November: Meine Zeit als politische Gefangene im Frauengefängnis Hoheneck
Von Angelika Schmidt
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Über dieses E-Book
30.12.1975: Des Sozialismus überdrüssig, unternehmen mein Mann und ich einen Fluchtversuch aus der DDR, der scheitert.
30.12.1975 – 29.06.1978: In den 30 Monaten unserer Haft müssen wir das wahre Gesicht der „Diktatur des Proletariats“ kennenlernen. Für 3 Monate ausgeliefert den tschechischen Justizbehörden; 8 Monate den Stasivernehmern; ihren Lügen und Intrigen; 19 Monate den „Erziehern“ und Wachleuten in Hoheneck, die auch brutal zugeschlagen haben.
29.06.1978 – 30.12.1979: Entlassung gegen unseren Willen in die DDR: Belegt mit Berufsverbot, Personalausweisentzug und damit Unterbindung aller Reisemöglichkeiten, Bespitzelung, dazu die Häme der Mitmenschen, die mit dem DDR-Regime
kollaborieren.
Ein berührender, schonungsloser Bericht einer ehemaligen politischen Gefangenen des DDR-Frauengefängnisses Hoheneck.
Angelika Schmidt
Angelika Schmidt wurde 1955 in Profen (Krs. Zeitz) Sachsen-Anhalt geboren. Pädagogikstudium. 1975 – 1978 Pol. Haft in der DDR. 1979 Tätigkeit als Krankenhilfspflegerin bei der Inneren Mission in Leipzig. Übersiedlung in die BRD. Ausbildung als MTA an der Dr.-Lobe-Schule Wiesbaden. Tätigkeit als MTA an der Uni-Klinik Mainz, Mitarbeit in der gynäkologischen Praxis des Ehemannes in Wiesbaden. Mutter zweier Kinder.
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Buchvorschau
November - Angelika Schmidt
Für
meinen Mann Ralf
meine Freundin Christel Schobeleiter
meine Haftkameradinnen Angelika Allers (Geli)
Heide-Lore Winkelmann (Winki)
Maria Schicker
Regina Eulenberger
Impressum
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN: 978-3-95894-160-1 (Print) / 978-3-95894-161-8 (E-Book)
© Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2020
(„An euch, die das neue Haus bauen", aus: Nelly Sachs, Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Herausgegeben von Aris Fioretos, Band 1: Gedichte 1940-1950. Herausgegeben von Matthias Weichelt. © Suhrkamp Verlag Berlin 2010)
Coverabb.: Stefan Kühn, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Frauengef%C3%A4ngnis_Hoheneck_2012-05-27_sk_(16).jpg, Creative Commons CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication
Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.
E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH
Inhalt
Meine Zeit als politische Gefangene im Frauengefängnis Hoheneck
Vorwort: Im Sommer
November 1976
Die Verhaftung – vom Sanssouci nach Budweis
Von Budweis nach Prag – Knedliky und eine Sirene
Mein erster Flug nach Berlin und Weiterfahrt ins „Lindenhotel" Potsdam
Anwälte kennen Latrinengerüchte und Vernehmer Krimis
Besuch von „Onkel" Hase (Name geändert)
Ein Kassiber gegen die Lügen
Der Prozess
Ankunft in Hoheneck
Freundinnen in Haft
Viele Hemden und ein Kuss
Das Killerballett, der Bettenschreck und Zählappell
Das Tor öffnet sich: zurück in die Unfreiheit
Erledigungen in Luckenwalde und Berlin
Profen
Ein neues Jahr und viel Arbeit im Stift
Eine Hochzeit, eine kleine Reise …
… und endlich unsere Ausreise
Nachwort
Danksagung
Literaturhinweise
Sogar den Wind
wollten sie fangen
im Flüsterland
als sich der Sand erhob
über das randvolle Weh
Gerd Börner
An euch, die das neue Haus bauen
Wenn du dir deine Wände neu aufrichtest –
Deinen Herd, Schlafstatt, Tisch und Stuhl –
Hänge nicht deine Tränen um sie, die dahingegangen,
Die nicht mehr mit dir wohnen werden
An den Stein
Nicht an das Holz –
Es weint sonst in deinen Schlaf hinein,
Den kurzen, den du noch tun mußt.
Seufze nicht, wenn du dein Laken bettest,
Es mischen sich sonst deine Träume
Mit dem Schweiß der Toten.
Ach, es sind die Wände und die Geräte
Wie die Windharfen empfänglich
Und wie ein Acker, darin dein Leid wächst,
Und spüren das Staubverwandte in dir.
Baue, wenn die Stundenuhr rieselt,
Aber weine nicht die Minuten fort
Mit dem Staub zusammen,
Der das Licht verdeckt.
Nelly Sachs
Familientreffen in Profen im Sommer 1973
Von vorn links im Uhrzeigersinn:
Cousine, Schwester, Mutter, Ich, Ralf, Cousin, Großmutter
Vorwort: Im Sommer
Mein Vater bringt mich in seinem großen Dienstwagen nach Profen. Die schlechte Luft aus der dortigen Brikettfabrik und der Schwelerei dringt in das Auto. Reisende auf der Bahnstrecke Leipzig-Gera erschnupperten es stets, ohne aus dem Fenster zu schauen oder eine Bahnhofsdurchsage zu hören: Jetzt sind wir in Profen. Aber ich atme den Gestank gern ein. Er verheißt: Ferien. Ich bin zehn Jahre alt.
Wir öffnen die Tür zum Hof vorsichtig. Der Wachhund auf dem Grundstück ist schlecht erzogen und bissig.
Meine Oma steht in der Küche und strahlt. Sie freut sich über unseren Besuch. Es duftet köstlich nach Bratkartoffeln. Omi verarbeitet ihre restlichen Kartoffeln vom Mittagessen immer zu Röstis. Sie stehen auf dem Kohleherd, werden langsam braun und verbreiten den Geruch von gebratenem Speck und Majoran. Natürlich dürfen wir gleich davon essen.
Im Schlafzimmer auf der Kommode mit der Marmorplatte stehen zwei Kuchenbleche: Hefeteig, Obst aus dem Garten, eine Masse aus Pudding und Quark und darüber Butterstreusel. Auch davon dürfen wir uns noch vor dem Schlafengehen ein Stück abschneiden; der Duft ist einfach zu betörend. Bei Omi dürfen wir eben alles. Auch abends ihre herrliche selbstgekochte Marmelade essen, keine Wurstbrote, wenn wir nicht mögen. Und heimlich mit meinem ältesten Cousin vom Eierlikör naschen, von Omi hergestellt aus den Eiern ihrer Hühner und „Kumpeltod" – Deputatschnaps für die Werktätigen im Bergbau.
Im Garten begrüße ich meine Tante und die drei Cousins. Tante Sonja sitzt unter einem großen Kirschbaum und bereitet die Herzkirschen auf das Einwecken vor. Ebenso verfährt sie im Herbst mit ihren geliebten Birnen „Clapps Liebling". In der DDR ist Obst immer ein Engpass und so bereiten sich vor allem die Frauen auf dem Land auf den Winter vor. An einem der nächsten Ferientage treffe ich die Nachbarstochter. Sie ist mein Jahrgang und lebt mit Eltern und Großeltern in einem Haus. Wenn alle vier Erwachsenen ausgeflogen sind, können wir es uns gemütlich machen, in der Speisekammer heimlich ein Schmalzbrot und eine eingelegte Salzgurke essen.
Meine Aufgabe wird wieder die Ernte der Johannisbeeren und Stachelbeeren sein, welche einen süffigen Obstwein ergeben. Der Glasballon steht immer auf einem Schränkchen in der Küche und ich beobachte die Gärung. Ich unterstütze meine Oma sehr gern im Haushalt und Garten: sie ist nur 40 Jahre älter als ich und noch berufstätig. Viele Kinder treffe ich hier jeden Sommer wieder. Einer heißt Ralf und gefällt mir immer besser.
Ich habe viele schöne Erinnerungen an die DDR: Kindheitserinnerungen, die Freiheit der Sommerferien.
Dazu gehören auch Erfahrungen mit Familien, die andere Werte haben als wir. Meine Eltern wirken nach außen hin fest verankert im System. Dabei ist es vor allem mein linientreuer Vater, der angepasst auch durch seinen Beruf die offizielle DDR-Haltung stützt. Anders meine Mutter: Was sie im Krankenhaus an Mangelwirtschaft und Kadergehorsam erlebt, erzählt sie uns. Oft ist sie kritisch und enttäuscht vom real existierenden Sozialismus. Ich glaube an die DDR, gestützt durch die vielen Gespräche mit meinem Vater beim Abendessen. Er schreibt in mein Poesiealbum, dass Karl Marx‘ Banner ein Drittel der Welt „beherrscht … trotz Spott und Hohn, trotz Mord und Krieg, trotz Mühsal und Beschwerde…" Mutti zitiert Goethe.
Direkt nebenan gibt es eine ganz andere Welt. An einem Nachmittag im Dezember sitze ich mit meiner Freundin Christel und ihren zwei Schwestern um den Adventskranz, gemeinsam mit meinen beiden Schwestern. Mir ist als atheistisch erzogenem Menschen gar nicht bewusst, dass Jesus an Weihnachten das Licht der Welt erblickt hat. Die Stimmung ist feierlich und ich hebe an zu sagen: „Es lebe … Alle rechnen mit „Weihnachten
, „Jesus oder etwas in der Art. Nein, bei mir ist es „… der Weltfrieden
. Das laute Gelächter habe ich heute noch im Ohr. Obwohl der Weltfrieden ja ganz im Sinne Christus ist – das ist mir damals nur noch nicht klar. Schon uns Kindern ist bewusst, dass es neben der konformistischen Haltung zum Staat und seiner Ideologie auch Alternativen gibt.
So lässt Christel die Jugendweihefahrt nach Ost-Berlin mit Aufnahme in die FDJ nur zusätzlich zur Konfirmation über sich ergehen, um Abitur machen und studieren zu können. Ihre Großmutter, eine ehemalige Gouvernante, lerne ich auch kennen. Sie lebt mit im Haushalt der Familie meiner Freundin. Die alte Dame ist sehr streng uns Mädchen gegenüber. Ich sehe sie noch vor mir mit ihren Rüschenblusen, Gemme, Kamee und die Haare im Nacken zu einem Dutt gebunden. Eine Frau, die während der Nazi-Zeit aus christlicher Überzeugung jüdische Nachbarn versteckt hat, wie ich viel später erfuhr. Die ganze Familie beeindruckt mich mit ihrer Haltung und ihrer Fähigkeit, sich eine gewisse Unabhängigkeit zu bewahren.
Dass schon Kindern ein hohes Maß an Anpassung abverlangt wird, lerne ich bei einer Kur im Kindererholungsheim. Zu Beginn der