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eBook575 Seiten8 Stunden

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Über dieses E-Book

Menschen verschwinden spurlos in Thailand - welche Rolle spielt ein mysteriöses Internetforum?
Unternehmer Colati steht vor einem Rätsel. Sein durch Thailand reisender Sohn ist seit Wochen nicht mehr erreichbar. Er bittet Max Tillmann, der geschäftlich nach Bangkok fliegt, um Hilfe. Doch die Suche nach dem Filius gestaltet sich schwieriger als gedacht, denn niemand will etwas von seinem Verbleib wissen.
Durch Zufall entdeckt der IT-Experte Spuren des Sohnes in einem Internetforum, dessen User nur aus einem Grund das Land bereisen. Max stößt dabei auf eine Gruppe deutscher Emigranten, die Restaurants und Nachtklubs im Herzen des Rotlichtmilieus betreiben. Er ahnt nicht, dass sie ein schreckliches Geheimnis umgibt. Seine Nachforschungen führen ihn immer tiefer in das schmutzige Sex-Gewerbe, bis er selbst ins Visier eines Mörders gerät, der nichts mehr zu verlieren hat.

Mit dem ersten Teil des dreiteiligen Erotikthrillers #LoSt beginnt die atemberaubende Jagd nach einem Serienkiller, der in Thailands Hotspots sein Unwesen treibt.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum19. Dez. 2021
ISBN9783755703525
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Autor

Andi Rock

Andi Rock, 1966 in Reutlingen geboren, lebt in Süddeutschland und arbeitet als Spezialist in einem IT-Unternehmen. In seinem zweiten Roman bedient sich der Weltenbummler erneut der Vermischung bedeutender geschichtlicher Geschehnisse mit fiktionaler Erzählung und erreicht dadurch eine völlig eigene Sicht auf die Ereignisse.

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    Buchvorschau

    LoSt - Andi Rock

    KAPITEL 1 - PARADIES

    Samstag, 27. Juli 1985

    »Das Paradies befindet sich auf Erden und es ist nicht mal weit dahin.« Thomas lächelte über seinen Wortwitz, als er die Obere Laube überquerte und den Lutherplatz betrat. Oder war es doch die Untere Laube?

    Genau an dieser Stelle war der fließende Übergang der beiden Straßen. Kurioserweise lag die Obere Laube südlich und führte zur Schweizer Grenze, während die Untere Laube nach Norden in Richtung Rheinsteig verlief. Komisch, dass ihm das noch nie vorher aufgefallen war.

    Er überquerte den Lutherplatz in Richtung Gottlieber Straße. Es war ein traumhafter Sommertag in der letzten Juliwoche des Jahres und Thomas lief links um die Kirche herum, da sie auf der Südseite noch keinen Schatten warf. Die ersten Sonnenstrahlen des frühen Tages waren herrlich, schon in zwei Stunden würde an dieser Stelle eine drückende Hitze herrschen. Aber das mochte er gerne. Er liebte die Sonne und er hoffte, eines Tages irgendwo zu leben, wo das ganze Jahr über Sommer war. Es war eine Art Lebensziel und Thomas hatte in seinem Notizbuch eine einfache Rechnung dafür aufgestellt. Drei Millionen Mark auf dem Konto war die Benchmark, dann er konnte ein Leben auf der Sonnenseite führen, wo immer dieser Ort dann sein wird.

    »Und dazu fehlen nur noch drei Millionen«, schmunzelte Thomas, als er über den Platz lief.

    Er hatte noch nichts von der Welt gesehen und bisher sein ganzes Leben in Konstanz verbracht, trotzdem träumte er wie jeder Zwanzigjährige, von einer sorgenfreien Zukunft auf einem eigenen, schönen Fleckchen Land.

    Westlich der Altstadt betrat er den Stadtteil Paradies, der nach einem Nonnenkloster benannt wurde, das hier im 12. Jahrhundert ansiedelte. Auch wenn das Kloster nicht lange in Konstanz blieb und schon wenige Jahre später wieder aufgelöst wurde, so blieb doch der Name erhalten und alle Bewohner antworteten immer stolz auf die Frage nach ihrem Wohnort: »Wir wohnen im Paradies.«

    Nach etwa zweihundert Metern bog er links in die Schulthaißstraße ab. Hier wohnte sein Freund Fred mit seinen Eltern und seinem Bruder. Eigentlich hieß Fred richtigerweise Alfred, aber das klang ihm zu altmodisch. Fred dagegen war ein kurzer, hipper Name, den man gelegentlich mit Freddy aufpeppen konnte.

    Thomas traf Fred jeden Samstagmorgen nach Sonnenaufgang, um gemeinsam auf den Bodensee zu fahren. Freds Vater hatte ein motorisiertes Kleinboot am Bootssteg liegen und Fred durfte dies benutzen, wenn er Lust dazu hatte, wovon sie im Sommer schon seit Jahren häufig Gebrauch machten. Es war nichts Besonderes, aber vier Personen hatten darauf bequem Platz. Man durfte es ohne Führerschein fahren und der kleine Außenbordmotor machte bis zu fünfunddreißig Kilometer in der Stunde.

    Für Fred und Thomas war es ideal. Sie fuhren meistens an eine ruhige Stelle oberhalb vom Hörnle, wie die Einheimischen das Strandbad Horn liebevoll nannten. Dort badeten sie, sonnten sich und redeten über ihre goldene Zukunft.

    Thomas und Fred waren seit der Kindheit miteinander befreundet. Sie besuchten dieselbe Grundschule, wechselten gemeinsam auf das Gymnasium und machten auch ihr Abitur zusammen. Fred wollte im Anschluss studieren gehen, aber er konnte sich nicht so richtig entscheiden, was seinen Neigungen entsprach. Sein Vater schlug vor, dass er Medizin studieren solle, aber Fred konnte sich damit nicht anfreunden. Mit Verletzungen, Blut und Leid konnte er nicht gut umgehen. Er präferierte stattdessen eher ein technisches Studium, aber eine endgültige Entscheidung hatte er noch nicht getroffen. Seit letztem Sommer jobbte er gelegentlich und informierte sich an diversen Hochschulen über die verschiedenen Studiengänge. Seine Eltern und sein älterer Bruder Winfried lagen ihm diesbezüglich fast täglich in den Ohren, aber Fred ließ sich Zeit.

    Thomas dagegen begann letzten Sommer eine Lehre zum Hotelfachmann. Er ergatterte einen der begehrten Ausbildungsplätze im renommierten Hotel »Am Seeufer« und hatte gerade sein erstes Lehrjahr beendet. Nach der Ausbildung wollte er im väterlichen Gasthausbetrieb einsteigen und dort seine ersten Berufserfahrungen in verantwortlicher Stelle sammeln.

    Ob das auf Dauer gut ging, war sich Thomas allerdings nicht so sicher. Er hatte ein angespanntes Verhältnis zu seinem Vater und immer wieder kam es zu Konflikten. Seine Mutter war schon früh verstorben, Thomas war gerade acht Jahre alt und sein Vater tat sich schwer, neben dem anstrengenden Gasthausbetrieb noch einen heranwachsenden Sohn um sich zu haben. Er war eigentlich immer gereizt, und wenn es ihm zu viel wurde, reagierte sich sein Vater bevorzugt auf seinem Hinterteil ab. Irgendwann wurde ihm die Doppelbelastung zu viel und er suchte sich eine neue Frau. Er fand sie in einer Bedienung namens Agnes, die am Wochenende im Gasthaus arbeitete. Als Thomas zwölf Jahre alt war, heirateten die beiden.

    Das Leben wurde für Thomas dadurch nicht leichter. Agnes war bewusst, dass Thomas eines Tages den Betrieb erben würde und aus diesem Grund war sie zutiefst eifersüchtig auf ihn. Eine Zeit lang versuchte sie, selbst schwanger zu werden, was aber misslang.

    Sie war Thomas gegenüber immer misstrauisch und das übertrug sich auch auf seinen Vater. Er hatte immer ein waches und übersensibles Auge und regelte jede Verfehlung mit seinem Gürtel. Dies endete zwar zu seinem achtzehnten Lebensjahr, aber das Verhältnis blieb dank Agnes angespannt. Trotzdem hatte Thomas die Hoffnung, nach seiner Lehre in den Betrieb einzusteigen und ihn in einigen Jahren ganz zu übernehmen. Wenn er erst in absehbarer Zeit vollwertig mitarbeitete, würde sich das Verhältnis zu seinem Vater bestimmt normalisieren.

    Thomas und Fred hatten beide keine Freundin und verbrachten ihre freie Zeit am liebsten zusammen. Im Sommer fuhren sie jeden Samstag sehr früh auf den See und blieben dort bis zum Nachmittag. Das Boot lag an der Außenmole, die man von der Hafenstraße aus betrat und deren nördlichster Zipfel fast bis zum historischen Zollhaus in der Altstadt, nahe dem Konzil, reichte. Von Freds Wohnung aus war das Boot zu Fuß in etwa zehn Minuten erreichbar. Nahe genug, um eine kleine Kühltasche mit Snacks und Getränken mitzunehmen.

    »Hast du morgen Zeit«, fragte Fred. »Es soll wieder heiß werden und wir könnten noch mal schwimmen gehen.« Er fragte immer, dabei kannte er die Antwort.

    »Nein, morgen geht es nicht«, antwortete Thomas. »Morgen ist Sonntag, einige Gäste reisen am Vormittag ab und dafür kommen am Nachmittag Neuankömmlinge ins Haus. Da gibt es immer viel zu tun. Zudem haben wir sonntags beim Mittagstisch immer brechend voll, da muss ich im Gasthof helfen, sonst rastet mein Vater aus.«

    Was Thomas nicht erwähnte, war, dass er auch aus Eigeninteresse am Sonntag nicht ausging. An diesem Tag gab es die meiste Arbeit und in Thomas´ Lebensplan war dies eine gute Gelegenheit, seinem Vater zu zeigen, dass er sich auf ihn verlassen konnte. Außerdem fühlte er sich schon ein bisschen wie der zukünftige Inhaber und sonntags lernte er am meisten dazu.

    »Aber wie soll das ein arbeitsloser Schulabgänger wie Fred wissen«, tröstete sich Thomas über den Verzicht hinweg.

    Sonntag, 28. Juli 1985

    Tatsächlich reiste an diesem Tag eine einzige Familie ab und ein neuer Gast übernahm das Zimmer. Er hatte sich aber erst um siebzehn Uhr angekündigt, daher war genug Zeit das Zimmer vorzubereiten. Anreisende waren oft hungrig, vermutlich wollte er noch zu Abend essen, aber ihr Gasthaus hatte sowieso bis zweiundzwanzig Uhr warme Küche, von daher war dies kein Problem. Sonntag Abend waren im Gasthaus nie viele Besucher, im Gegensatz zur Mittagszeit, wo es meist brechend voll war und seine Hilfe dringend benötigt wurde. Glücklicherweise spürten sie in Konstanz keine größeren saisonalen Auswirkungen. Die Stadt war, auch außerhalb der Ferien, ein attraktives Reiseziel und ihr kleiner Betrieb brummte auch in den übrigen Jahreszeiten. Der Gasthof war das ganze Jahr über profitabel, was regelmäßige Sonntagsarbeit für Thomas bedeutete.

    Sie verabredeten sich erst wieder am kommenden Samstag, die Wetterlage sah in der Vorhersage weiterhin gut aus und das momentane Hoch schien stabil über Süddeutschland zu verweilen. Fred war Absagen schon gewohnt und nahm es ohne Protest hin.

    Am Abend kam der neue Gast an. Es war ein junger Mann, vielleicht Ende zwanzig, der auffällig gut gekleidet war. Er trug eine schwarze Hose, ein graues Sakko, dazu ein hellblaues Hemd, nur die Krawatte fehlte. Er erinnerte Thomas an einen Versicherungsvertreter. Er war sehr höflich bei der Anmeldung und füllte das Anmeldeformular sorgfältig aus. Thomas wunderte sich nur einmal, als er bei der Spalte mit dem Geburtsort verstohlen auf seinen Reisepass blickte und erst danach als Ort Frankfurt eintrug.

    »Das sollte eigentlich nicht so schwer zu merken sein«, dachte Thomas und unterdrückte ein Grinsen.

    Der Gast hatte zwei große Taschen bei sich und eine Umhängetasche, die er über der Schulter trug. Thomas wollte mit dem Gepäck helfen, aber er lehnte das Angebot ab.

    »Ihr Auto können sie im Hof parken«, erklärte er ihm.

    »Ich bin nicht mit dem Auto hier«, antwortete der Fremde kurz angebunden.

    »Komisch«, dachte Thomas. Ein Taxi hatte er nicht wahrgenommen und für den Fußweg vom Bahnhof zum Gasthof, war es ganz schön viel Gepäck. Aber das musste ja nicht seine Sorge sein. Der Gast nahm den Schlüssel entgegen und lief die Treppe nach oben zu seinem Zimmer. Thomas schaute sich den Anmeldebogen an. Der Name des Gastes war Hannes Schmidt.

    Seit letztem Sommer hatte Thomas ein eigenes Auto. Sein Vater hatte ihm dies zum erfolgreichen Abitur gekauft und natürlich als Gegenleistung, für seine vielen Wochenendeinsätze im Gasthaus. Er hatte zwar einen schwierigen Charakter, aber zuverlässige Arbeit schätzte er durchaus und dies war auch das einzige Thema, wo Thomas seinem Vater manchmal näher kam. Er kaufte Thomas einen Fiat 128, Baujahr 1973, dunkelgrün und ließ als Extra ein kleines Autoradio mit Kassettenrekorder einbauen. Sein Vater hatte entweder keine Ahnung von Automobilen oder einen merkwürdigen Sinn für Humor. Aber Thomas schätzte den guten Willen.

    Im Gegensatz dazu kaufte Freds Vater seinem Sohn einen neuen VW Golf, auf den Thomas immer neidisch blickte, vor allem wenn Dampf aus der Motorhaube seines kleinen Italieners aufstieg. Sein Viertürer hatte allerhand Überraschungen zu bieten und Thomas merkte schnell, dass es von Vorteil war, immer einen Kanister Kühlwasser im Kofferraum mitzuführen. Gefühlt verbrauchte er auf einhundert Kilometer so viel Wasser wie Superbenzin, was natürlich übertrieben war, aber schon mehrfach musste Thomas anhalten und den dampfenden Kühler mit Frischwasser versorgen, da sich das alte verflüchtigt hatte. Zudem verfügte er über eine Gangschaltung, die man ohne entsprechende Übung kaum beherrschen konnte. Nur wenn man den Trick kannte, gelang es, den Rückwärtsgang einzulegen. Dazu musste man den Hebel stark nach unten drücken, erst dann konnte man die richtige Position finden, aber auch nur, wenn der Schaltvorgang exakt ausgeführt wurde.

    Thomas kannte niemand anderen, der den Fiat auf Anhieb fahren konnte. Sein Vater gab nach einigen Versuchen fluchend auf und auch Thomas selbst verzweifelte hin und wieder daran. Fred tröstete ihn mit der Tatsache, dass dieses Auto ganz bestimmt nie jemand stehlen würde. Er ahnte nicht, dass er Thomas damit eigentlich deprimierte.

    Montag, 29. Juli 1985

    Die Woche begann früh, denn Thomas hatte Berufsschule. Eigentlich gab es im Sommer keine reguläre Schule, aber Thomas belegte einige Lehrgänge zum Thema Hotelmanagement, wofür ihn sein Arbeitgeber dankenswerter Weise freistellte. Lernwillige Angestellte fanden im Hotel »Am Seeufer« immer ein offenes Ohr und Thomas wusste dies zu schätzen.

    Allerdings musste er dazu bis nach Tettnang fahren, denn hier war die Landesberufsschule für das Hotel- und Gaststättengewerbe. Tettnang war über fünfunddreißig Kilometer entfernt und für den kürzesten Weg, musste er in Konstanz die Fähre nach Meersburg nehmen. Auf dem Landweg wäre die Fahrt um ein Vielfaches länger ausgefallen, aber auch auf dem kürzesten Weg war er fast neunzig Minuten unterwegs, bis er an der Schule ankam.

    Thomas biss in den sauren Apfel, nur hier konnte er die notwendigen Zusatzqualifikationen erwerben, die es im Berufsbild Hotelfachmann gab. Von daher nahm er die Fahrt gerne auf sich, zumal sie nur alle zwei Wochen nötig war. Allerdings begann der Montag dadurch schon um sechs Uhr in der Früh. Da der Unterricht um acht Uhr startete, hatte Thomas wenig Zeit für Duschen und Frühstücken. Meistens nahm er nur ein Brötchen aus dem Korb, der eigentlich für die Gäste vorgesehen war, und belegte es mit Wurst. Am liebsten mochte er Leberkäse, aber an diesem Montag musste er sich mit Lyoner zufriedengeben, da Agnes noch nicht zum Einkaufen gekommen war.

    Er aß sein Brötchen hektisch auf dem Weg zur Anlegestelle der Autofähre, die sich im fünf Kilometer entfernten Stadtteil Staad befand. Wenn er nicht bummelte, erreichte er meistens die sechs Uhr fünfunddreißig Fähre, im Notfall musste er eben auf die sechs Uhr fünfzig Überfahrt ausweichen. Fünfzehn Minuten dauerte die Fahrt von Ufer zu Ufer. Die Hin- und Rückfahrt kostete vierzehn Mark fünfzig und wurde glücklicherweise von seinem Arbeitgeber bezuschusst. Als Gegenleistung für die Freistellung und finanzielle Unterstützung half Thomas hin und wieder nach Dienstschluss im Hotel aus, wenn Not am Mann war.

    An diesem Montag war Thomas etwas zu spät dran, sodass er die erste Fähre nicht mehr erreichen konnte. »Dann muss mein grüner Blitz eben auf der Straße die Zeit aufholen«, dachte Thomas mit einem Schmunzeln. Ehrlicherweise war er immer froh, wenn er das Ziel ohne Schieben und Pannendienst erreichte.

    Als er zu seinem Auto auf dem Parkplatz lief, sah er Hannes Schmidt an der Ausfahrt stehen. So wie es aussah, studierte er eine Straßenkarte. Thomas fragte ihn, wo er den hinwollte und ob er ihm behilflich sein konnte.

    »Ich möchte nach Friedrichshafen zum Flughafen. Kannst du mir den besten Weg zeigen?«

    »Sie müssen hier übersetzen …« Thomas zeigte ihm den Weg auf der Karte.

    »Du kannst ruhig du sagen, so viel älter bin ich auch nicht. Ich heiße Hannes, aber Freunde nennen mich Hans.«

    »Gerne«, sagte Thomas, der sich wieder über die Karte beugte. Da hatte er eine Idee.

    »Wenn du willst, kann ich dich mitnehmen. Ich fahre nach Tettnang und komme direkt am Flughafen vorbei.«

    »Das wäre super.«

    Thomas musterte ihn. Hans lächelte freundlich, aber irgendwie hatte er auch etwas Unergründliches in seinem Gesichtsausdruck. Sein Blick fixierte ihn prüfend und erinnerte Thomas an einen Adler. Er konnte nicht genau sagen, was es war, aber er hatte sofort den Eindruck, dass Hans nicht nur die Sonnenseite des Lebens kennengelernt hatte.

    Sie stiegen ein und fuhren los. Wie Thomas vorausgesehen hatte, hatte die Fähre kurz vor ihrem Eintreffen abgelegt. Sie warteten ein paar Minuten, dann kam auch schon die nächste Fähre und Thomas fuhr mit seinem klapprigen Fiat auf die dafür vorgesehene Abstellfläche.

    Bis hierhin war Hans ziemlich ruhig gewesen, aber das änderte sich auf dem Boot. Er fragte Thomas alles Mögliche über die Fährverbindungen, speziell wollte er wissen, wie man in die Schweiz übersetzt und wie die Kontrollen dort sind. Thomas beantwortete alles, so gut er konnte, wunderte sich aber schon etwas darüber.

    »Weißt du, ich würde gerne mal auf die Schweizer Seite, aber ich kann nicht die offiziellen Übergänge nehmen. Man hat mich im Frühjahr bei Bern auf der Autobahn geblitzt und einen saftigen Strafzettel ausgestellt, den ich aber nicht bezahlt habe. Wenn die mich jetzt an der Grenze kontrollieren, wird es teuer.« Er lachte dabei und Thomas musste mitlachen. Ja, die Schweizer waren hartnäckig, wenn es um Verfehlungen ging und sie vergaßen nicht. Thomas verstand das gut.

    »Hast du eine Idee, wie man unkontrolliert in die Schweiz kommen kann?«

    »Ist eigentlich nicht schwer«, meinte Thomas. »Man muss nur mit einem Boot irgendwo übersetzen, die Ufer werden schließlich nicht bewacht. Wir sind ja nicht in der DDR.«

    Jetzt lachte Thomas und Hans stimmte halbherzig mit ein.

    »So etwas geht?«

    »Klar. Habe ich mit meinem Kumpel Fred schon oft gemacht«, ergänzte Thomas und weckte damit das Interesse von Hans.

    »Hast du ein Boot?«

    »Ich nicht, aber Fred. Wir fahren damit oft raus auf den See«, brüstete er sich.

    »Da wäre ich gerne mal dabei …«

    »Das lässt sich bestimmt einrichten, das Boot gehört Freds Vater und wir können es so oft benutzen, wie wir wollen. Soll ich Fred fragen, ob wir zusammen einen kleinen Bootsausflug unternehmen können.«

    »Das würde ich gerne machen. Dann kannst du mir den Bodensee zeigen.« Hans Gesicht hellte sich auf und Thomas konnte keine Härte mehr darin erkennen.

    Die Autofahrt führte von Meersburg aus über Stetten, Hagnau und Immenstaad am Bodensee bis nach Friedrichshafen. Am Flugplatz ließ Thomas Hans aussteigen und fragte, ob er ihn am Abend wieder mit zurücknehmen solle.

    »Nein, danke. Du hast mir schon genug geholfen. Zurück finde ich alleine. Aber wenn du mit Fred eine Bootsfahrt vereinbaren könntest, wäre das echt klasse.«

    Thomas versprach noch am selben Abend mit Fred zu reden und fuhr dann weiter zu seiner Schule. Es wurde schon langsam warm und von dem Gerede über Bootsfahrten hatte Thomas irgendwie keine Lust mehr auf Unterricht.

    »Hoffentlich ist der Tag bald vorüber.«

    Er ahnte nicht, dass er heute sein letzter Schultag war.

    Als Thomas am Montagabend zurück in den Gasthof kam, saß Hannes an einem der Tische im Hinterhof und hatte ein Bier vor sich stehen. Er rauchte eine Zigarette und genoss den Schatten, den der große Sonnenschirm ihm bot. Thomas sah ihn vom Fenster aus, aber er ging zuerst nach oben in sein Zimmer und zog sich um. Er wollte Fred anrufen, aber die Leitung war nicht frei. Wahrscheinlich telefonierte Agnes wieder mit ihrer Schwester, das dauerte manchmal Stunden, bis sie fertig waren. Thomas hatte in seinem Zimmer einen Zweitapparat, der Anschluss war aber der seines Vaters. Ein eigener Anschluss war ihm zu teuer bei seinem schmalen Auszubildendengehalt und er brauchte ihn auch nicht wirklich.

    »Warum kann es nicht verschiedene Telefonnummern mit nur einem Anschluss geben«, fragte sich Thomas. »Wer das erfindet, wird bestimmt reich.«

    Er vertröstete sich darauf, dass er nach seiner Lehre sowieso von zu Hause in eine eigene Bude zog, und dann würde er auch sein eigenes Telefon haben.

    Nach einigen Minuten versuchte er es erneut, und diesmal hörte er das Freizeichen im Hörer. Er wählte die Nummer von Fred, es klingelte dreimal, dann wurde das Gespräch angenommen. Fred war selbst am Apparat. Sie quatschten einige Zeit über belanglose Dinge, dann wechselte Thomas zu dem Thema, wegen dem er überhaupt angerufen hatte.

    »Wir haben einen Gast hier, ein junger Typ namens Hans, der würde gern mal eine Bootstour unternehmen. Ich habe ihm gesagt, dass du ein Boot hast, und er hat gefragt, ob wir ihn mal mitnehmen würden. Es muss ja kein Tagesausflug sein. Was meinst du?«

    Fred war etwas überrascht. Einen Fremden hatten sie bisher noch nie dabei, lediglich Freds Bruder Winfried fuhr ein paar Mal mit hinaus.

    »Wieso nicht. Wenn du denkst, dass er in Ordnung ist.«

    »Habe heute Morgen eine Weile mit ihm gequatscht. Scheint ein netter Kerl zu sein.«

    »Okay, wie sieht es am Donnerstagabend nach der Arbeit aus. Ich habe ja immer Zeit, wie du weist …«

    Fred genoss es hin und wieder, vor Thomas mit seinen gegen null tendierenden Pflichten anzugeben. Er freute sich immer, wenn Thomas darauf das Gesicht säuerlich verzog, auch wenn er ihn sich dazu am anderen Ende des Telefons vorstellen musste. Eine gute Freundschaft verlangte ab und zu auch nach gesunden Neckereien. Diesmal jedoch klang Thomas völlig unberührt.

    »Also gut, dann treffen wir uns um siebzehn Uhr an der Außenmole.« Thomas legte auf. Er schlüpfte in seine Slipper, ging die Treppe hinunter und betrat den Hinterhof. Hans saß alleine und sein Bierglas war leer. Thomas deutete stumm darauf, worauf Hans sagte, dass er schon Nachschub bestellt hatte.

    »Setz dich doch zu mir.« Thomas folgte der Aufforderung. Die Bedienung brachte das Bier und Hans nahm einen tiefen Schluck.

    »Und? Hast du unseren Bootstrip schon organisiert?«, fragte er für Thomas fast etwas zu voreilig.

    »Ja, ist erledigt. Fred erwartet uns am Donnerstag um siebzehn Uhr am Boot.«

    »Super. Du bist ja ein richtiges Organisationsgenie!«

    Thomas war stolz über das Lob und grinste verlegen. Im Gaststättengewerbe, wo oft viel Improvisation benötigt wurde, war dies fast schon ein Ritterschlag.

    »Was hast du denn in Friedrichshafen gemacht?«

    »Haben mir den Flughafen etwas angeschaut. Außerdem war ich im Rathaus. Dort befindet sich im Museumsflügel die Zeppelin-Ausstellung.«

    Thomas kannte die Ausstellung. »Hat es dir gefallen?«

    »Ja, es war interessant, aber ziemlich eng. Die brauchen echt ein eigenes Gebäude.«

    Er wollte gerade weiter reden, da fuhr ein Auto an die Einfahrt und der Fahrer schaute aus dem Seitenfenster in den Innenhof. Er sah Hans und hob kurz den Arm. Hans erwiderte das Zeichen mit einem kurzen Nicken.

    »Ich muss gehen. Wir reden ein andermal weiter.«

    Er trank sein Bier aus, legte Geld für die Bedienung auf den Tisch und lief zu dem Auto. Er öffnete die Beifahrertür, stieg ein und fuhr davon. Thomas blickte von seinem Sitzplatz aus hinterher und als das Auto wegfuhr, war er sich sicher, dass es ein französisches Nummernschild hatte.

    Donnerstag, 01. August 1985

    Am Dienstag und Mittwoch sah er Hans nicht, er war wohl den ganzen Tag unterwegs. Thomas musste um sieben Uhr dreißig aus dem Haus, da um acht Uhr sein Dienst im Hotel begann. Wahrscheinlich schlief Hans um die Zeit noch. Komischerweise sah er ihn auch am Abend nicht, er musste wohl sehr spät zurückkommen.

    Am Donnerstag früh wollte er den Bootstermin am Abend noch mal bestätigt wissen und klopfte an sein Zimmer. Aber Hans öffnete nicht und so steckte Thomas eine Nachricht unter dem Türspalt durch.

    »Sechzehn Uhr fünfundvierzig Abmarsch zum Bootssteg. Hoffe, du bist noch dabei. Soll schön warm bleiben.«

    Thomas ging zur Arbeit und fragte sich mehrmals, ob Hans am Abend erscheinen würde. Erst hatte er so nachdrücklich darum gebeten, dann auf einmal hörte man kein Wort mehr von ihm.

    »Wenn nicht, dann halt nicht«, dachte Thomas und beschäftigte sich mit seiner Arbeit.

    Pünktlich um sechzehn Uhr dreißig war er zurück. Hans saß wieder im Hinterhof und studierte irgendwelche Unterlagen. Daneben lag ein größeres Papierstück auf dem Tisch, ein Plan oder eine Karte.

    »Das wird wahrscheinlich eine Landkarte sein«, dachte Thomas und ging zur Hintertür, die in den Hof führte. Hans schaute abwechselnd in seine Unterlagen und auf die Karte, als plötzlich dasselbe Auto vorgefahren kam, wie schon am Montag. Der Fahrer winkte und Hans stand auf, legte seine Unterlagen auf die Landkarte, deckte das Ganze mit seiner Aktenmappe ab und ging zum Auto. Thomas betrat den Hof und lief zum Tisch, während Hans mit dem Fahrer redete. Er setze sich auf den freien Platz und schaute auf die Tischplatte. Er konnte nicht erkennen, wobei es sich bei den Unterlagen handelte, da sie abgedeckt waren. Lediglich die Karte war aufgrund ihrer Größe an den Ecken einsehbar, aber einen bekannten Ort konnte er darauf nicht erkennen. Thomas hatte keine Ahnung, was die Karte abbilden sollte. Der Bodensee war es nicht, da war er sich sicher.

    Das Auto fuhr wieder davon und Hans drehte sich um. Er sah Thomas am Tisch sitzen, zuckte überrascht zusammen und kam schnell zurück zu seinem Platz.

    »Na, bereit?«, fragte Thomas.

    Hans blickte verstohlen auf den Tisch, sah aber, dass seine Papiere nach wie vor bedeckt waren. Er atmete erleichtert aus und lächelte.

    »Klar doch. Ich ziehe mich nur noch schnell was Bequemes an. Mit langen Hosen geht man nicht aufs Boot.«

    Er hob seine Aktentasche so an, dass sie zwischen Thomas und den Papieren in der Tischmitte stand und so konnte Thomas weiterhin nichts erkennen. Es interessierte ihn aber auch nicht besonders und Hans packte alles schnell ein. Als er aber die große Karte zusammenlegte und in seine Aktentasche steckte, hielt er sie verkehrt herum und Thomas erkannte am unteren Rand die Beschriftung »Rhein-Main Air Base«.

    Das Wetter war perfekt für einen Bootstrip. Sie fuhren diesmal nicht nach Staad, sondern folgten der Schweizer Küstenlinie an Münsterlingen, Altnau und Güttingen vorbei. Hans schaute sich die Küste genau an und bemerkte, dass es einige kleine Buchten gab, an denen man kurz anlegen könnte. Fred wollte dies jedoch nicht. Würde man sie dabei ertappen, dann gäbe das Ärger und das war das Letzte, was er mit seinem Vater haben wollte. Ein Bootsverbot war noch das Mindeste, was er zu erwarten hätte. Das war es nicht wert. Außerdem zerkratzte der Kiesstrand die Unterseite des Bootes, welche sie erst vor einem Monat neu gestrichen hatten.

    Hans gab sich damit zufrieden die Landschaft zu betrachten und stellte hin und wieder Fragen.

    »Das sind alles sehr kleine Ortschaften. Wann kommt denn der nächste größere Ort?«, wollte er wissen.

    »Ungefähr noch mal so weit, wie wir bereits geschippert sind, dann kommt Romanshorn. Dort ist ein großer Hafen und man kann von dort mit der Fähre nach Friedrichshafen übersetzen. Außerdem gibt es einen Bahnhof, wo Züge in alle Himmelsrichtungen abfahren.«

    Thomas wusste einiges über Romanshorn, er war schon ein paarmal dort gewesen. Auch Fred kannte Romanshorn gut, beschloss aber, nichts zu sagen. Ihm war Hans irgendwie nicht geheuer, aber er wusste nicht, wieso dies so war. Dessen Neugier ging seiner Meinung nach über touristisches Interesse hinaus und kam ihm irgendwie verdächtig vor. Er lächelte zwar oft, aber Fred fand seine Augen kalt und berechnend. Immer wenn er konkret etwas wissen wollte, hörte er genau zu, aber danach kam grundsätzlich wieder eine belanglose Frage, sodass die Frage davor nicht weiter auffiel. Fred fand, dass Hans das geschickt machte. Thomas schien davon nichts zu merken und er sprudelte seine Antworten voller Vertrauen hinaus.

    Das Boot begann etwas in den Wellen zu schaukeln, die von einem größeren Schiff auf sie zu schwappten, welches nicht weit von ihnen entfernt vorbeifuhr. Hans hielt sich sofort an der Außenwand fest, während Fred und Thomas regungslos sitzen blieben. Fred bemerkte sofort, dass Hans nicht viel Erfahrung auf Booten hatte.

    »Zieh am besten die Schwimmweste an«, sagte er zu Hans. »Nicht, dass du ins Wasser fällst und absäufst.«

    Hans musste lachen. »Keine Sorge, ich bin ein guter Schwimmer. Aber der See ist so riesig, da bekommt man schon Respekt.« Er saugte tief Luft ein, blickte sich in alle Richtungen um. Sie waren relativ nah der Schweizer Küste und im Norden konnte er die Küste Deutschlands erkennen. Im Westen war das Gebiet um Konstanz in Sichtweite, aber im Osten sah man weit und breit kein Land. Es sah aus wie die Zufahrt aufs offene Meer hinaus.

    Hans´ Neugier war noch nicht gestillt: »Wie tief ist es hier eigentlich?«

    »Hier auf dem Obersee kann es bis zu zweihundert Meter tief sein, teilweise vielleicht sogar noch tiefer«, sprudelte es sofort aus Thomas heraus. »Was hier absäuft, bleibt meistens unten.« Thomas machte eine theatralische Handbewegung nach unten, sodass auch Fred lachen musste.

    »Wir müssen langsam umkehren«, meinte Fred, damit wir noch bei Tageslicht zurückkommen. Thomas und Hans nickten zustimmend. Damit wendete er das Boot und sie fuhren wieder Richtung Konstanz. Um neunzehn Uhr dreißig legten sie wieder an der Außenmole an.

    Aber Hans hatte noch Pläne: »Danke Jungs das ihr mich mitgenommen habt. Vor allem dir Fred, das war wirklich nett von dir und hat mir viel Spaß bereitet.«

    Er freute sich offensichtlich und fuhr fort. »Ich würde Euch gerne zum Abendessen und ein paar Bierchen einladen. So eine Bootsfahrt macht schließlich hungrig …«

    »… und durstig«, vervollständigte Thomas den Satz. Er war schon überzeugt und seine gute Laune steckte auch Fred an.

    »Warum nicht«, meinte dieser.

    Sie kehrten in einen gutbürgerlichen Gasthof ein, bestellten sich etwas zu Essen und natürlich Bier. Bei einem Bier blieb es nicht, sie tranken, lachten und redeten bis der Gasthof um dreiundzwanzig Uhr schloss. Nach dem dritten Bier war auch Freds Misstrauen einer lockeren fröhlichen Stimmung gewichen.

    Zum Abschluss lud er Hans am Samstagmorgen erneut zum Bootfahren und Schwimmen ein. Hans willigte ein und auch Thomas war darüber erfreut. Sie verabredeten auf neun Uhr am Boot.

    Auf dem Nachhauseweg atmete Fred tief die frische Nachtluft ein und fragte sich, warum seine anfängliche Vorsicht wie weggeblasen war und ob es nicht doch vielleicht ein Fehler gewesen war. Er kam auf eine einfache und logische Erkenntnis. Der Alkohol mag ja viele negative Seiten haben, aber er verband die Menschen miteinander.

    Samstag, 03. August 1985

    Der Samstagsausflug verlief ähnlich wie der am Donnerstagabend, nur dass sie eine Route entlang der deutschen Küste in Richtung der Insel Mainau wählten. Diese passierten sie aber und legten erst am Strandbad Litzelstetten an. Hier gab es eine große Liegewiese und die drei machten es sich an Land bequem. Es war Hauptsaison und viele Gäste bevölkerten schon früh am Morgen das Strandbad. Nachmittags wurde es noch voller, aber da wollten sie schon wieder zurückfahren. Der große Biergarten hatte geöffnet und Hans lud die beiden wieder zum Essen und Trinken ein. Thomas war das sehr recht, schließlich hatte er als Auszubildender nicht so viel Geld zu Verfügung und auch Fred als ehemaliger Schüler und mittelloser Noch-Nicht-Student sagte nicht Nein. Danach schwammen sie etwas im See. Das Wasser war mit gut zwanzig Grad Celsius erfrischend, aber nicht zu kalt.

    Um vierzehn Uhr machten sie sich auf den Heimweg. Während der Fahrt fragte Hans plötzlich: »Sag mal Fred, fahrt ihr auch manchmal nachts hinaus?«

    »Habe ich auch schon gemacht. Mein Vater hat es aber eigentlich nicht gerne. Zu gefährlich meint er, aber eigentlich ist das kein Problem.« Er zögerte kurz und seine Vorsicht meldete sich wieder. »Wieso fragst du?«

    »Ich stelle mir vor, dass es besonders schön ist, die Nacht auf einem Boot zu verbringen, auf dem dunklen Wasser zu fahren und die Lichter ringsherum zu beobachten. Da kann man bestimmt tolle Nachtbilder mit der Kamera schießen.«

    Fred war beruhigt. »Ach so – können wir ja mal machen, wenn du willst. Ich muss ja meinem Vater nicht sagen, wo ich bin. Ich sage ihm einfach, ich übernachte bei Thomas. Der prüft das sowieso nicht nach.«

    »Das wäre echt super.« Hans machte eine kurze Pause.

    »Schade, ich muss leider arbeiten«, meinte Thomas. »Da hätte ich auch gerne mitgemacht.«

    Hans schien nachzudenken. »Ich bin auch unter der Woche unterwegs und komme erst am Freitag wieder. Und am Sonntag ist mein Urlaub in Konstanz zu Ende.«

    »Dann machen wir es doch Freitag Nacht«, meinte Thomas. »Da hätte ich Zeit, samstags sind wir sowieso immer draußen.«

    Er schaute Fred an, der kurz zögerte. »Warum eigentlich nicht. Dann fahren wir Freitag Nacht hinaus.«

    Beide blickten zu Hans und waren stolz auf ihren Vorschlag. Hans dachte noch mal kurz nach, dann beglückwünschte er sie. »Super Vorschlag, Jungs. Okay, dann machen wir es am Freitag.«

    Sie verabredeten sich auf zweiundzwanzig Uhr, Treffpunkt Außenmole. Hans gab Fred die Hand zum Abschied, dann lief er zusammen mit Thomas zurück zum Gasthaus. Als sie ankamen, fragte er: »Was macht man eigentlich am Samstagabend in Konstanz, wenn man unter dreißig ist?«

    »Hier gibt einiges zu erleben. Wir haben viele Kneipen und Bars in der Altstadt, auch einige Discos aber die sind etwas außerhalb. Und heute Abend ist große Beachparty drüben am Rheinufer. Die findet zur Hauptsaison an jedem ersten Samstagabend statt, natürlich hauptsächlich für Touristen, aber auch viele Einheimische, Jung und Alt, kommen dahin. Macht echt Spaß dort, viel Musik, viel Tanz und viel Bier.« Er lachte.

    »Klingt gut«, meinte Hans. »Gehst du mit mir dahin?« Er sah Thomas mit einem Hundeblick an, aber da Thomas sowieso nichts Besseres vorhatte, sagte er sofort zu.

    »Zu früh sollten wir nicht losgehen, dann gehen wir den Horden von Jugendlichen und Kindern aus dem Weg. Sagen wir einundzwanzig Uhr?«

    »Passt«, sagte Hans und verabschiedete sich von seinem neuen besten Freund.

    Pünktlich liefen sie los. Thomas ließ seinen Fiat stehen, da er vorhatte ausgiebig zu feiern und natürlich auch zu trinken. Weit war es nicht, sie mussten nur von der Altstadt aus über die Brücke nach Petershausen und dort am Rhein entlanglaufen. Der Uferweg führte genau zur Party und fünfzehn Minuten später waren sie da.

    Sie suchten sich einen Sitzplatz und Hans lief sofort los und besorgte zwei Bier.

    »Auf den Abend, auf die Freundschaft und auf die Zukunft«, prostete Thomas Hans zu.

    »Immer langsam, Junge. Wir sollten jedes Thema mit einem separaten Bier ehren.«

    Hans war sehr durstig und sehr spendabel. Er zahlte jede Runde Bier, egal ob sie gebracht wurde oder ob er sie selbst holte. Zuerst war dies Thomas etwas peinlich und er wollte auch eine Runde bezahlen, aber Hans sagte ihm, dass das nicht infrage käme. Schließlich hatte er ihm schon einige Gefallen getan, sei es die Fahrt nach Friedrichshafen oder auch die Bootstouren. Thomas akzeptierte mit gespieltem Unbehagen, tatsächlich war er froh, sein knappes Geld sparen zu können. Er wunderte sich nur, warum Hans manche Biere selbst holte und nicht bestellte, aber wahrscheinlich musste er häufiger auf die Toilette, was bei dem Bierkonsum auch völlig normal war.

    Die Musik begann und viele Gäste fingen an zu tanzen. Hans fragte Thomas, ob er nicht auch gerne tanzen würde, aber Thomas winkte lachend ab.

    »Ohne Mädchen macht Tanzen keinen Spaß. Mit dir tanze ich bestimmt nicht.«

    »Aber hier sind doch eine Menge Mädchen«, erwiderte Hans und schaute sich um. Er entdeckte am übernächsten Tisch zwei junge Frauen, die offensichtlich alleine waren.

    »Schau mal vorsichtig hinter dich. Da sitzen zwei Mädchen, die uns immer Blicke zuwerfen.« Thomas drehte den Kopf um und tatsächlich lächelte die eine offen zurück.

    »Wow, und was für Hübsche.« Thomas spürte mittlerweile den Alkohol in seinem Kopf, der ihn mutig machte. »Und ohne Begleitung.«

    »Leider lächelt die eine immer nur dir zu«, erwiderte Hans, »aber ich würde mich auch mit der anderen begnügen.« Damit knuffte er Thomas an die Schulter. »Komm, lass uns mal rübergehen.«

    »Ach, ich weiß nicht«, meldete sich seine Schüchternheit. Thomas lallte inzwischen etwas, die Party schien sich etwas um ihn zu drehen und er spürte die Vorboten eines Kontrollverlusts, der sich seiner bemächtigen wollte.

    »Komisch, dabei habe ich eigentlich nur Bier getrunken und keinen Schnaps«, wunderte sich Thomas. Hans schien dieses Problem nicht zu haben, obwohl er genauso viel getrunken hatte.

    »So wie es aussieht, verträgt er eine Menge mehr als ich«, erkannte Thomas neidisch.

    Aber Hans war nicht zu stoppen und er zog Thomas mit. Sie gingen zu den zwei Mädchen und Hans sprach sie an. »Guten Abend die Damen.« Sie kicherten nur.

    »Mein Freund und ich arbeiten beim Touristikverband in Konstanz, dem Ausrichter dieser Party. Wir sind hier, um dafür zu sorgen, dass sich alle Gäste gut amüsieren.»

    »So, so«, sagte die Erste mit dem Lächeln. »Das ist aber sehr aufmerksam vom Touristikverband.« Sie grinste unverhohlen und schaute dabei erst zu Hans, danach aber besonders lang zu Thomas.

    »Darf ich denn annehmen, dass die Damen gut unterhalten werden«, fragte Hans weiter.

    Nun meldete sich die Zweite zu Wort. »Nun, es ist ja ganz nett hier, und die Musik gefällt uns auch gut. Aber die Konstanzer scheinen sich nicht zu trauen, uns zum Tanzen aufzufordern.«

    »Das geht natürlich nicht«, stichelte Hans zurück. »Normalerweise sind wir Konstanzer nicht so schüchtern. Vielleicht sollten mein Freund und ich so lange einspringen, bis die jungen Männer auf der Party aktiver werden.«

    Er reichte Mädchen Nummer zwei die Hand. »Darf ich bitten?« Sie zögerte einen Moment, dann griff sie danach und beide zogen ab in Richtung Tanzfläche. Thomas stand jetzt alleine bei dem anderen Mädchen, die ihn jetzt direkt anlächelte.

    »Und was machen wir zwei Hübsche? Hast du auch Lust zu tanzen?«

    »Eigentlich schon«, druckste Thomas herum, den der Alkohol mit jeder Minute verwegener machte. Er reichte ihr seine Hand. »Hoffentlich trete ich dir nicht zu oft auf die Füße.«

    »Das lass meine Sorge sein«, lachte das Mädchen, schnappte sich Thomas und zusammen liefen sie zur Tanzfläche. Sie legte ihre Arme um seinen Hals, Thomas fasste sie an der Taille und sie bewegten sich langsam im Takt.

    Sie hieß Beate und sie war mit ihrer Freundin über das Wochenende nach Konstanz gefahren. Sie kam aus München, was man an ihrem Dialekt hören konnte, war zweiundzwanzig Jahre alt und Studentin. Thomas erzählte ihr Einiges von sich und sie amüsierten sich gut. Hin und wieder suchte er Hans, der zunächst mit seinem Mädchen tanzte, sich dann aber wieder mit ihr auf die Bank setzte. Aber nur kurz, dann lief er davon und kam einige Minuten später mit vier vollen Gläsern zurück.

    »Dein Freund hat für Nachschub gesorgt.« Beate hatte Durst und sie gingen zurück zu den zwei anderen, die eng umschlungen auf der Bank saßen. Thomas ließ sich auf der freien Bank gegenüber nieder. Beate nutzte die Gelegenheit und hüpfte auf seinen Schoß. Dabei lachte sie fröhlich.

    Beate fühlte sich gut an, so glücklich war Thomas schon lange nicht mehr gewesen. Sie griffen nach den Biergläsern, prosteten einander zu und tranken. Das Tanzen machte durstig und während Thomas trank, wurde er von Beate angefeuert. Angespornt leerte er das Glas in einem Zug aus und die anderen applaudierten. Hans orderte direkt ein weiteres Bier für ihn.

    Die nächsten Stunden vergingen wie im Flug, oder waren es nur Minuten. Während die anderen scheinbar immer fröhlicher wurden, war Thomas mittlerweile sturzbetrunken. Beate wurde immer zugänglicher und Thomas durfte sie jetzt auch küssen. Die Party leerte sich immer mehr und irgendwann beugte sich Beate an sein Ohr und fragte, ob er nicht einen Platz habe, wo sie alleine sein konnten. Thomas überlegte, aber selbst in seinem Rausch war ihm klar, dass er sie nicht mit auf sein Zimmer nehmen konnte. Das hätte wahrscheinlich sein Vater, in jedem Fall aber Agnes bemerkt und dann hätte er sich einiges anhören müssen in der nächsten Zeit. Was die eigene Familie betraf, hatte sein Vater sehr konservative Ansichten. Auf solche Moralpredigten hatte Thomas keine Lust.

    Doch Hans hatte eine Idee. »Lass mich nur machen.«

    Sie liefen zu viert zurück zum Gasthof und dort gingen sie auf das Zimmer von Hans. Beate ließ sich sofort auf dem Bett nieder und Hans legte den Türschlüssel auf den Tisch.

    »Viel Spaß, wir zwei laufen noch etwas spazieren.« Damit verließ er mit seinem Mädchen das Zimmer und Thomas war mit Beate allein. Allein, betrunken und willenlos.

    Zu seiner Erleichterung musste er nicht viel machen. Beate erwies sich als sehr erfahren und sie verwöhnte Thomas, der genussvoll auf dem Rücken lag und hin und wieder zufrieden grunzte. Wäre er etwas nüchterner gewesen und hätte er mehr Erfahrung gehabt, dann hätte er sicherlich bemerkt, wie routiniert Beate tatsächlich war. Thomas war zwar keine Jungfrau mehr, ein Frauenheld war er aber bei Weitem nicht. Er hatte seinen Verstand nicht mehr unter Kontrolle, erlebte alles wie in Trance und schon nach kurzer Zeit war es vorbei. Total erschöpft und irgendwie glücklich schlief er im nächsten Augenblick ein.

    Sonntag, 04. August 1985

    Die Kirchturmuhr läutete und träge öffnete Thomas seine Augen. Für einen Moment wunderte er sich, denn er sah nicht das vertraute Bild. Die Decke über ihm sah anders aus, als die in seinem Zimmer. Er hatte einen schweren Kopf und das Nachdenken fiel ihm schwer. Was war eigentlich passiert? Nur mühsam kamen verschwommene Fragmente zurück, der größte Teil seiner Erinnerung blieb wie unter einer Glocke verborgen.

    Genau, er war mit Hans unterwegs gewesen. Plötzlich hörte er ein Rascheln von der rechten Seite des Bettes und er drehte sich um. Eine nackte Frau lag neben ihm unter der Bettdecke und mit einem Schlag fiel Thomas alles wieder ein. Beate war ihr Name.

    Sie wachte auf, sonderte dabei typische Geräusche ab, rekelte sich unter der Bettdecke und als sie sah, dass Thomas wach war, legte sie ihre Hand auf seine Brust.

    »Na du Tiger, noch eine Runde.«

    Jetzt war Thomas hellwach. »Oh mein Gott«, dachte er. Mit einem Schlag fiel ihm alles wieder ein. »Wie viel Uhr haben wir?«, fragte er, um Zeit zu gewinnen.

    »Acht Uhr«, antwortete Beate. »Ich bin schon seit einer Weile wach, aber du hast geschlafen wie ein Toter, da habe ich mich noch mal umgedreht.« Sie grinste lüstern.

    »Schon acht Uhr.« Thomas wusste, was dies bedeutete. Unten war alles auf den Beinen und Agnes servierte Frühstück für die Gäste. Es war unmöglich, Beate heimlich loszuwerden, ganz davon abgesehen, was sie selbst davon hielt. Wenn sie die Treppe nach unten gingen, landeten sie automatisch im Flur zwischen Gastraum und Küche und damit genau in dem Bereich, in dem Agnes die ganze Zeit beschäftigt war.

    »Was wäre, wenn Beate alleine nach unten ging?« Thomas dachte angestrengt nach. Nein, Agnes würde sie auf jeden Fall sehen und da sie Beate nicht kannte, würde sie einen riesigen Aufstand machen. Womöglich sogar die Polizei rufen. Agnes war alles zuzutrauen.

    Er suchte fieberhaft nach einer Alternative. Eine Hintertreppe gab es allerdings nicht und er konnte Beate unmöglich sagen, dass sie vom Balkon klettern solle. Egal wie er es drehte und wendete, er sah keinen Ausweg.

    Beate ahnte noch nichts von seinem Dilemma, sie merkte allerdings, dass es keine erotische Morgenrunde mehr geben würde. Sie stand auf, ging ins Badezimmer und erfrischte sich unter der Dusche. Thomas fand, dass sie irgendwie gelöst wirkte und ihr die Situation nicht peinlich war, ganz im Gegensatz zu ihm. Sie beendete ihre Dusche und zog sich an. Gleich musste er Farbe bekennen.

    Plötzlich ging die Tür auf und Hans kam herein. »Guten Morgen, Schlafmütze«, rief er überraschend fröhlich und kam zu Thomas. »Na, hast du deinen Spaß gehabt?« Dabei blickte er verstohlen zu Beate, die seinen Blick mit einem stummen Lächeln erwiderte.

    »Ja, schon«, sagte Thomas leise, sodass Beate ihn nicht hören konnte. Als sie sich zu ihm umdrehte, fügte er schnell an: »Es war super.«

    Sie lächelte ihm zu und zog sich weiter an.

    »Aber wo warst du und wo ist dein Mädchen?«

    Hans grinste über das ganze Gesicht. »Wir sind noch mal zum Rheinufer. Es war eine so lauschige Nacht und dort gibt es tolle ruhige Plätzchen zum …« Hans beendete den Satz nicht, aber sein Gesichtsausdruck verriet Thomas alles.

    »Wir haben dann beschlossen, euch nicht mehr zu stören, und haben am Strand übernachtet.«

    Beate ging erneut ins Bad und kämmte sich.

    »Du musst mir helfen, Hans«, flüsterte Thomas. »Ich muss sie irgendwie hier rausschaffen, ohne dass die unten etwas merken. Verstehst du?«

    Hans schaute zu Thomas, dann zu Beate ins Bad. »Verstehe.« Er überlegte kurz.

    »Du gehst jetzt in dein Zimmer und ich gehe dann mit Beate nach unten. Zu mir wird deine liebe Mutter ja bestimmt nichts sagen.«

    »Stiefmutter …«

    »Noch schlimmer. Mach dir keine Sorgen, ich regle das.« Er griff nach Thomas´ Hand und zog ihn zur Tür.

    »Und jetzt geh.«

    Thomas verließ das Zimmer und war erleichtert. Hans hatte ihm den Hintern gerettet und vor einer großen Peinlichkeit befreit. Er lief über die Treppe ein Stockwerk nach oben in sein Zimmer und zog sich schnell um. Es war Sonntag und er war eigentlich schon viel zu spät dran. Ein paar Minuten später ging er nach unten.

    Wie erwartet, sah ihn Agnes und geiferte sofort los. »Der junge Herr hat heute mal ausgeschlafen. Schön wenn man abends feiern kann und morgens nicht bei Zeit aus dem Bett muss. Aber dann musst du ja gut ausgeruht sein.« Sie warf ihm einen abfälligen Blick zu.

    »Iss was und dann komme in die Küche. Es gibt viel zu tun.«

    »Ja, Agnes«, erwiderte Thomas wortkarg und setzte sich an einen freien Tisch. Gerade als

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