum berenteten Lehrer, was sich auch in der Bearbeitung der Einsendeaufgaben zu den sicherlich anspruchsvollen Lehrheften niederschlägt. Neben Beschäftigten in Gesundheitsund Sozialberufen sind es u. a, auch Gärtnerinnen, Sekretärinnen, Stewardessen, Polizisten, Banker, Busfahrer und Ehrenamtliche, die an diesem Kurs teilzunehmen. Viele kommen aus mir unbekannten Orten Deutschlands und des deutschsprachigen Europas, es gab sogar Teilnehmerinnen, die in Indien, Afrika und den USA lebten und sich mit diesem Fernkurs palliativ weiterbildeten. Es sind häufig sehr persönliche Erfahrungen mit Sterben, Tod und Trauer, die eine nähere Beschäftigung mit dem Thema »palliativ« anregen und begründen. Leider sind es oft besonders tragische Todesfälle, die für die Ausrichtung des eigenen Lebens bedeutsam werden. Und es ist trotz aller Zurückhaltung sicherlich eine gute und wichtige Aufgabe, sich in der Vorbereitung auf die Hilfebedürftigkeit und evtl. auch das Sterben im persönlichen Umfeld mit palliativen Möglichkeiten und Prinzipien zu beschäftigen. Häufig habe ich in den letzten Jahren die Erfahrung gemacht, dass Gespräche, wenn ich mich als »Palliativexperte« geoutet habe, sehr rasch in eine persönliche Richtung und vertrauensvolle Intimität gelaufen sind.

    Palliativ geht uns alle an. Der Tod lauert immer und ist ein Lebensbegleiter, der uns immer wieder überrascht. Deswegen ist es gut, sich frühzeitig mit manchen Fragen zu beschäftigen, die wir gerne von uns schieben. Auch das Thema Demenz ist inzwischen ein Erfahrungsbereich, dem sich kaum noch jemand entziehen kann und für den palliative Aspekte wichtig sind.

    Mein gelebtes Leben der unvollendeten letzten 10 Jahre hat einen Rhythmus gefunden, mit dem sich die rasch verfließende Restzeit gut ertragen lässt: ohne Notwendigkeit nicht zu spät aufstehen, zwei Stunden Tagesspiegel, gelegentlich auch die TAZ lesen und aktuelles erledigen, Rickis Bedürfnis nach einem rechtzeitigen, biogerechten und schmackhaften Essen gerecht werden, mit der Wetter-App zwei bis drei möglichst regenfreie Stunden zum auditiven Wandern finden, die Zeit (die mir immer häufiger fehlt) für Arbeiten am Computer, für Kommentare, Korrekturen, Steuererklärung, Korrespondenzen optimal nutzen, soziale Kontakte, Austausch und Freundschaften pflegen, die meist viel zu kurzen, aber manchmal auch sehr langen Abende mit Konzerten, Kultur, Kino oder TV (zumeist reicht‘s nur für Markus Lanz) füllen, bis ein oder zwei Gläser Rotwein (im Sommer auch Rosé) das Einschlafen erleichtern. Auch wenn die Tage mit Aktivitäten rasch verfliegen, erscheinen sie – nicht zuletzt durch die pandemiebedingten Veränderungen der sozialen Kommunikation – leerer, aber auch flüchtiger als früher. Nichts wird wirklich versäumt. Mit Videokonferenzen, Online-Vorträgen und Webinaren vergeht die Zeit oft schneller als früher, und doch bleibt immer etwas, was man vermisst.

    So richtige Höhepunkte bringen die Tage nicht mehr und die Nächte haben ihre lustvolle Faszination verloren – eher Zwischenstationen mit Unterbrechungen. Die Attraktivität des tiefen traumlosen Schlafes wechselt mit Phasen halbwachen Wartens, fantasievollen Erinnerns und bilanzierenden Grübelns. Auch wenn ich mir noch nicht vorstellen kann, die Zeit des unvollendeten Lebens mit weniger Aktivitäten zu füllen, kann ich nicht leugnen, dass der Anteil der rezeptiven Aktivität in Relation zur produktiven Aktivität allmählich zunimmt. Im bescheidenen Mikrokosmos eines eher auf eine längere Frist hin orientierten alternden Menschen sind die 24 Stunden eines Tages auch zu einer Herausforderung geworden. Die Routine der Bewältigung schafft Zufriedenheit – auch wenn die Produkte weniger wertgeschätzt und anerkannt werden als die Anstrengungen, die mir die Aktivitäten bereiten. Der Traum vom Ruhm und der geschichtlichen Bedeutsamkeit meines Lebens ist einer realistischen Einsicht und gesunden Bescheidenheit gewichen. Ich lebe, also bin ich! Während es in den ersten Aktivitätsjahren der 70er eher versäumte Gelegenheiten, nicht wahrgenommene Chancen oder vielleicht schon verlorene Fähigkeiten waren, die mich beim Zurückblicken wehmütig machten, konzentriert sich mein Blick heute viel mehr auf die Gegenwart, auf Augenblicke. Es sind weniger persönliche Erwartungen, Sorgen und Ängste, die mich beschäftigen, als die Hilflosigkeit, mit der sich die Gegenwart der Kontrolle entzieht: Die Aussichten in die Zukunft sind eigentlich nie so ungewiss und trübe gewesen wie gerade jetzt. Klimaund Corona-Krise, der Niedergang demokratischer Errungenschaften und der die Welt erschütternde Krieg Putins gegen die Ukraine haben zu einer Wende geführt, in der ich im Rückblick auf mein bescheidenes Leben nur feststellen kann: Die besten Jahre liegen hinter uns. Die Selbstverständlichkeit der Gewöhnung und die Zweifel, dass es statt nationalistischer Machtinteressen doch noch gemeinsame Anstrengungen zur Gestaltung einer lebenswerten Zukunft geben wird, bedrücken mich. Wenn ich bei unseren Enkeltöchtern Ella, Matilda, Mira und Martha ihre Art der Entdeckung und Aneignung der Welt beobachte, erfüllt mich eine sehnsüchtige Wehmut und manchmal der Wunsch, für die frühe Lebensphase meines Lebens eine erneute Chance zu bekommen. Die Zeit der Kindheit, in der das bedingungslose Wollen im Vordergrund steht, vergeht zu rasch. Und wenn ich sehe, wie mit der Entwicklung des Fühlens und Denkens die Herausforderungen, sich in dieser Welt auch zurechtzufinden, nicht einfacher werden, wird mir der durch großväterliche Erfahrungen auch geprägte Blick auf mein letztes Lebensjahrzehnt besonders bewusst. Wie stolz und fast verlegen macht es mich, wenn ich als Großvater von meinen Enkelmädchen geliebt und respektiert werde, auch wenn ich es selten geschafft habe, ausdauernd mit ihnen zu spielen, zu basteln oder zu musizieren. Leider kann ich ihnen – was ich mir noch mehr unter einem guten Großvater vorstelle – auf ihre vielen Fragen keine guten oder zumindest befriedigenden Antworten geben und die Welt so erklären, dass meine Einsichten ihren Lebensweg sicherer machen. Die Lebensfreude, die mir in den letzten Jahren Ella, Matilda, Mira und Martha geschenkt haben, ist für mein großväterliches Leben eine größere Bereicherung geworden als die, die ich meinen Enkeltöchtern geben konnte. Es sind wirkliche Highlights des Glücks, mit ihnen im Wendland oder in Berlin in die Eisdiele zu gehen, und ihre Freude zu sehen, wenn es mir gelingt, ihnen mit einer kleinen Überraschung Wünsche zu erfüllen. Ihr Leben in die Zukunft auch materiell ein wenig zu unterstützen, ist mir wichtig und macht mir auch Mut in dunkleren Stunden. Wie anders waren die Bedingungen meiner Kindheit und meine Art, mich in dieser Welt zurecht zu finden. Wie schon erwähnt, sind meine beiden Großväter vor meiner Geburt gestorben, ich habe sie also nie bewusst erlebt. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass sie erwähnt wurden. Und in der Wirklichkeit meiner Kindheit und Jugend spielten sie allenfalls als Fiktion eine Rolle. Insofern sind meine Enkelinnen ein besonderes Geschenk, durch das mir in den letzten zehn Jahren die Erfahrungen meiner großvaterlosen Kindheit und Jugend ins Bewusstsein gekommen sind. Die fehlenden Vorbilder erklären aber auch, warum aus mir kein übermäßig talentierter Großvater geworden ist. In meiner Kindheit gab es zwar Großmütter, aber wenn es um Vorbilder ging, dann konnte und sollte dies nur mein Vater sein.

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