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Die Kunst des Übergangs: Gedichtetes Verdichtetes Geschichtetes aus 50 Jahren
Die Kunst des Übergangs: Gedichtetes Verdichtetes Geschichtetes aus 50 Jahren
Die Kunst des Übergangs: Gedichtetes Verdichtetes Geschichtetes aus 50 Jahren
eBook353 Seiten4 Stunden

Die Kunst des Übergangs: Gedichtetes Verdichtetes Geschichtetes aus 50 Jahren

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Über dieses E-Book

Die Kunst des Übergangs
Gedichtetes Verdichtetes Geschichtetes aus 50 Jahren

Mit der Zeit bin ich dahintergekommen, dass ich immer an derselben Geschichte erzähle: The Story of Chaos.
Aus dem Nebel, der die Welt noch immer bedeckt, ragen nur Bruchstücke eines Gebirges, die ich nach ihrem unterschiedlichen Bewuchs, Farbe, Bruch, Faltung und so weiter zu einer Folge zusammenfasse, ihr einen Rhythmus gebe, sie phrasiere und sie später vielleicht in einer ganz anderen Umgebung verwende.
Mein Gedächtnis ist ein Steinbruch. Ich sammle Bruchstücke meiner Erinnerungen und gebe ihnen einen Rhythmus, damit sie Teil eines neuen Ganzen werden, das aber auch nur ein Bruchstück von einem noch größeren Ganzen ist. Und das wieder ein Teil von einem noch umfassenderen Ganzen. Und so weiter und so weiter bis zum nächsten Urknall. Wer jetzt aber glaubt, dass es mir darum geht, für den Kunstleistungsschein aus den Scherben eines Bahnhofsklos ein Mosaik zu basteln, der irrt. Ich will nur spielen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum22. Juli 2022
ISBN9783756291656
Die Kunst des Übergangs: Gedichtetes Verdichtetes Geschichtetes aus 50 Jahren
Autor

Dietrich Rauschtenberger

Dietrich Rauschtenberger begann Mitte der fünfziger Jahre Schlagzeug zu spielen; er war Mitglied verschiedener Show- und Jazzkapellen im Raum Wuppertal. 1960 traf er Peter Brötzmann und gründete mit ihm und Peter Kowald ein Trio, das sich als eine der ersten Gruppen in Europa dem Freejazz widmete. In der Folgezeit gründete er mit Eugen Egner und Dietmar Wehr die Gruppe Gorilla Moon. Er spielt weiterhin im Wuppertaler Improvisations-Orchester. Seit den siebziger Jahren stellt er seine Texte zusammen mit seiner Musik in Musik-und-Literatur-Projekten vor, u.a. in einem Duo mit seiner Frau Brigitte Gregor. Seit 1986 war er in verschiedenen Theaterinszenierungen als Musiker oder Darsteller aktiv. Sein Theater-Solo "Die Kunst ein Schlagzeug aufzubauen" spielte er mit großem Erfolg von 2002 bis 2012. Das darauf basierende Hörspiel "Wie wir den Free Jazz erfunden haben" wurde 2005 mit Rolf Becker als Sprecher produziert. Er veröffentlichte Kurzgeschichten und Essays in verschiedenen Anthologien und Jazzzeitschriften: Heute ist morgen gestern, Klinx, 1979 Von Menschen und Maschinen, Klinx, 1984 Mehr Rohr, Klinx, 1994 (Neuauflage: Romanfürsorge Wuppertal, 2004) Jazz und Ikebana, Das fünfte Tier: Luzern 2009 Trombeck - Wie wir den Freejazz erfunden haben, kuk-Verlag, 2014 Ruhrstraße 33 Heimatroman, Nordpark-Verlag Wuppertal 2017

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    Buchvorschau

    Die Kunst des Übergangs - Dietrich Rauschtenberger

    Inhaltsverzeichnis

    INTRO

    JETZT ODER NIE

    ALLES ANDERS VORGESTELLT

    DURCHMÜLL

    DIE KUNST DES ÜBERGANGS

    MEHR ROHR

    DIE UNTERE SEITE DES WINDES

    DIE NEUE ZEIT

    RECHTSLINKSSCHWÄCHE

    DIE EINSCHIENENBAHN

    DIE QUEEN

    KLONE

    HEILIGABEND IM SAUERLAND

    MONDFINSTERNIS

    MR WINTERBOTTOM‘S DOG

    DER ZEITBEUGER

    WIE WIR DEN FREEJAZZ ERFUNDEN HABEN

    ZWEI MAL ZWEI IST FÜNF

    DAS GEHEUL DER MASCHINENWÖLFE

    DER FETTE BASSIST

    KNÖPFE

    DER HALBE SOLDAT

    LANDSKNECHTE

    EIN OPFER SEINES HOBBYS

    DAMALS

    FÄHRSSE MIT NACH MALLE

    DER ZAUBER DES ORTES

    KULTSTÄTTEN

    ZEIT

    KLIRR

    BLANCK GEHT ÜBER DIE WUPPER

    VOM LOCH ZUM ROHR – VOM STAB ZUM SAXOFON

    FORTSCHRITT

    WARUM DIE SAURIER VOM STAB ZUM SAXOFON

    RECHT AUF LIEBE

    ALLES WIE FRÜHER

    KINDER, KAUFT KÄMME, ES KOMMEN LAUSIGE ZEITEN

    DAS LIED VOM KLEINEN PETER

    ES WAR EINMAL EIN MÄRCHEN

    AM TAG ALS DIE WASCHANLAGE SICH SELBST GEWASCHEN HAT

    RHYTHMUS

    „Die Summe aller Scheiße bleibt konstant!"

    (Volksweisheit)

    INTRO

    Vor fünfzig Jahren habe ich die Romane von Henry Miller bewundert, einen der großen Schriftsteller des 20. Jhs. In seinem Buch ‚Mein Leben und meine Welt fragt er, wie man einen Text anfängt, und antwortet: „Ich habe einen Trick gefunden, den die Surrealisten entdeckt haben… dass man hinschreibt, was einem in den Sinn kommt – Unsinn, ohne Kommas, ohne Punkte, ohne irgendeinen Aufbau, bis das, was man sagen wollte, langsam rauskommt. Dann streicht man den ganzen vorausgehenden Ausschuss. Die Situation kannte ich: Vor einem leeren Blatt Papier zu sitzen und nicht zu wissen, wie ich meine Geschichte anfangen sollte. Millers Methode, in einen Text einzusteigen, erinnerte mich an das Konzept der frei improvisierten Musik: Wir gingen auf die Bühne und spielten in der Hoffnung drauflos, dass sich eine Form ergab. Ich verstand Henry Millers Vorschlag als freie Improvisation beim Schreiben.

    Anfangs habe ich die mit der Schreibmaschine beschriebenen Blätter zerschnitten und in anderer Folge zusammengeklebt, wobei ich weggelassen habe, was mir nicht gefiel. Das Ergebnis habe ich mit Tipp-Ex behandelt, überschrieben und kopiert. Weil es damals in Schwelm noch keinen Copyshop gab, musste ich zum Kopieren nach Wuppertal-Barmen fahren, für einen Text manchmal mehrere Male. Den Winter 1989/90 habe ich auf Mallorca verbracht. Ein Freund meiner Tochter arbeitete bei einer Werbeagentur in Can Pastilla. Bei einem Besuch führte er mir vor, wie er am Computer mit PageMaker Textblöcke markierte und dahin verschob, wo er sie haben wollte. Zurück in Deutschland habe ich mir sofort so eine Zaubermaschine gekauft und ersetzte schneiden und kleben durch copy and paste.

    In diesem Buch möchte ich Sie mitnehmen auf eine Zeitreise. Unser Fahrzeug ist die Fantasie. Steigen Sie ein!

    Mein Gedächtnis ist ein Steinbruch. Ich sammle Bruchstücke meiner Erinnerungen und gebe ihnen einen Sinn, damit sie Teil eines neuen Ganzen werden, das aber auch nur ein Bruchstück von einem noch größeren Ganzen ist. Und das wieder ein Teil von einem noch umfassenderen Ganzen. Und so weiter und so weiter bis zum nächsten Urknall. Alles, was ich habe, um eine Geschichte zu erzählen, sind Gedankenfetzen, die ich von dem großen Tuch abgerissen habe, aus dem die Welt gewebt ist. Ich habe daraus dem Kaiser kein neues Kleid geschneidert, sondern sie in Worte verwandelt. Das Gewicht meiner Gedanken ist gleich ihrer Masse mal dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit. Das ist alles, was Sie wissen müssen, um die Tyrannei des gesunden Menschenverstandes und den Terror der Denkmuster zu überwinden. Folgen Sie den Spuren der Buchstaben, dann wird es Ihnen gelingen, nirgends anzukommen.

    Alles ist Übergang.

    ‚Die neue Zeit‘ und ‚Das Lied vom kleinen Peter‘ sind Liedtexte, die ich 1974 für die Band ‚Klinx‘ geschrieben habe. ‚Jetzt oder nie‘ habe ich 2022 beendet. Alle anderen Texte sind in den Jahren dazwischen entstanden, ich habe sie überarbeitet und aktualisiert. Ich danke den vielen Menschen, die mir mit positiver und auch mit negativer Kritik geholfen haben. Vor allem danke ich Kirsten Rönfeldt, eine gute Freundin, die das Umschlagcover und das Text-Layout besorgt und mich bei allen Fragen der grafischen Gestaltung unterstützt hat. Zu ‚Die Kunst des Übergangs‘ hat mein Freund Michael Sievert einen wichtigen Beitrag geleistet. Petra Rosenthal und Katharina Gregor haben die Texte auf rechtschreibliche und grammatikalische Fehler geprüft, nicht aber lektoriert hinsichtlich des Inhalts und Stils. Mein besonderer Dank gilt Brigitte Gregor, meiner Ehefrau, die mich seit vielen Jahrzehnten begleitet. Ohne sie wäre dieses Buch nicht möglich gewesen.

    Schwelm im Mai 2022

    Dietrich Rauschtenberger

    JETZT ODER NIE

    Remco Engveld hörte die Musik schon von draußen, bevor er die Tür zu der Bar öffnete. ‚Bad Moon Rising‘, Creedence Clearwater Revival. Als er noch hier gedealt hatte, hieß der Laden ‚Blow Up‘ und war einer von Remcos Ankerplätzen gewesen, jetzt hieß er ‚Absturz‘ und genauso sah er auch aus. Die Musik war okay, die Botschaft nicht: „Hope you are quite prepared to die." Nein! Remco war nicht bereit zu sterben, er blieb an der Tür stehen. Das tat er immer, wenn er ein Lokal betrat, daran war er gewöhnt. Für ihn als Dealer war es überlebenswichtig, sich einen Überblick zu verschaffen.

    An der Bar hockten zwei junge Männer, der eine mit blondierten Haaren bis auf die Schultern, der andere mit einer glänzend polierten Glatze, am anderen Ende der Bar langweilte sich eine punkig aufgetakelte Frau. Früher war der Laden jeden Abend gerammelt voll gewesen, jetzt war nur ein Tisch besetzt, unter dem bekannten Poster, auf dem Arbeiter hoch über Manhattan auf einem Stahlträger sitzen und unbeeindruckt von der schwindelnden Höhe eine Mahlzeit einnehmen, redete eine junge Frau auf ihren Freund ein. Remco sah niemanden, der ihm gefährlich werden könnte. Dass die Punk-Lady solo war, sah er sofort, wenn irgendwo ein Begleiter gewesen wäre, hätte sie nicht so offensichtlich seinen Marktwert taxiert. Schon wie sie auf dem Barhocker saß, war eine Einladung, wahrscheinlich wartete sie auf einen Freier. Vielleicht war es ihre Haltung zum Leben, auf nichts Bestimmtes zu warten. Sie machte auf Remco den Eindruck, dass sie die Hoffnung aufgegeben hatte, da käme noch irgendwas. Ihr Outfit sollte wohl punkig wirken, aber die Klamotten waren farblich zu sehr aufeinander abgestimmt, wenigstens für Remcos Geschmack. Unter einer schwarzen Militärjacke mit goldgelben Knöpfen trug sie ein schwarzes T-Shirt, auf dem in gelber Schablonenschrift REJECTED stand, ein schwarzer Lederrock (extrem kurz) ließ viel Fleisch sehen, schwarze Handschuhe bis zu den Ellenbogen (affig), darüber gelbe und schwarze Armreifen (mehr ging nicht), ihre schwarzen Haare (gefärbt?) waren mit einer gelben Schleife zusammengebunden, ein Büschel stand wie ein Hexenbesen seitlich ab (albern), an ihrem linken Nasenflügel ein Schmuckstein (gelb), um das schwarze Stiefelchen am linken Bein baumelte eine Uhr an einem gelben Plastikband.

    Hinter der Bar stützte sich ein junger Mann mit seinen athletischen Armen auf den Tresen, er las in einer Illustrierten mit bunten Bildern, schwarzer Dreitagebart, enges T-Shirt, das seine Muskeln betonte. Er nahm Remcos Ankunft mit einem Nicken zur Kenntnis und blätterte weiter. Remco hatte es nicht eilig, begleitet von hungrigen Blicken der beiden hübschen Jungs suchte er einen Tisch, von dem er den Raum überschauen konnte, ohne selbst vom Eingang aus gesehen zu werden. Er fand einen passenden zwischen einer üppigen Zimmerlinde und einer antiken Telefonzelle, setzte sich und streckte die Beine aus. Den beiden Jungs an der Bar fielen fast die Augen aus dem Kopf, wahrscheinlich hielten sie ihn wegen des Zopfes in seinem Nacken und seiner Sonnenstudio-Bräune für einen von ihnen. Die Punklady spielte nervös mit den Armreifen, sie schien das Interesse an ihm schon wieder verloren zu haben. Rejected, dachte Remco. Seine Hand tastete nach dem Kris in der Innentasche der Lederjacke.

    Damals hatten die Kiffer hier auf ihn gewartet wie auf den Messias. Tatsächlich hatte er mit seinem schwarzen Bart und den langen, lockigen Haaren, Ähnlichkeit mit einem kitschigen Jesus gehabt und er hatte ihnen eine Kostprobe vom Paradies verkauft. Dass sich das Paradies bei manchen in eine Hölle verwandelte, hatte ihn nicht interessiert. Die Kiffer waren nicht nur aus dem Ruhrpott gekommen, um von ihm, dem Holländer, astreines Dope zu kaufen, sie reisten auch aus dem Bergischen und aus dem Sauerland an. Es waren goldene Zeiten für Remco. Seine Kunden konnten sich darauf verlassen, dass es bei ihm keine Linkereien gab. „Even kijken. ’n Trip bij? Lekker!" Gras war damals selten gewesen, weil in holländischen Treibhäusern noch nicht Hanf in großem Stil angebaut worden war, dafür gab es alle Sorten Haschisch. Standard war der grüne Stoff, der zwar grüner Türke hieß, aber aus Marokko kam, selten im Angebot hatte er schwarzen Afghanen oder roten Libanesen. Manchmal hatte er auch LSD-Trips. Als er noch auf eigene Rechnung arbeitete, hatte er nicht mit harten Drogen gedealt, das änderte sich erst, als er von Frits Tebbe abhängig wurde.

    Remco streckte die Beine von sich und dachte darüber nach, wie es weitergehen sollte. In der Glastür der altmodischen Telefonbox, neben der er saß, spiegelte sich sein Gesicht überlagert von den bunten Lichtern eines Spielautomaten. Es war noch dieselbe Box, aus der er Laura angerufen hatte. Damals hatte es darin ekelhaft nach kaltem Zigarettenqualm und saurem Schweiß gestunken. Er wunderte sich, wieso man sie noch nicht entfernt hatte. Zwischen der Box und einem Spielautomaten spannte sich ein Spinnennetz, in dem ein haariges, schwarzes Ungeheuer auf Beute lauerte, fett und bösartig wie Frits Tebbe.

    Frits Tebbe! Er hatte ihn im Christelijke Hoop Kinderhuis in Amsterdam kennen gelernt. Das Jugendamt hatte Remco dorthin überwiesen, nachdem seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. In einem langern, schmerzhaften Prozess, begriff er, dass Tote tot sind und tot bleiben. Richtig verarbeitet hatte er es nie. Im Kinderheim gewöhnte er sich daran, krumme Dinger zu drehen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Er nahm sich, was er brauchte, auch mit Gewalt, wenn man es ihm nicht freiwillig geben wollte. Wenn er anderen wehtat, spürte er seinen Schmerz nicht mehr. In dem Kinderheim gab es einen Erzieher, Henk Braakman, der Gitarre spielte und versuchte, durch die Musik Zugang zu den Jugendlichen zu bekommen. Von Henk lernte Remco Gitarre zu spielen. Das gab seinem Leben eine Richtung.

    Einer von Henks Gitarrenschülern hieß Frits Tebbe. Remco und Frits übten gemeinsam, dabei freundeten sie sich an und verbrachten ihre freie Zeit zusammen. Obwohl er ein Jahr jünger war als Remco, bestimmte Tebbe meistens, wo es lang ging. Er hatte viel kriminelle Energie und besorgte Wein, Schnaps, Drogen und willige Mädchen. Die tröstliche Wirkung von Alkohol kannte Remco schon, von Tebbe lernte er, Gras zu rauchen, was noch verbotener war als Alkohol. Tebbe war es auch, der auf die Idee kam, eine Band zu gründen. Er überzeugte einen Jungen namens Pieter, auch einen von Henks Gitarrenschülern, sich mit Remco bei Melodie- und Rhythmusgitarre abzuwechseln. Er selbst wollte Bass spielen. Sie brauchten also noch einen Schlagzeuger. Remco hörte im Garten des Kinderheims einen Jungen auf Bongos trommeln. Es war Aldert, von dem er wusste, dass er unter der Hand Zigaretten, Alkohol und Süßigkeiten verkaufte. Woher er das Zeug hatte, war sein Geheimnis. Er hörte eine Weile zu und als ihm das Trommeln gefiel, fragte er Aldert, ob er Lust hätte, bei ihnen Schlagzeug zu spielen. Nein, hatte er nicht! Gitarre ja, Schlagzeug nein! Remco versuchte, ihn zu überreden, aber vergebens. Die Bongos nahm Aldert nicht ernst, er sah sich als Gitarrist. Dann sagte Tebbe, Remco solle den Fall ihm überlassen und plötzlich wollte Aldert doch. Wie Tebbe ihn davon überzeugt hatte, dass Schlagzeug doch das richtige Instrument für ihn war, erfuhr Remco erst später. Tebbe hatte herausgefunden, woher Aldert die Ware hatte, die er im Heim verkaufte. Er hatte zufällig ein Fenster entdeckt, durch das er in das Lager eines Albert-Heijn-Supermarkts einsteigen konnte. Tebbe hatte Aldert gedroht, sein Geheimnis zu verraten. Damit war die Band vollständig. Keiner von ihnen hatte als Musiker große Fähigkeiten, aber in den achtziger Jahren, genügte es nach Ansicht vieler junger Leute, wenn man drei Akkorde auf der Gitarre greifen konnte, um eine Band zu gründen. Und wenn man dann noch im Widerstand war, gleichgültig gegen was, war man Punk. Und im Widerstand waren sie alle. Das war die Hauptsache. Tebbe bestimmte auch, wie die Band hieß, er fand, das deutsche Wort ‚Krach‘ wäre der richtige Name für eine Punk-Band. Was anderes als Punk kam sowieso nicht in Frage.

    Als Remco und Frits aus dem Heim entlassen wurden, Pieter und Aldert aber noch blieben, suchten sie in Amsterdam Ersatz für sie. Tebbe erwies sich als guter Organisator, er akquirierte Auftritte. Zuerst in den Nachbarstädten. Sie spielten in Haarlem, Den Haag, Rotterdam, Utrecht, Hilversum. ‚Krach‘ wurde immer bekannter, bald kamen auch Punks aus Deutschland und Belgien. Tebbe organisierte Tourneen durch Frankreich und Italien konnte, sie wurden sogar nach England eingeladen. Ein paar Jahre lief es so gut, dass Remco von der Musik leben konnte.

    Eines Tages verkündete Tebbe, er würde aussteigen. Das war der Anfang vom Ende. Musikalisch war es kein großer Verlust, sie fanden schnell einen anderen Bassisten, aber als Tebbe keine Auftritte mehr akquirierte, ging es rasend schnell bergab. ‚Krach‘ löste sich auf und Remco bekam keine Engagements mehr und wenn doch, waren sie schlecht bezahlt. Es dauerte nicht lange, bis er die Miete für sich und seine Freundin Laura nicht mehr bezahlen konnte. Der Vermieter drohte, sie vor die Tür zu setzen. Um das zu verhindern, nahm Remco einen Job bei Aldert an, den ersten Schlagzeuger von ‚Krach‘, zu dem der Kontakt nicht abgerissen war. Sie hörten zusammen Musik, wobei sie viel kifften. Aldert hatte sich nach dem Kinderheim mit der Reparatur und dem Verleih von Verstärkeranlagen über Wasser gehalten. Wenn Remco und Aldert in der Werkstatt Bami Goreng vom Chinesen gegessen, ein paar Flaschen Grolsch getrunken und dazu diverse Joints geraucht hatten, kamen sie umgeben von Lautsprecherboxen und Flightcases ins Philosophieren. Meistens ging es um Frauen, wobei Alderts Problem war, dass er keine und Remcos, dass er eine hatte.

    „Seitdem ich mit Laura zusammen bin, kommt mir das weibliche Bewusstsein manchmal vor wie das Gegenstück zu meinem."

    „So ähnlich wie ein Negativ, meinst du?"

    „Weiß nicht. Kommt vielleicht drauf an, ob man es als Mann sieht oder als Frau."

    „Versteh ich nicht."

    „Ich auch nicht."

    „Vielleicht müssen wir noch einen durchziehen."

    „Das wird’s sein. Am besten ich dreh noch einen …"

    Alderts Geschäft litt unter seinem Drogenkonsum, er bekam immer weniger Aufträge und hatte keine Arbeit mehr für Remco, der keinen anderen Ausweg sah, als für Frits Tebbe zu dealen. Mit der Zeit wurde er finanziell abhängig von ihm. Tebbe hatte schon mit Drogen gehandelt, als er noch bei ‚Krach‘ Bass gespielt hatte, inzwischen war er ganz ins Drogengeschäft eingestiegen. Skrupellos und brutal war er schon immer gewesen, inzwischen kam es ihm offenbar auf eine Leiche mehr oder weniger nicht an. Sein Erfolgsrezept war, Konkurrenten zu beseitigen, bevor sie ihm zuvorkamen. Obwohl er keiner von den ganz großen Drahtziehern war, hatte er es zu einem Luxus-Apartment in Sporenburg gebracht, er besaß einen Jaguar X-Type und ein Segelboot, auf dem er mit Geschäftspartnern und seinen meist blonden Gespielinnen über das Ijsselmeer schipperte. Es ging gut, bis zu dem Segeltörn, bei dem Remco Tebbe und Laura beim Sex überraschte. Tebbe hatte Laura natürlich mehr zu bieten als ein kleiner Dealer. Sein Hass auf Tebbe wuchs und er begann darüber nachzudenken, wie er sich aus der Abhängigkeit von ihm befreien konnte. Es gab nur eine Möglichkeit: Er musste aufhören, für ihn die Drecksarbeit zu machen. Aber wie?

    Aldert brachte ihn auf eine Idee. Sie hatten sich bei einem Konzert der Gruppe ‚Piss Off‘ getroffen und in Alderts VW-Bulli einen Joint mit Remcos hervorragenden Schwarzen Afghanen geraucht. Nach dem Konzert hatte Aldert, der anscheinend wieder zu Geld gekommen war, in einem Café einen ausgegeben. („Pilsjes en‘n paar borreltjes Jenever!") Aldert redete und redete und redete: …er habe jetzt ein Tonstudio, in dem er New-Age-Musik aufnähme…das sei jetzt total angesagt…Meditation sei zwar nicht so sein Ding, das sei mehr was zum Einschlafen, aber man könne damit Geld verdienen...überhaupt sei Musik aus Asien der letzte Schrei, weswegen jetzt viele Schlagzeuger mit Gongs arbeiteten...ob Remco schon mal indonesische Gamelan-Musik gehört habe, die würde mit Gongs gespielt...er habe daran gedacht, nach Indonesien zu fliegen, da billig Gongs zu kaufen und dann hier teuer zu verkaufen...sei aber noch nicht dazu gekommen…

    Alderts Idee ging Remco nicht aus dem Kopf. Vielleicht war der Handel mit Gongs aus Indonesien die Chance, auf die er gewartet hatte. Er war das Leben in den Niederlanden leid. Wenn er nur an den Winter dachte, den er jedes Jahr mehr hasste, weil er so nass und kalt war. In dem Jammertal um die Weihnachtszeit flatterten in seinem Innern Vampire über einem See von giftiger, schwarzer Unergründlichkeit. Um den Plan durchzuführen, brauchte er Startkapital. Er fragte Tebbe. Wen sonst?

    „Gongs?, sagte Tebbe. „Bist du jetzt komplett verrückt?

    „Ich will hier raus, Frits, kapierst du das nicht? Ich hab die Nase voll vom Leben in Holland."

    „Sorge ich nicht gut für dich? Willst du wieder Haschisch an pickelige Deutsche verkaufen? Du wirst es nie schaffen, Remco!" Tebbe führte er sich auf wie ein Mafia-Pate, es war ekelhaft, wie Remco sich vor ihm erniedrigen musste, fehlte nur noch, dass er verlangte, ihm die Hand zu küssen. Aber er gab ihm einen Vorschuss.

    Leider behielt er recht: Das Geschäft war ein Flop. Zwar hatte er ein paar Gongs kaufen und den Transport nach Rotterdam zu erträglichen Konditionen organisieren können, aber was er verdient hatte, war den Aufwand nicht wert. Obendrein hatte er danach Schulden bei Tebbe, seine Abhängigkeit war also noch drückender geworden. Letzen Endes war von dem Abenteuer nur ein malaiischer Dolch übriggeblieben, den er auf der Insel Lombok zusammen mit einem hübschen, gebatikten Tuch gekauft hatte, um ihn Laura zu schenken. Und dann war sie nicht am Schiphol gewesen, um ihn abzuholen. In der Wohnung war sie auch nicht. Tebbe hatte sie ihm ausgespannt. Als Remco ihn zur Rede stellte, hatte er fett gelacht und nannte es abgeworben.

    „Wir werden uns doch nicht wegen einer Nutte streiten, Remco, wir haben sie uns doch immer geteilt, oder?"

    Das waren Mädchen gewesen, die nach den Auftritten mit ‚Krach‘ gerne mit ins Hotel gegangen waren. Mit Laura wäre das was anderes, hatte Remco gedacht, aber da hatte er sich wohl geirrt. Gegen Tebbe hatte er keine Chance. Man schwamm schneller als Leiche in einer Gracht, als ein Fahrrad geklaut war. Bis dahin hatte er nicht gewusst, dass er so hassen konnte. Er hatte die Zähne zusammengebissen und Rache geschworen. Es dauerte ein Jahr, bis er eine Chance sah sich zu rächen.

    Remco war kein Killer, wegen Tebbe wäre er beinahe doch noch zu einem geworden. Bei seinem Plan war er davon ausgegangen, er könnte das Ding elegant und ohne Gewalt durchziehen. Eine Schusswaffe besaß er nicht, hatte nie eine besessen, schießen war in dem Bürohochhaus sowieso nicht angesagt. Als er jedoch seinen Personalausweis aus der Schublade genommen hatte, war ihm der malaiische Dolch aufgefallen, den er von der Reise nach Indonesien mitgebracht hatte. Einer spontanen Eingebung folgend hatte er ihn in eine Tasche seiner Lederjacke gesteckt.

    Er war überzeugt, dass Tebbe anbeißen würde, weil er sich beim Kauf des Apartments in Sporenburg finanziell übernommen hatte. Um ihn für den Deal zu interessieren, hatte er ihn vor ein paar Wochen zum Konzert einer Band eingeladen, die angeblich so eine Musik machte, wie sie früher mit ‚Krach‘. Danach hatten sie in einem Café den Ablauf besprochen. Angeblich hatte er einen deutschen Kunden, der ein paar Kilo Kokain kaufen wollte. Er habe ihm gesagt, in Amsterdam gäbe es nur einen, der wirklich reinen Stoff besorgen könne. Tebbe hatte gönnerhaft genickt, aber jetzt in der Tiefgarage war er misstrauisch und kalt. Er stellte den Motor des Jaguars ab und drückte Remco ohne Warnung den ernüchternd kühlen Lauf seiner Pistole an die Schläfe. Die Tage, die sie mit Tebbes Boot auf dem Ijsselmeer verbracht hatten, waren vergessen, auch die Jahre, die sie zusammen auf der Bühne gestanden hatten, zählten nicht mehr. Tebbes von Gel glänzenden Haare berührten Remcos Wangen. „Keine Tricks", sagte er. Sein widerliches Parfüm stieg Remco in die Nase. Draußen brauste der Feierabendverkehr.

    Er hatte wochenlang in Amsterdam gesucht, bis er ein geeignetes Büro gefunden hatte. Dem Makler hatte er einen falschen Namen angegeben, bezahlt hatte er mit einer gefälschten Kreditkarte. Angeblich vertrat er eine deutsche Firma, die mit Zubehör handelte, um Autos aufzumotzen: Lederlenkräder, Totenköpfe für Schalthebel, Fan-Aufkleber, Wimpel und ähnlichen Schnickschnack.

    „Das Geld will ich in Fünfzigern. Und keine Tricks!"

    „Ich hab‘s ja begriffen, Tebbe. Remcos Grinsen fror ein. „Wir liefern und kassieren. Du wirst sehen, es ist cool.

    Tebbe ließ die Waffe wieder unter der Achsel verschwinden und drückte ihm den Koffer in die Hand. Erst marschierten sie durch eine von Gold, Silber und kostbaren Stoffen schimmernde Passage, in der Frauen mit harten Augen Shopping machten, bewacht von Security-Männern in schwarzen Uniformen. Tebbe immer einen Schritt hinter Remco. Danach verließen sie die Zone des Luxus und betraten einen mit Müll und Ölflecken bedeckten Hinterhof. Ein Aufzug trug sie in eine schäbige Bürowelt, die nach billigem Kaffee und Tabakqualm, Putzmitteln und Heizöl stank, mit endlosen Fluren und einer verwirrenden Zahl von Türen. Remco spürte Tebbes Nervosität im Rückgrat, ihm war klar, je nervöser Tebbe war, desto gefährlicher wurde er. Schließlich waren sie vor der richtigen Tür. Nun kam es drauf an. Auf dem Schild stand in schlichten Lettern der Name, unter dem Remco das Büro gemietet hatte:

    STEFAN SASSE

    MOTOR TUNING IMPORT – EXPORT.

    Tebbe hatte seine finsterste Miene aufgesetzt. Remco nahm an, dass er ihn für zu feige hielt, um ihn zu linken. Aber sicher war er nicht. Was war schon sicher in dieser Scheißwelt? Er spürte ein innerliches Zittern, er hatte Angst. Sein Plan hatte einige Schwachstellen, aber vor der Tür war es besonders gefährlich.

    „Ich rede mit ihm, okay?"

    Neben der Tür war eine pompöse Klingeltafel aus matt schimmerndem Metall mit Lautsprecher, Mikrofon und Kameraauge. Er versuchte ein neutrales Gesicht zu machen, irgendwas zwischen treuherzig und naiv. Er betätigte die Klingel. Wenn es funktionierte, hatte es sich gelohnt, dass er sich bei der Arbeit in Alderts Werkstatt Kenntnisse über Elektronik angeeignet hatte. Wenn nicht, war er am Arsch. Schweiß tropfte aus seinen Achselhöhlen und rann an den Armen herab. Er drückte mit der linken Hand den Knopf in der Hosentasche.

    „Hör auf, dir an den Eiern zu spielen!", zischte Tebbe.

    Remco fuhr zusammen. War Tebbe misstrauisch geworden? Er zwang sich zu einem Grinsen. Den Trick mit dem Sender in der Tasche hatte er tagelang geübt. „Sie sind nicht alleine, quäkte die Sprechanlage. „Er soll verschwinden! Tebbe ließ sich nicht gerne befehlen, er griff nach seiner Waffe und hob den Fuß, als wollte er die Tür eintreten. Remco hatte die Stimme aus einem deutschen Film kopiert und sich darauf verlassen, dass Stimmen aus Sprechanlagen immer unangenehm künstlich klingen. Er zeigte mit dem Kinn auf das blinde Kameraauge über der Tür. Tebbe schnaubte ungeduldig, verzog sich aber ans Ende des Korridors. Der Türöffner schnarrte, Remco zwängte sich mit dem Koffer durch die Tür. Tebbe hatte keinen Verdacht geschöpft.

    Das Büro war vollkommen leer, die Wände kahl mit hellen Stellen, wo Bilder gehangen hatten, aus Löchern in den Wänden ragten Kabel von demontierten Schaltern, durch das Fenster, das die gesamte Breite des Raumes einnahm, bot sich das eindrucksvolle Panorama des Amsterdamer Hafens, doch dafür interessierte sich Remco nicht. Mit fliegenden Fingern klemmte er die Kabel ab, die den Türöffner, die Sprechanlage und einen Walkman mit der elektronischen Steuerung verbanden, die er gebaut und am Tag zuvor installiert hatte, und warf alles zusammen mit der Fernbedienung in den Müllschlucker.

    Das Besondere an diesem Büro war ein zweiter Ausgang zu einem Lastenaufzug, der ihn zu dem Parkdeck brachte, wo er am Vorabend seinen Renault 16 geparkt hatte. Wenn Tebbe begriffen hatte, was geschehen war, würde er ins Büro wollen, er war nicht der Typ, der brav draußen stehen blieb, er würde wahrscheinlich die Tür aufbrechen. In solchen Fällen war er nicht kleinlich. Natürlich hatte er keine Ahnung, was ihn hinter der Tür erwartete, deshalb würde es eine Weile dauern. Wie lange, wusste Remco nicht, hoffte aber, dann schon mit einem komfortablen Vorsprung auf der Autobahn nach Deutschland zu sein. Er musste so schnell wie möglich über die Grenze. Tebbe hatte schon Geschäfte in Deutschland gemacht, bevor die Grenzkontrollen weggefallen waren, er hatte also Beziehungen, es war möglich, dass er beim Zoll jemanden schmierte.

    Seine Anspannung ließ erst nach, als er die Grenze bei Elten hinter sich hatte. Ein Gefühl des Triumphs durchdrang ihn, als er sich Tebbes dämliches Gesicht vorstellte, wie er mit wachsender Ungeduld auf dem Korridor gewartet und schließlich begriffen hatte, dass

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