Sommersprossen und Kondensstreifen: Miniaturen, Gedichte, Kurzgeschichten
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Über dieses E-Book
Solche Sätze verfangen sich im Gedächtnis der Autorin, wenn sie den Menschen zuhört.
Katharina Michel-Nüssli
Katharina Michel-Nüssli ist am 13. November 1964 geboren, im Tösstal aufgewachsen und lebt im Oberthurgau. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Die frühere Primarlehrerin engagiert sich im Jugendprogramm LIFT und ist freiberuflich als Lerntherapeutin und Jobcoach tätig. Ihre Aufmerksamkeit gehört den Menschen und ihren Geschichten. Sie setzt sich für eine intakte Natur und soziale Gerechtigkeit ein.
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Buchvorschau
Sommersprossen und Kondensstreifen - Katharina Michel-Nüssli
Inhalt
Vorwort
Geschichten am Weg
Menschliches
Sommersprossen
Blitzlicht
Vom Lebensmut des Richi S
Wanderer in Rot
Pablo
Auffahrtsbrücke
Rorschach Hafen
Gruppentherapie
Nachwuchsspiesser
Vater hat’s geschafft
Der wahre Trennungsgrund
Das Zeugnis
Gastgeber
Aufleuchten
Nachtbus
Logis
Abendgespräch
Lebens-Mittel
Rössli
Einkaufen
Junger, aparter Herr
Personalnotstand
Beim Friseur
Rastlose Wanderung
Der Ingenieur
Diskrete Verabschiedung
Lebens-Inhalt
Pandemisches
Sommeri-Wurm
Corona-Himmel
Plexiglas
Kontrolle vs. Desinteresse
Ruhe vor dem Sturm
Eine verlorene Geschichte
Ländliches
Bundesfeier
Dialekt
Quelle
Töss
Das Ende einer Flucht
Der Drogist
Heimat?
Land-Spaziergang im November
Magisches
Gartenfest
Die Voliere
Die Wunderblume
Begegnung im Mondwald
Amandas seltsame Heimkehr
Philosophisches
Hierarchien
Creme-Schnitt-en-Ge-Schicht-e
Altersweisheit
Nachruf
Die Ente
Organigramm
Dazugehören
Kräftige Wurzeln, schlank vernetzt
Seelenverwandtschaft
Die Farben der Wochentage
Abbrüche
Nachdenkliches
Quasselstrippe
Stille Begleitung
Im Alter
Der letzte Sonnenuntergang
Innen und aussen
Die weinende Frau
Feierabend
Schliessliches
Zwei ungleiche Hälften
Macht
Die Midlife Crisis des Peter G
Ehekrise
Später vielleicht
Nachwort
VORWORT
Geschichten am Weg
Mit wachen Augen, offenem Herzen und empfindsamem Gespür ist Katharina unterwegs. Nimmt die Menschen ihrer Umgebung nicht oberflächlich wahr. Sie erkennt in jedem und jeder die einzigartige Persönlichkeit mit ihrer einzigartigen Geschichte. Oft sind es Männer, Frauen, Jugendliche und Kinder, die kaum ins Rampenlicht kommen.
Die Geschichten von Richi S. und seinem Lebensmut, vom Drogisten mit verkürztem Bein, der plötzlich verstarb, oder vom Vierzehnjährigen, der nach schwierigen Zeiten den Rank doch noch findet, alle berühren. Sie berühren auch, weil wir alle Menschen mit solchen Geschichten kennen. Es gibt aber auch immer wieder Momente zum Schmunzeln! So die Philosophie der Ente: «Der Tag wird bringen, was er eben bringt.»
Nicht nur in Geschichten gibt Katharina Menschen ein Gesicht, die sonst wohl kaum wahrgenommen würden, auch in ihrem Beruf unterstützt sie junge Menschen auf ihrem Weg zu ihrer ureigenen Geschichte. Selbstvertrauen sollen sie lernen und die Überzeugung, dass sie und ihre Geschichte einzigartig sind. Solche Erfahrungen der Berufsfrau übertragen sich auf die Autorin.
Kostbare Miniaturen würde ich sie nennen, diese Geschichten, die das Leben in seiner ganzen Farbigkeit beschreiben.
Ruth Rechsteiner
MENSCHLICHES
Sommersprossen
Mit einem entschlossenen Ruck wurde der lange weisse Vorhang hinter der Balkontür zugezogen. Die Leichtigkeit der Bewegung liess auf eine Frau in den Dreissigern schliessen. Es war am frühen Samstagmorgen. Er war der einzige Besucher des Parks, der an den neuerbauten Wohnblock grenzte. Als er an der Fassade hochblickte, stellte er fest, dass etwa die Hälfte der Rollläden geschlossen war. Das beruhigte ihn ungemein, es gab ihm das Gefühl, einen Vorsprung zu haben gegenüber all den Langschläfern. Und er glaubte sich weniger beobachtet. Die unbedeckten Fenster waren wie Augen, die auf ihn herunterschauten. Er wollte für sich sein. Mit sich und seinen eigenen Gedanken.
Unter dem Schatten der Blutbuche legte er sich auf eine Bank, atmete tief aus und schaute in die Krone, die ihn wie ein mächtiger Schirm beschützte. Er fühlte sich geborgen. Die Welt blieb draussen, die Angst vor dem Wochenende, dessen Ereignislosigkeit ihm bedrohlich vorkam, ermattete. Die Leere konnte nicht in sein Gemüt eindringen.
Ob die Frau hinter dem Vorhang Sommersprossen hatte? Man müsste sehr nahe hingehen, um das festzustellen, unhöflich nahe. Rötlichblonde Haare hatte sie bestimmt. Sie musste hübsch sein, und selbstbewusst, das Tuch hatte sich so anmutig vor das Fenster geschwungen, bevor es sich sanft der Trägheit ergab. Er sieht sich mit einer Blume – im Park wachsen jede Menge davon – an der Eingangstür des Wohngebäudes warten, bis jemand herauskommt, und er dann schnell hineinschlüpfen kann. Hochparterre, mittlere Tür, es kann nicht anders sein. Er klingelt. Sie öffnet, lächelt mit ihrem Stupsnäschen. Weil er so nahe zu ihr hintritt, um sich zu vergewissern, ob sie wirklich Sommersprossen hat, spürt er ihren Hauch über sich hinweg wehen. Hinter ihr hebt sich der weisse Vorhang vor dem Balkon, schwebt davon und legt sich tröstlich auf den Träumenden.
Blitzlicht
Der Bleistift kritzelt über das Papier. Radiergummi und Spitzer liegen in Reichweite. Das Auge will nicht gelingen. Wie ungelenk ihre Hand geworden ist. Einst war sie die zweitbeste Zeichnerin der Klasse. Ihr glückte jedes Porträt. Die Modelle hatten sich ausnahmslos wiedererkannt. Einige Skizzen liegen in ihrer alten Zeichenmappe. Weder aufgehängt noch weggeworfen. Sie fristen ihr Dasein im Schatten, um in wenigen tageslichten Momenten die Genugtuung ihrer Schöpferin zu erneuern. Jung waren sie damals gewesen. Noch nicht einmal zwanzig. Wie sie sich wohl verändert haben? Die Haare, die Falten, die Körperformen? Nur die Augen altern nicht. Sie glänzen, sie leuchten. Besonders diese Augen. Keine Zeichnung, kein Foto besitzt sie, nur die Erinnerung. Ausgelöst durch diese banalen Akkorde heute Morgen beim Bügeln. Sie stellt das Radio lauter und dann ab, damit die Töne in ihr nachklingen können. Der Hit ihrer ersten Schülerparty. Immer wieder diese Melodie, Patschuli im Übermass, sie glaubt es wieder zu riechen. Im Blitzlicht des Stroboskops wirkten noch die unbeholfensten Tänzer attraktiv. Sie legt das Bügeleisen weg. Natürlich ist die Musik primitiv. Der Unerreichbare ein normaler Junge. Vielleicht ist er dick geworden. Egal. Sie legt sich bäuchlings aufs Bett und gibt sich den Erinnerungen hin. Ein süsses Kribbeln durchrinnt ihren Körper, verliert sich und lässt sie zurück einem leisen Gefühl des Bedauerns. Sie sieht ihre Finger, wie sie sich ans Kopfkissen klammern. Kein Wunder, dass ebendiese Finger keine Zeichnung mehr zustande bringen, die sie zufriedenstellt.
Vom Lebensmut des Richi S
Ein alter Mann. Wie unnatürlich schief er an den Krücken steht, draussen vor dem Physiotherapiezentrum. Sicher wartet er auf ein Taxi. Seine blauen Augen leuchten aus dem charmant unrasierten Gesicht, dessen Lächeln den freundlichen Ausdruck ein Leben lang geprägt zu haben scheint. Jetzt erkenne ich Richi.
Es war mehr als eine Hüftoperation. «Mein halbes Becken ist weg.» Ich habe Hemmungen, mir das bildlich vorzustellen. Als wir noch zusammenarbeiteten, hatte er einen Tumor in den Nieren. Er kam nach der Operation gerne zurück an den Arbeitsplatz, mit der gleichen zugewandten Art wie zuvor, verlor kaum Worte über den Eingriff, war wieder da für die Jugendlichen in der Lernwerkstatt. Nach der Pensionierung widmete er sich seinen alten Fahrzeugen und rüstete sie auf für einen Trip nach Afrika. «Magst