Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Großstadtgeheimnisse: Funkentanz im Dämmergrund
Großstadtgeheimnisse: Funkentanz im Dämmergrund
Großstadtgeheimnisse: Funkentanz im Dämmergrund
eBook268 Seiten2 Stunden

Großstadtgeheimnisse: Funkentanz im Dämmergrund

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Ein Funke. Die zündende Idee, etwas nicht preiszugeben - schon wächst ein Geheimnis daraus.
Es wächst im Verborgenen und lässt sich kaum zähmen. Für immer verschwiegen, heimlich getuschelt, hinausposaunt oder verplappert, ein Geheimnis steht nie still. Schon gar nicht in Berlin.
In 26 Kurzgeschichten erzählen Berliner Autor*innen von schrägen Begegnungen, sprechen heimliche Wünsche aus und gehen Sehnsüchten nach. Sie werfen Blicke in die Vergangenheit, decken auf, lassen ruhen. Sie sagen Käfern den Kampf an, werfen Dinge aus Fenstern und bekommen ungewöhnlichen Besuch.
Oder, wie es in einem der Texte heißt: »Es gibt niemals genug Leben.«
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum10. Dez. 2021
ISBN9783755762881
Großstadtgeheimnisse: Funkentanz im Dämmergrund

Ähnlich wie Großstadtgeheimnisse

Ähnliche E-Books

Kurzgeschichten für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Großstadtgeheimnisse

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Großstadtgeheimnisse - Books on Demand

    Für das Flüstern an Straßenecken

    Und alles, was dahinter auf uns wartet

    Dieses Buch enthält Inhaltswarnungen / Content Notes

    auf der letzten Seite gegenüber der Deckel-Innenseite.

    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort

    Annabella Kittel

    Engels Ende

    Thomas Frick

    Funky Vlad

    Anna Heitger

    Vielleicht drei Zentimeter

    S. M. Gruber

    Der Aufpasser

    Tanja Ganser

    Käferflug

    Bahati Glaß

    Unter Beobachtung

    Petra Lohan

    Das pinkfarbene Mädchen

    Alexandra Resch

    Von oben

    Lukas Meisner

    Woher nimmt man sich? Ein verschlepptes Geheimnis

    Dennis Stephan

    Neunhundert Mark

    Tobias Jesse

    Traumstadt

    Mira Seesemann

    Denken im Berliner Verkehrsnetz

    Constantine Helm

    Stasitelefon

    Jennifer Pfalzgraf

    Zelluloid und Kaugummi

    Claudia van Gozer

    Berlin Zombie

    Hartmut Kühne

    Das Geheimnis der Möbel

    Liv Modes

    Ein Sommernachtstraum

    Nadja Kasolowsky

    Der Raum

    Katharina Stein

    Briefe ins Nichts

    Clint Lukas

    Dem Tod von der Schippe

    Hannah Steinfeldt

    Alter Falter

    Jana Thiel

    Ich bin E

    Alicia Voigt

    Wenn Gras wächst

    Sofia Banzhoff

    Unter Masken

    Jol Rosenberg

    Eine Frage des Stils

    Alina Schad

    Das Geburtstagsgeschenk

    Danksagung

    Die Autor*innen

    Inhaltswarnungen / Content Notes

    Vorwort

    Psst…Hey, du! Ja, du. Dich meine ich. Du siehst aus, als könntest du ein Geheimnis für dich behalten. Ich platze fast, so voll von Geheimnissen bin ich. Bestimmt hast du nichts dagegen, wenn ich dir das eine oder andere erzähle.

    Erinnerst du dich denn noch an das letzte Mal, als dir jemand ein Geheimnis anvertraut hat? Habt ihr eure Stimmen gesenkt, seid ihr näher aneinander gerückt? Habt ihr gewartet, bis das Licht aus oder die Musik an war?

    Und was war eigentlich das letzte Geheimnis, das du jemandem verraten hast? Komm, was sagst du, ich erzähle dir meines und du mir deines? Nein? Na gut, warts nur ab. Ich habe nämlich so etwas an mir, das dein Innerstes nach außen kehrt, sobald du mir zu nahe kommst.

    Da kannst du gar nicht anders, als nach und nach mit allem herauszurücken, was du sonst nicht mal zu flüstern wagst. Du musst nur lange genug hierbleiben, in meinen dunklen Gassen, geschützten Hinterhauswohnungen und verlassenen Häusern, dann kommt dein Flüstern ganz von alleine.

    Aber erst möchte ich dir etwas anvertrauen. Ich möchte dir von all den Geheimnissen erzählen, die in mir tanzen wie ein Funkenschauer, der sich aus dem grauen Dämmergrund meines Großstadtdaseins erhebt. Sie lauern, gebannt zwischen den Seiten, und warten nur auf dich.

    Eine Nacht-und-Nebel-Aktion, eine grausame Vergangenheit, ein heimlicher Beobachter. Gefährliche Lügen. Eine Leiche im Wohnzimmer und Freundschaften im Keller. Spionage. Halluzinationen. Unzählige unausgesprochene Wahrheiten, die uns da treffen, wo nie jemand hinsieht. Außer ich. Denn ich bin auch dein Berlin, egal welches Geheimnis du in dir trägst.

    * * *

    Aus 146 Einsendungen haben wir ein funkelndes Kaleidoskop aus 26 Geheimnissen für dich zusammengestellt. Hoffentlich erkennst du darin ein Berlin wieder, das dir vertraut ist – und noch mehr hoffen wir, dass du darin eines entdeckst, das dir bisher verborgen blieb.

    Viel Spaß beim Lesen wünschen dir

    Sophie, Liv, Nadja, Jen und Katharina

    Annabella Kittel

    Engels Ende

    Fünfundvierzig … sechsundvierzig … siebenundvierzig … achtundvierzig. Schnaufend blieb Gerhard Engel stehen und hielt sich am Treppengeländer fest. Er fischte den Schlüsselbund aus der Tasche seiner Lederjacke und trat auf die Türmatte. Wie immer verhakte sich das Schloss ein wenig – also zog er die Tür fest heran und rüttelte zweimal nach links, bis ein Klicken zu hören war. Er trat ein, setzte sich auf die Bank und drückte die Tür zu. Erst noch einen Moment durchatmen, dann die Schuhe ausziehen. Beim Herunterbeugen war ihm sein Bauch im Weg, nur mit Mühe bekam er die Schnürsenkel zu fassen. Anstrengend, alles.

    Am Küchentisch saß Heinrich und sah ihn erwartungsvoll an.

    »Heinrich, ick sach et dir … dit war heut een Tach.« Er ging zur Filtermaschine und goss sich den letzten Rest kalten Kaffees in eine Tasse. Dann ließ er sich auf seinen Stuhl fallen, der beleidigt knarrte.

    »Der Ali is schon janz feddich. Der hat den janzen Tach nur von Abschied jeredet, und dat nu allet anders wird.« Er nahm einen Schluck. »Der Jungsche macht sich so een Kopp, ick sach et dir. Und völlich umsonst – ick meen, ick bin ja nich ausse Welt.«

    Kopfschüttelnd stellte er die Tasse ab.

    Heinrich sah ihn mitfühlend an und nickte. Gerhard nahm die Packung Nil vom Tisch und schüttelte sich eine heraus. Neben dem vollen Aschenbecher lag ein rotes Zippo. UND NIEMALS VERGESSEN – EISERN UNION, der Schriftzug war an manchen Stellen abgekratzt. Funke, Funke, Funke, dann züngelte ein Flämmchen gierig am Papier hoch.

    Ein tiefer Zug, die Glut glomm orangerot in der Dämmerung. Schweigend sahen beide dem Rauch nach, der in Spiralen hochzog.

    »Ick merk ooch schon, da kommen jetz janz neue Leute. Janz junge. Die erzähln mir nüscht mehr. Die kommen und koofen Tabak und diese neuen Brausen. Und dann jehn se wieder.«

    Gerhard nahm einen letzten Zug, dann drückte er die Zigarette auf einer anderen Zigarette aus und schob sie vorsichtig ein wenig tiefer in den Aschenbecher.

    »Aber«, er beugte sich über den Tisch, »ett war heut ooch der alte Buchbinder da. Hat een Sterni mit mir jetrunken, wollt sich verabschieden. Wir ham lang jeredet.« Er wackelte verschwörerisch mit seinen buschigen Augenbrauen. »Ick hab dir heut een jutet Jeheimnis mitjebracht.«

    Heinrich sah ihn gespannt an. Leise begann Gerhard zu erzählen.

    Als er am nächsten Morgen aus dem Haus trat, musste er seine Augen vor dem gleißenden Sonnenschein abschirmen. Stinkend fuhr der 194er in Richtung Hermannplatz an ihm vorbei. Überhaupt, der Verkehr war für die Tageszeit beachtlich. Seinerzeit fingen alle schon früher an zu arbeiten – heute schoben sich die Autos um drei viertel neun kolonnenweise über den Markgrafendamm. Gerhard ging auf ein Knie und ignorierte seinen protestierenden Rücken, als er sich am Schloss des Rollladens zu schaffen machte. Erst jetzt bemerkte er ein neues Graffiti, das auf die Aluleisten gesprüht worden war. Brot, stand da. In roter Schnörkelschrift. Einfach nur: Brot. Er grunzte.

    Murmelnd schob er den Rollladen hoch. »Die Namen von die Banden hier, die wern ooch immer bekloppter.« Während er die restliche Verkleidung nach neuen Schmierereien absuchte, blieb sein Blick an dem gelben Würfel hängen, der am Ende des Schaufensters aus der Wand ragte. ATM Geldautomat stand in schwarzen Buchstaben darauf. Und EC in rot und blau darunter.

    Vor knapp zwei Wochen war der Automat geliefert worden. Sein Einbau hatte sich als Spektakel für die gesamte Straße entpuppt. Zwei Tage lang wurde die Wand aufgestemmt, geschliffen, abgedichtet. Der Besitzer vom Filmverleih hatte einen Campingstuhl aufgestellt und seine Mittagspausen damit verbracht, Leberwurststullen zu essen und das Geschehen zu beaufsichtigen. Die beiden Kleinen der Friseurmeisterin waren aufgeregt zwischen dem Salon und dem Baugerüst hin- und hergelaufen. Ali und Hamza hatten die Familie zusammengetrommelt, wodurch die gesamte Corinthstraße durch gut gelaunte Brüder, Schwestern, Cousins und Cousinen lahmgelegt war.

    Gerhard schloss auf und betrat seinen Kiosk. Er zog die Tür hinter sich zu und der Straßenlärm verstummte. Langsam ließ er seinen Blick über die Regale gleiten. In der Ecke brummten die vier neuen Kühlschränke.

    Zweiundvierzig Jahre. Ein ganzes Leben lang. Fast schon sein ganzes Leben lang.

    Er ging an der Tiefkühltruhe und dem Grußkartenständer vorbei zur Ladentheke, hob ihr Ende an und zwängte sich durch den schmalen Durchgang auf die andere Seite. Die gesamte Wand hoch stapelten sich Tabakartikel. So hat dit anjefangen. Er betrachtete die vielen bunten Schachteln. Mit Zigaretten und Zeitungen.

    Die Tür wurde geöffnet und Ali kam herein, eine große Heliumflasche in den aufgepumpten Armen. Hinter ihm folgte Hamza, mehrere Plastiktüten schleppend.

    »Engel! Bereit für deinen letzten Tag?« Ali wuchtete das Ungetüm auf die Kühltruhe. Dann kam er zur Theke, beugte sich darüber und umarmte Gerhard. Heute konnte der sich sogar überwinden, dabei Alis Rücken flüchtig zu tätscheln. Grundsätzlich war ihm diese Art der Begrüßung suspekt. Hamza hob kurz die Hand und machte sich daran, die Tüten auszupacken. Still und immer ein wenig unter dem Radar – ein Junge nach Gerhards Geschmack.

    »Na, wat habt ihr Jungschen heut noch vor?«

    »Wir machen hier bisschen Party.« Ali zwinkerte. »Hab die Familie und paar Kumpels eingeladen, kleine Feier so ab neun.«

    Gerhard nickte. Kleine Feier – das war eine Umschreibung für mehrere hundert Leute. Dazu noch die üblichen Nachtschwärmer, die ab elf seinen Kiosk aufsuchen würden. Oder dann den Späti, wie Ali ihn jetzt nannte. In den letzten Jahren waren immer mehr Bars und Diskotheken in den Kiez gezogen. Unter der Elsenbrücke hatte sich eine Art Biergarten eingenistet, an der Ecke ein Tanzclub, an der Kurve zum Ostkreuz noch einer. Gerhard hatte diese Wandlung stoisch zur Kenntnis genommen. Mittlerweile merkte er aber, dass ihn die ständige Veränderung ermüdete. Die große Freifläche an der Spree, auf der er früher immer mit Ulrich Gassi gegangen war (Gott hab ihn selig), war mittlerweile fast komplett verbaut. Wohnhäuser, ein Hotel und mehrere Bürogebäude versperrten nun die ehemals freie Sicht aufs Wasser. Hin und wieder spazierte er zur alten Zigarrenfabrik und fragte sich, wann wohl auch sie für weitere Großraumbüros ausgeschlachtet werden würde.

    Draußen blieb ein weißer Kastenwagen stehen und hupte.

    »Krass geil! Das ist der Ahmed mit dem Schild!«

    Leichtfüßig wie ein Rehkitz sprang Ali hinüber zur Tür. Manchmal hatte der Kerl eine Grazie, die nicht so recht zu seinem muskelmassigen Körper passen wollte. Hamza folgte ihm und auch Gerhard schob sich hinter den beiden auf den Bürgersteig.

    Ahmed, dünnhaarig und dickbärtig, öffnete gerade die Türen zum Laderaum.

    »Ey, Ali.«Die beiden begrüßten sich mit Küsschen. »Packst du mit an?«

    Gemeinsam zogen sie einen riesigen Karton aus dem Auto, trugen ihn zwischen zwei parkenden Autos hindurch und stellten ihn vor dem Kiosk ab.

    »Hab ich auch den Monitor mit.«

    »Ey, du bist der Geilste.« Ali umarmte ihn stürmisch. »Ich hol dir noch nen Drink für die Fahrt.«

    Ahmed lächelte und holte das zweite Paket. An seinen Wagen gelehnt unterhielt er sich dann mit Hamza auf Türkisch. Gerhard war fasziniert davon, wie gleichgültig die beiden die fünf hupenden Autos ignorierten, die mittlerweile hinter dem Lieferwagen Schlange standen. Gleichzeitig wurde er immer nervöser. Er konnte die Autofahrer verstehen, immerhin war die Ware bereits ausgeladen. Er sah noch einmal zu Ahmed und Hamza, die sich weiterhin unbeeindruckt unterhielten. Das Hupen wurde dringlicher. Gerhard hielt es nicht länger aus.

    »Sach ma–Ahmed, richtich? – hörn Se dit? Die Fahrer wern janz schön unjeduldich …« Er trat von einem Fuß auf den anderen.

    Ahmed sah ihn an und schien das dröhnende Gehupe erst jetzt zu registrieren. Er nickte und hob die Hand: »Sorry! Ist kein Problem, eine Moment!«

    Er öffnete die Fahrertür, stieg ein und schaltete die Warnblinkanlage an. Als er zufrieden lächelnd wieder aus dem Auto kletterte, kam Ali zurück. Er reichte Ahmed eine neongelbe Dose.

    »Tut mir leid, dass es so lang gedauert hat, aber die Kaffeemaschine ist ne Diva.« Er deutete auf den braunen Plastikbecher in seiner Hand. »Die braucht ne Extraeinladung, bis die was ausspuckt.«

    Beide lachten. Die Autos hupten. Gerhard sah erst von Ali zu Ahmed, dann vom Kastenwagen zur Autoschlange. Er entschloss sich, lieber wieder in den Kiosk zu gehen.

    Ein paar Minuten später folgten auch Ali und Hamza. Durch die Scheibe konnte Gerhard erkennen, dass sich Ahmed gerade mit einem Mann stritt, der aus einem der Autos gestürmt war.

    »Ich mach gleich das Schild dran.« Ali trank seinen Kaffee aus, warf den Becher in den Mülleimer neben der Maschine und trat wieder hinaus.

    »Ich fang dann mal an mit einräumen.« Hamza nahm sich eine der Plastiktüten und schlurfte zur neuen Regalreihe direkt hinter dem Schaufenster.

    Gerhard sah ihm eine Weile dabei zu, wie er Metalldöschen und Glasbehälter einsortierte.

    »Wat isn ditte?«

    Hamza sah auf und hob eine der Dosen hoch, die er gerade in der Hand hielt: »Diese?«

    »Nee, dit Glasdingens da.«

    »Achso. Ist Shisha.«

    Gerhard nickte. Er selbst hatte sich nie viel aus Wasserpfeifen gemacht, die Dinger waren früher ziemlich verrufen und außerdem schwer zu bekommen gewesen. Es wunderte ihn, dass sie mittlerweile scheinbar salonfähig geworden waren.

    Draußen öffnete Ali gerade zusammen mit einigen jungen Männern das Paket. Sie hoben ein blaues Leuchtschild heraus. ALL YOU CAN ALI stand in weißen Buchstaben darauf. Und darunter: Spätkauf & Dampfshop.

    Gerhard wusste nicht, was ein Dampfshop war. Es war ihm aber auch egal. Er hatte sich dafür entschieden, sein Geschäft abzugeben. Und dann musste ooch mit de Konsequenzen leben, meen Freund, erinnerte er sich selbst. Er griff sich seine Zigaretten und ging vor die Tür. An der Ecke stieß er mit Frau Kinze zusammen.

    »Engelschen! Heut is der letzte Tach, wa?« Lachfältchen durchzogen ihr ganzes Gesicht und ließen sie nicht mehr nur alt, sondern uralt aussehen.

    »Och Frau Kinze, wat soll ick nur ohne Sie machen?« Er zwinkert und hielt ihr die offene Schachtel hin. Sie zog sich eine Zigarette heraus und ließ sich Feuer geben. Schweigend standen sie nebeneinander, bis er seinen aufgerauchten Stummel austrat.

    »Weeßte, Engelschen, jetzt wo dit mit uns zu Ende jeht, da könnwa doch ooch dit mit dem Sie wechlassen.« Sie warf ihre Zigarette ebenfalls auf den Boden und streckte ihm die Hand hin: »Ick bin die Amanda.«

    Gerhard schüttelte die zierliche Hand mit den vielen Pigmentflecken.

    »Ick bin der Gerhard.«

    »Na, da is mir Engelschen aber lieber.« Sie lachte und drehte sich in Richtung Kiosk. »Denn hol ick mir ma meen täglich Stückschen Lungenkrebs, wa? Wie heißt denn dit neue Jungsche?«

    »Ali. Kann mir natürlich nich ersetzen, wa. Aber den wirste ooch möjen, Amanda.« Er lächelte und sah ihr nach, bis sie in seinem Kiosk verschwand. In den letzten Wochen hatte er viele solcher Abschiede gehabt. Zweiundvierzig Jahre – da kamen schon ein paar Stammkunden zusammen. Er ging zu Ali, der gerade eine Leiter an die Hauswand stellte.

    »Kommste klar ohne mir?«

    »Klar, Cheffe. Aber heute Abend kommst du?«

    Gerhard nickte und ging zum Hauseingang neben dem Kiosk. Haustor aufsperren, hoch in den dritten Stock.

    Heinrich saß am Küchentisch. Gerhard wunderte sich über dessen frühes Aufstehen, sonst war er nämlich ein ziemlicher Langschläfer. Er stützte sich am Türrahmen ab und streckte den Kopf in die Küche. »Heinrich, jetzt ham wa noch een Jeheimnis jelüftet! Die alte Kinze, die heißt Amanda mit Vornamen.«

    Heinrich legte den Kopf schief.

    »Hätt ick ooch nich jedacht. Ick hätt jedacht, die hat nen alten Namen, Gerda oder Renate oder sowat.« Er zuckte mit den Schultern. »Steckste nich drin in die Leute, wa. Ick geh mir noch nen Stündchen hinlegen. Glaub dit wird een langer Abend heut.«

    Bereits im Treppenhaus hörte Gerhard den Lärm und das Gelächter von der Straße. Eine Traube junger Menschen stand vor seinem Kiosk. Die Sonne war vor einer halben Stunde untergegangen, das letzte Licht des Tages traf auf den bläulichen Schein des neuen Schildes. Das Ding war überdimensional. Aber es war nicht das Einzige, was sein altes Geschäft zum Leuchten brachte. Der Würfel über dem Geldautomaten strahlte blassgelb und hinter der Scheibe war ein großer Bildschirm montiert. Hier könnte Ihre Werbung stehen, informierte ihn das Standbild. Es wechselte mit Animationen aus bunten Wirbeln, die sich von den Ecken abstießen. Über der gesamten Länge des Kiosks drängten sich weiße und blaue Luftballons. Neben der Tür standen hüfthohe Boxen, aus denen schwere Bässe wummerten. Gesang konnte Gerhard keinen ausmachen. Überhaupt fiel es ihm schwer, das Gestampfe als Musik zu erkennen.

    »Engeeeeel!« Ali schob sich durch die Menge, zwei Glasflaschen in der Hand. Er fiel ihm um den Hals und reichte ihm eine der Flaschen. Gerhard bedankte sich, nahm einen Schluck – und spuckte ihn vor Alis Füße. Erschrocken hielt er sich die freie Hand auf seine Nase, aus der ein weiterer Strahl sprudelte.

    »Wat is …?« Er musterte das Etikett. Mate Mate stand darauf. Er schluckte, aber der klebrig-süße Rauchgeschmack blieb. Ali prustete los und lachte so lange, bis er sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischen musste.

    »Sorry, Engel, ist nich dein Ding. Ist ganz neu im Sortiment!«

    Gerhard sah ihn stumm an. Er hatte viele von Alis Entscheidungen nicht verstanden – aber dieses Gesöff löste das bisher größte Fragezeichen in ihm aus.

    »Ich hol dir nen Bier.« Er nahm ihm die Flasche ab und schob sich wieder in Richtung seines Spätis. Gerhard sah ihm nach, bis die Basecap im Gedränge nicht mehr zu sehen war. So jeht dit zu Ende. Er blickte auf das leuchtende Schild. Kein Kiosk Engel mehr. Jetzt gab es nur noch ALL YOU CAN ALI.

    Ali kam mit einem Sterni wieder und sie prosteten sich zu. Gerhard genoss den bitteren Geschmack und ließ den ersten Schluck ein paar Sekunden lang auf seiner Zunge kreisen.

    »Wie geht es dir?« Ali sah ihn aufrichtig interessiert an.

    Gerhard wusste nicht, was er antworten sollte. Janz jut, das wäre gelogen gewesen. Och, man lebt, das wäre dramatisch gewesen. Jing schon besser, das wäre ehrlich gewesen. Er entschied sich für ein Schulterzucken.

    »Freuste dir?«, stellte er die Gegenfrage.

    Ali blies seine Backen auf und ließ die Luft langsam wieder entweichen.

    Er sah plötzlich sehr klein aus.

    »Klar freu ich mich«, seine Stimme klang unsicher, »aber ich hab schon auch Respekt. Ich bin der erste von meinen Brüdern, der einen eigenen Laden macht. Ich … ich muss abliefern.«

    Gerhard nickte. Ali gab es nicht ohne seine Familie. Sein jüngster Bruder Hamza hing ohnehin täglich an seinem Rockzipfel, aber auch die anderen Geschwister mischten sich viel in die Planung von Alis Späti ein. Von der ganzen restlichen Verwandtschaft mal ganz abgesehen. Gerhard fragte sich manchmal, wie es sein konnte, dass Ali solche Unmengen an Nah- und Fernverwandten in ganz Berlin hatte. Vor allem, wenn man bedachte, dass seine Familie erst seit zwei Generationen hier lebte. Er stellte es sich sehr anstrengend vor, keine Entscheidung treffen zu können, ohne dass mindestens ein Großonkel pikiert war, weil dessen ungefragte Mithilfe nicht geschätzt wurde. Andererseits – und vielleicht wog diese Tatsache alles wieder auf – andererseits war Ali auch nie allein. Gerhard verbrachte seine Abende mit Heinrich. Manchmal wäre da der ein oder andere Verwandte auch irgendwie … schön.

    Ali nahm noch einen Schluck von seiner Rauchbrause und sah Gerhard an.

    »Kommst du aber schon? Zum Gucken?«

    »Wann?«

    »Na, immer. Jeden Tag. Gucken, dass ich den Laden nicht in’ Sand setze«, er grinste breit, »und irgendwer muss diese ekligen Nil wegkaufen, die bestelle ich nur wegen dir.«

    Gerhard musste lachen. »Ick versprech et dir.«

    Hinter Ali tauchten zwei bekannte Gestalten auf. Die beiden sahen mindestens so deplatziert aus wie Gerhard sich fühlte. Diese beeden. Er grinste sie an. Wie zwei Haare in der Suppe schoben sich Jürgen und Detlef durch die immer größer werdende Menschenmasse.

    »Mensch, Gerry«, Detlef schnaubte, »ick wär hier fast vorbeijeloofen. Erkennt man jarnich wieder.«

    Jürgen schlug einen Haken um ein blondes Mädchen im bauchfreien Top, das gerade aus dem Pulk tanzte und sich wie ein

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1