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Die vierzig Tage des Musa Dagh. Band 2: Die Kämpfe der Schwachen
Die vierzig Tage des Musa Dagh. Band 2: Die Kämpfe der Schwachen
Die vierzig Tage des Musa Dagh. Band 2: Die Kämpfe der Schwachen
eBook393 Seiten5 Stunden

Die vierzig Tage des Musa Dagh. Band 2: Die Kämpfe der Schwachen

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Über dieses E-Book

Im Zentrum dieses epischen Romans des österreichischen Schriftstellers Franz Werfel steht das Schicksal einer armenischen Familie im Osmanischen Reich des Jahres 1915. Es ist das Jahr, in dem der Genozid der Türken an der armenischen Minderheit in der Bevölkerung stattfindet.

Mit einer präzisen und ausdrucksstarken Sprache wird die zunehmende Ausgrenzung der Armenier geschildert, bis sie schließlich von den Türken mit offener Waffengewalt verfolgt werden. Eine armenische Dorfgemeinschaft flüchtet auf ihren Heimatberg, den Musa Dagh. Ihr Anführer ist Gabriel Bagradian, ein ehemaliger Offizier der osmanischen Armee. Nur mit Sattelpistolen und Jagdgewehren bewaffnet, verschanzen sie sich auf dem Berg. Sie errichten mit bloßen Händen Festungsanlagen und leisten den Verfolgern erbitterten Widerstand. Immer wieder gelingt es ihnen, die türkischen Angriffe abzuwehren. Doch die Übermacht ist erdrückend. Es sieht nicht so aus, als könnte es eine Rettung für sie geben…

Dies ist der zweite Band der Trilogie “Die vierzig Tage des Musa Dagh”. Der Umfang des zweiten Bandes entspricht ca. 350 Buchseiten.
SpracheDeutsch
Herausgeberapebook Verlag
Erscheinungsdatum27. Nov. 2020
ISBN9783961303502
Die vierzig Tage des Musa Dagh. Band 2: Die Kämpfe der Schwachen
Autor

Franz Werfel

Franz Viktor Werfel (* 10. September 1890 in Prag; † 26. August 1945 in Beverly Hills) war ein österreichischer Schriftsteller jüdisch-deutschböhmischer Herkunft. Er ging aufgrund der nationalsozialistischen Herrschaft ins Exil und wurde 1941 US-amerikanischer Staatsbürger. Er war ein Wortführer des lyrischen Expressionismus.

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    Buchvorschau

    Die vierzig Tage des Musa Dagh. Band 2 - Franz Werfel

    FRANZ WERFEL

    DIE

    VIERZIG TAGE

    DES

    MUSA DAGH

    R O M A N

    in drei Bänden

    Band 2

    DIE KÄMPFE DER SCHWACHEN

    DIE VIERZIG TAGE DES MUSA DAGH wurde zuerst veröffentlicht von Zsolnay, Berlin/Wien/Leipzig 1933.

    Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von

    © apebook Verlag, Essen (Germany)

    www.apebook.de

    1. Auflage 2020

    V 1.0

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.

     Zweiter Band

    ISBN 978-3-96130-350-2

    Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de

    Alle verwendeten Bilder und Illustrationen sind – sofern nicht anders ausgewiesen – nach bestem Wissen und Gewissen frei von Rechten Dritter, bearbeitet von SKRIPTART.

    Alle Rechte vorbehalten.

    © apebook 2020

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    Inhaltsverzeichnis

    DIE VIERZIG TAGE DES MUSA DAGH. Band 2: Die Kämpfe der Schwachen

    Impressum

    Zweites Buch

    DIE KÄMPFE DER SCHWACHEN

    Erstes Kapitel: Unsere Wohnung ist die Bergeshöhe

    Zweites Kapitel: Die Taten der Knaben

    Drittes Kapitel: Die Prozession des Feuers

    Viertes Kapitel: Satos Wege

    Eine kleine Bitte

    Direktlinks zu den einzelnen Bänden

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    A p e B o o k C l a s s i c s

    N e w s l e t t e r

    F l a t r a t e

    F o l l o w

    A p e C l u b

    L i n k s

    Zu guter Letzt

    Zweites Buch

    DIE KÄMPFE DER SCHWACHEN

    »Und die Kelter wurde draußen vor der Ortschaft getreten,

    und Blut kam aus der Kelter hervor

    bis an die Zügel der Pferde.«

    Offenbarung Johannis 14, 20

    Erstes Kapitel

    Unsere Wohnung ist die Bergeshöhe

    Musa Dagh! Berg Mosis! Auf dem Gipfel des Mosisberges hatte im Morgengrauen das ganze Volk sein Lager bezogen. Die Bergeshöhe, die windige Luft, das Rauschen des Meeres, dies alles wirkte so belebend, dass die Mühen des nächtlichen Aufstiegs vergessen schienen. Man sah keine starren und müden, sondern nur erregte Gesichter. In der Stadtmulde und den benachbarten Regionen schoss alles schreiend durcheinander. Es herrschte nirgends ein Bewusstsein der wirklichen Lebenslage, sondern nur eine gereizte, streitbare Munterkeit. Wie eine Springflut überschwemmte die Sorge um die kleinen Dringlichkeiten der Minute jede Überlegung des Ganzen. Selbst Ter Haigasun, der den Holzaltar in der Mitte des Lagerplatzes bekleidete und somit das Ewige zurüstete, fuhr mit ungeduldigen Scheltworten unter die Männer, die ihm bei diesem Werk halfen.

    Gabriel hatte den von ihm zum Hauptbeobachterstand erkorenen Punkt erstiegen. Dieser lag auf einer der felsigen Gipfelkuppen des Damlajik und bot eine klare Aussicht aufs Meer, auf die Orontes-Ebene und die Bergwellen, die gegen Antiochia zu verebbten. Das Tal selbst konnte man von Kheder Beg bis Bitias einblicken. Die äußersten Dörfer waren durch Wegbiegungen der Sicht entzogen. Es gab außer diesem Hauptbeobachterstand natürlich noch zehn oder zwölf exponierte Späherposten, von denen aus die einzelnen Talabschnitte scharf ins Auge gefasst werden konnten, hier jedoch, von Felsklippen wohlbedeckt, beherrschte man das Allgemeine in großen Zügen. Vielleicht schlug dem einsamen Gabriel Bagradian deshalb, weil er auf diesem Standpunkt der verengenden Lagerwirre überhoben war, als Einzigem die wahre Wirklichkeit jetzt so stark ans Herz: Dort im Norden, Osten, Süden, bis nach Antakje, nein, bis nach Aleppo, nein, bis Mossul und Deir es Zor die unabwendbare Vernichtung! Millionen von Moslems, die bald nur mehr ein einziges Ziel haben würden, das freche Armeniernest auf dem Musa Dagh auszuräuchern! Auf der anderen Seite das gleichgültige Mittelmeer, das den steil niederstürzenden Bergrücken schläfrig umbrandete! Mochte Zypern auch hundertmal nahe sein, welcher französische oder englische Kreuzer hatte das geringste Interesse an diesem nackten Teil der syrischen Küste, die völlig außerhalb des Krieges lag? Die Flotten liefen nur in die gefährdeten Richtungen aus, gegen Suez und die nordafrikanische Küste, die tote Bucht von Alexandrette zweifellos stets im Rücken lassend. Bagradian erkannte, das wüste Meer überblickend, dass er während der großen Versammlung sich selbst und die anderen verantwortungslos demagogisch betrogen hatte, als er die Hoffnung auf rettende Kriegsschiffe zu erwecken versuchte. Der höhnisch-öde Meereshorizont belehrte ihn darüber. Unermesslicher Tod ringsum, ohne den kleinsten Durchschlupf, dies war die Wahrheit! Von diesem Tod fugenlos umschlossen das kleine elende Dorfvolk! Und auch dies war noch nicht alles. Denn sollte sich auch der äußere Tod – was nicht einmal der Wahnsinn erhoffen durfte – wohlwollend träge verhalten, sollte kein Angriff erfolgen, kein Schuss fallen, so müsste trotzdem ein andrer Tod von innen her aufbrechen und das Lager zerstören. Denn wie sparsam man auch immer mit Herden und Vorräten umging, sie ließen sich nicht erneuern und würden in sehr begrenzter Zeit an ihr Ende gelangen. – In der Niederung unten hatte der Gedanke an den Damlajik wie Erlösung gewirkt, denn in bitterer Bedrängnis bedeutet schon der Wille, sich zu bewegen, und die Aussicht auf jegliche Veränderung ein linderndes Heilmittel. Nun aber saß man fest. Das lindernde Heilmittel half Gabriel nicht mehr. Er fühlte sich wie aus Zeit und Raum herausgeschleudert. Das Unabwendbare hatte er wohl für ein paar Augenblicke hinausgeschoben, dafür aber die hundert winzigen Auswege des Zufalls preisgegeben. Handelte nicht Harutiun Nokhudian mit seiner Gemeinde weiser? Ein eisiger Zwang packte Gabriel an. Welch ein unsühnbares Verbrechen an Juliette und Stephan! Er hatte die gute Stunde der Flucht immer wieder vorübergehen lassen, er hatte nicht ein einziges Mal Juliette aus ihrer unbedenklichen Ahnungslosigkeit gerüttelt, obgleich er schon seit jenem fernen Märzsonntag wusste, dass die Falle zugeklappt war. Dieser Erkenntnis seiner unbegreiflichen Schuld folgte eine jähe Blutleere im Kopf und ein heftiges Schwindelgefühl. Die Horizonte des Meeres und des Landes begannen sich zu drehen. Die ganze Welt war eine rotierende Scheibe und der Musa Dagh der tote, unbewegte Punkt in ihrer Mitte. Den Mittelpunkt dieses Punktes aber bildete Gabriels Körper, der, so hoch er auch stand, die unterste Erstarrung des unabwendbaren Wirbels bedeutete, der um ihn kreiste. Wir wollen doch nur am Leben bleiben, erschauderte er. Doch alsogleich verwunderte es sich schweigend in ihm: Warum eigentlich?

    Gabriel Bagradian floh in die Stadtmulde hinab. Die einzelnen Komitees des Führerrates waren schon zusammengetreten, denn die hundertfältige Arbeit des ersten Tages wartete auf Einteilung. Gabriel forderte, dass alle werktauglichen Leute, Männer und Frauen, sich unverzüglich an die Arbeit bei den begonnenen Gräben und Riegeln machten. Der gesamte Stellungsbau müsse in der Hauptsache morgen abends beendet sein, denn wer könne das wissen, vielleicht sei schon für übermorgen der erste Türkenangriff zu gewärtigen. Immer und immer wieder müsse er es wiederholen, dass die Verteidigung und was zu ihr gehöre, die schärfste Manneszucht und Unterordnung der Kämpfer, allen anderen Dingen vorangehe. Da man ihn, Gabriel Bagradian, zum Führer dieser Verteidigung eingesetzt habe, so sei es nunmehr auch notwendig, dass man ihm die oberste Befehlsgewalt einräume, und zwar nicht nur über das erste Aufgebot, sondern ebenso über die Reserve, das heißt über Kämpfer und Arbeiter, somit über das ganze Lager. Pastor Aram Tomasian, der leider ein sehr empfindlicher Mann war, betonte demgegenüber, dass es nicht weniger wichtig sei, die inneren Zustände des Lagers in Ordnung zu bringen. Vorläufig herrsche noch wüste Anarchie, jede Familie beneide die andre um den zugeteilten Wohnplatz, und auch die einzelnen Dorfgemeinden seien mit ihren Lagergebieten unzufrieden. Bagradian wandte sich gegen den Einwand des Pastors: Unzufriedenheit dürfe es einfach nicht geben, da ein verschärfter Kriegszustand herrsche. Gegen Murrende habe man sofort mit empfindlichen Strafen vorzugehen. Thomas Kebussjan und die übrigen Muchtars schlugen sich sogleich auf die Seite des Pastors. Selbst Bedros Altouni mahnte hartnäckig, man müsse vorerst für die körperlichen Bedürfnisse des Volkes Sorge tragen und alsbald mit dem Bau des Lazarettschuppens beginnen, damit sich der Zustand der Kranken und Leidenden nicht verschlimmere. Nun meldeten sich die Muchtars und die Lehrer, einer nach dem andern, zum Wort, um die unaufschiebbaren Notwendigkeiten der eigenen Kompetenz weitschweifig zur Geltung zu bringen. Mit Entsetzen machte Bagradian die Erfahrung, wie schwierig es ist, in einer beratenden Körperschaft das Einfachste und Selbstverständlichste durchzusetzen. Eitles, regelloses Gerede begann sich auszubreiten. Aber nach einigen Minuten schon zeigte die Verfassung, die Gabriel Bagradian dem Führerrat gegeben hatte, ihre Vorzüglichkeit. Ter Haigasun besaß die rechtmäßige Autorität, in schwankenden Fällen eine Entscheidung auf kurzem Weg herbeizuführen. Er machte von dieser Autorität in weise-unauffälliger Art so geschickten Gebrauch, dass niemand mehr einen Antrag stellte und die Lage durch eine gefährliche Abstimmung verwirrte: Gabriel Bagradian sei durchaus im Recht. Hinter den Pflichten der Verteidigung müsse alles andere zurücktreten. Die Dienstordnung, die dem Führerrat seit Tagen schriftlich vorliege, habe unverzüglich vor den Zehnerschaften verlesen zu werden und von Stund an in Kraft zu treten. Dem Befehlshaber sei jedermann unbedingten Gehorsam schuldig. Da er den Krieg als tapferer Offizier kennengelernt habe und damit einen bedeutenden Vorrang vor allen übrigen Gewählten besitze, so überlasse ihm der Führerrat vorbehaltlos alle jene Bestimmungen, welche den Kampf, die Kampfesvorbereitung und die Manneszucht betreffen. Gabriel Bagradian und der ihm beigegebene Kriegsausschuss hätten keine Verpflichtung, ihre Entschlüsse dem allgemeinen Rat zur Annahme vorzulegen. Pastor Aram Tomasian sei ja deshalb in den Kriegsausschuss und Bagradian in den Ausschuss für innere Ordnung eingetreten, damit unnötige Reibungen vermieden würden. Der Befehlshaber besitze ferner selbstverständlich auch eine eigene Strafgewalt. Er könne unbotmäßigen und im Dienst faulen Leuten das Essen entziehen, sie in Fesseln legen lassen und zur Bastonnade milderen oder schärferen Grades nach eigenem Ermessen verurteilen. Nur die Verhängung der Todesstrafe stehe allein Ter Haigasun zu, nachdem sie vom ganzen Führerrat einstimmig beschlossen worden sei. Doch auch dem Lagervolk müsse der Ernst der Kriegsgesetze schon in den ersten Stunden klargemacht werden. Die Hauptaufgabe des inneren Komitees bestehe darin, für strenge Regelmäßigkeit zu sorgen, die harten Umstände natürlich erscheinen zu lassen und alles daranzusetzen, dass sich hier oben nicht anders als im Tal ein ganz gewöhnlicher Alltag entwickle. In seinen Ausführungen wies Ter Haigasun mit stärkstem Nachdruck auf »Gewohnheit« und »Alltag« hin. Von diesen unscheinbaren Mächten hänge die Kraft und Dauer des Widerstandes mehr ab als von außergewöhnlichen Leistungen. Keine einzige Hand dürfe daher beschäftigungslos bleiben. Auch die Kinder sollten nicht müßiggehen und den Todeskampf des Volkes mit ihrem Ferienglück in Verbindung bringen. Es sei deshalb auf einem dafür zu bestimmenden Platz Schule zu halten, und zwar in aller Form und Strenge. Die Lehrer müssten in jenen Stunden, da sie anderweitig dienstfrei seien, im Unterricht miteinander abwechseln. Nur rastlose Arbeit werde die Menschen über dieses enge Leben hinwegbringen können, schloss Ter Haigasun: »Also auf, Leute! Geht an die Arbeit! Wir wollen die Zeit so wenig wie möglich mit Ratsgeschwätz totschlagen!«

    Die Muchtars beriefen ihre Gemeinden auf den großen Altarplatz zusammen, der innerhalb der Stadtmulde schon abgesteckt war. Gabriel Bagradian ließ die sechsundachtzig Zehnerschaften des ersten Treffens unter dem Kommando Tschausch Nurhans antreten. Der Rekrutenkönig sorgte dafür, dass die Armee in einem scharf abgezirkelten und wohlausgerichteten Viereck den noch nicht eingeweihten Altar umstand. Dann betrat Ter Haigasun die Altarbühne, die sich auf fünf Stufen ziemlich hoch über den Platz erhob und sehr geräumig war. Der Priester forderte nur Bagradian und keinen der anderen Führer auf, neben ihn zu treten. Dann wandte er sich dem Viereck der Zehnerschaften zu und verlas mit weithin schallender Stimme die Dienstordnung aus dem Schriftstück Samuel Awakians. Nachher fügte er noch einige drohende Worte hinzu. Über jeden, der sich gegen den Willen des kriegerischen Führers auflehne oder seine Pflicht vergesse, werde ein unnachsichtliches Strafgericht hereinbrechen. Das möchten sich hauptsächlich die ortsfremden Zuzügler aus den türkischen Kasernen gesagt sein lassen. Die Aufnahme in das Lager, die Ernährung aus den allgemeinen Vorräten bedeute keine Selbstverständlichkeit, sondern eine brüderliche Wohltat der Volksgemeinschaft, deren sich die Fremden erst würdig erweisen müssten. Ter Haigasun ergriff das silberne Kruzifix, das auf dem Altartisch stand, und stieg mit Gabriel Bagradian in den inneren Raum des Vierecks hinab. Langsam sprach er den Zehnerschaften die Eidesformel vor, die sie mit erhobenen Schwurfingern wiederholen mussten:

    »Ich schwöre zu Gott, dem Vater, dem Sohn, dem Heiligen Geist, dass ich mit meinem letzten Blutstropfen dieses Volkslager verteidigen werde, dass ich mich dem Befehlshaber und allen seinen Anordnungen in blindem Gehorsam unterwerfe, dass ich die Macht des gewählten Führerrates anerkenne und in eigensüchtiger Absicht niemals den Berg verlassen will, so wahr mir Gott, der Herr, zur Seligkeit verhelfe!«

    Nach dieser Vereidigung marschierten die Männer der ersten Linie hinter den Altar. Die elfhundert Menschen der Reserve, die in zweiundzwanzig Gruppen eingeteilt waren, schwuren einen kürzeren Eid des Gehorsams und Arbeitswillens. Auf der Reserve lag die Hauptlast des Stellungs- und Lagerbaus. Sie besaß für den Kampfesfall keine anderen Waffen als jene landwirtschaftlichen Hieb- und Stichgeräte, die sie aus den Dörfern mitgenommen hatte. Zuletzt kamen die dreihundert Halbwüchsigen der »leichten Kavallerie« vor den Altar. Ter Haigasun sprach ein paar ermahnende Worte zu ihnen, und Gabriel Bagradian setzte ihnen die Pflichten ihres Späher-, Melde-, Kundschafter- und Signaldienstes auseinander. Er bildete aus den Jugendlichen »nach dem Augenmaß« drei große Haufen. Der erste Haufen sollte die Späherposten und Beobachtungsstände besetzt halten und alle zwei Stunden eine Meldung an das Hauptquartier schicken. Zu diesem wichtigen Geschäft wurden die hundert ältesten und vertrauenswürdigsten Knaben ausersehen. Ihnen oblag es auch, bei Tag und Nacht die Wache für die Schüsselterrasse zu stellen, um mit ihren scharfen Bubenaugen den schwachen Rauch vorbeiziehender Schiffe (lächerliche Hoffnung) rechtzeitig zu sichten. Dem zweiten Haufen übertrug Bagradian den Ordonnanzdienst. Diese hundert Knaben mussten sich stets im Umkreis des Hauptquartiers aufhalten, um die Befehle des Kommandanten in alle Richtungen auszutragen und die Verbindung mit den einzelnen Verteidigungsabschnitten zu besorgen. Die Ordonnanztruppe war dem Hauptadjutanten Samuel Awakian unterstellt. Stephan wurde diesem Korps zugeteilt. Das dritte Hundert endlich stand dem Pastor Aram zur Verfügung, um im Lagerdienst verwendet zu werden und, ein Beispiel nur, den Kämpfern die Menage in die Linie hinauszutragen.

    Die Gliederung, die Bagradian in das Dorfvolk gebracht hatte, bewies augenblicklich ihre Vorteile. Das soldatische Wichtigkeitsgefühl, das die einzelnen Zehnerschaften erfüllte, die prickelnde Lust zu befehlen, von der die Unterführer sogleich belebt wurden, das kindliche Vergnügen an Reih und Glied, all diese Menschlichkeiten verschleierten die unerbittliche Grundtatsache durch den wohltätigen Eifer des Spieles. Als die Züge bald darauf nach allen Seiten zum Stellungsbau abmarschierten, erhob sich da und dort, schüchtern zwar, doch hartnäckig ein Chorgesang, das alte Arbeitslied des armenischen Tales:

    »Die Unglückstage ziehen vorbei

    Gleich den Tagen des Winters, die kommen und gehen.

    Die Schmerzen der Menschen bleiben nicht lang,

    Wie die Kunden im Laden, sie kommen und gehen.«

    Gabriel Bagradian beschied Tschausch Nurhan und die Hauptleute der größeren Zehnerschaftsverbände zu sich. Inzwischen aber hatte Ter Haigasun den Altarplatz verlassen und sich auf den Dreizeltplatz begeben, der in der Nähe einer großen Quelle, von Buchsbäumen umgeben, von efeuumrankten Felsen und Myrtengebüsch nach drei Seiten geschützt, ein vortrefflicher Beweis für Gabriels zärtliche Obsorge war. Ter Haigasun wünschte Hanum Juliette Bagradian zu sprechen. Da Kristaphor, Missak, Howhannes und die übrige Dienerschaft mit der Einrichtung des abseits gelegenen Küchenplatzes beschäftigt war, konnte der Priester seinen Wunsch niemand anderem vortragen als Gonzague Maris, der auf dem Dreizeltplatz eilig hin und her promenierte, wie es bewegungssüchtige Seereisende auf einem schmalen Schiffsverdeck zu tun pflegen. Der junge Grieche ging zu Juliettes Expeditionszelt und schlug den kleinen Gong an, der über dem Eingang hing. Die Hanum aber ließ sehr lange auf sich warten. Als sie endlich erschien, bat sie Gonzague, für Ter Haigasun einen Stuhl aus dem Zelt herauszutragen. Dieser aber wehrte ab. Leider dürfe er nicht viel Zeit verlieren. Er ließ seine Hände in den breiten Ärmeln der Kutte verschwinden und senkte die Augen. Was er in einem steifen Französisch vorbrachte, war voll getragener Förmlichkeit. Die Güte von Madame sei bekannt. Er bitte Madame daher, dem Volk die Ehre zu erweisen und folgenden Auftrag zu übernehmen. Es sei notwendig, dass von der vorspringenden Felsterrasse auf der Steilseite des Berges eine sehr große weiße Fahne mit einem roten Kreuz ins Meer hinaus wehe, um jenen Schiffen, die Gott in seiner Gnade senden möge, Kunde von dem Elend zu geben. Darum müsse die Fahne auch eine Aufschrift in französischer und englischer Sprache tragen: »Christen in Not! Hilfe!« Ter Haigasun verbeugte sich, als er an Juliette die feierliche Frage stellte, ob sie gewillt sei, mit Hilfe anderer Frauen die Herstellung dieser Fahne zu besorgen. Juliette versprach es, jedoch mit einer lauen und empfindungslosen Art von Zusage. Es war merkwürdig, die Französin schien gar nicht die Ehrung zu verstehen, die Ter Haigasun ihr durch seinen Besuch und diese Bitte in feinster Art zuteil werden ließ. Sie war wieder einmal taub gegen alles Armenische. Als sich aber Ter Haigasun rasch und nur mit einem Kopfnicken entfernte, wurde sie plötzlich sehr unruhig und suchte selbst zwei große Leintücher aus, die mit der Nähmaschine zu der gewünschten Fahne zusammengesteppt werden sollten.

    Gabriel schärfte Tschausch Nurhan und den anderen Unterführern noch einmal die Unerlässlichkeiten eiserner Disziplin ein. Von nun an dürfe niemand mehr ohne Erlaubnis den Posten verlassen, auf den er gestellt ist. Es könne ferner auch nicht geduldet werden, dass die Männer des ersten Treffens die Nacht bei ihren Familien in der Stadtmulde verbrächten. Bis auf die von den Führern ausdrücklich gestatteten Ausnahmefälle habe jedermann in den Stellungen zu schlafen. Bagradian bestimmte auch einen von allen Seiten gut erreichbaren Platz zu seinem Hauptquartier. Dort solle täglich zwei Stunden vor Sonnenuntergang ein Rapport stattfinden, zu dem sich Abschnitts- und Gruppenführer einzufinden hätten. Er werde um diese Zeit Beschwerden, Anzeigen und Bitten entgegennehmen, Abhilfe schaffen und den Befehl für den nächsten Tag ausgeben. Damit war die soldatische Organisation im Großen und Ganzen geschaffen. Nun kam es nur auf Willigkeit und männlichen Eifer an, sie auch in Gang zu bringen. Gabriel Bagradian besprach noch einmal an Hand der Karte die Einteilung der dreizehn Verteidigungsabschnitte. Von diesen erforderten nur drei eine größere Besatzung, die übrigen zehn bedeuteten lediglich stärkere Wachposten, für die jeweils eine oder gar nur eine halbe Zehnerschaft völlig genügte. Dagegen bestimmte Gabriel allein für die Gräben und Felsbarrikaden des Nordsattels eine Grundbesatzung von vierzig Zehnerschaften mit zweihundert guten Gewehren. Den Befehl über diesen wichtigen Abschnitt übernahm er selbst. Sein nächster Stellvertreter war Tschausch Nurhan, dem zugleich auch der Befehl über die Stellung oberhalb der Steineichenschlucht sowie die Inspektion der gesamten Wehrmacht übertragen wurde. Zu dieser Würde gehörte vor allem die Sorge für die Erneuerung der Munition und Instandhaltung der Waffen. Der unschätzbare Tschausch Nurhan, der an zehn Orten zugleich sein konnte, hatte übrigens schon alles für eine Werkstatt zur Patronenerzeugung vorbereitet. Das nötige Material und Werkzeug war aus seinem geheimnisvollen Betrieb in Yoghonoluk auf den Berg gewandert. Es blieb demnach nur mehr die Kommandofrage der Südbastion zu lösen. Die Besatzung dieses entferntesten Abschnittes umfasste fünfzehn Zehnerschaften. Aus den bekannten Gründen waren die echten und unechten Deserteure auf diese Streitmacht aufgeteilt, die für den starken festungsartigen Punkt als überaus hoch bezeichnet werden muss. Vorläufig hatte den Befehl dort ein gedienter Mann aus dem Dorf Kheder Beg inne. Bagradian aber verfolgte eine bestimmte Absicht. Sarkis Kilikian war ja ein tapferer Soldat mit den lebendigsten Erfahrungen aus dem Kaukasusfeldzug. Außerdem besaß er Bildung und Intelligenz. Er hatte durch die Türken Namenloses erlebt, und wenn es in ihm noch so etwas wie Seele gab, so musste sie vor einem nicht mehr menschlichen Rachedurst vergehen. Die Absicht Gabriels bestand darin, eine kleine Zeit lang Kilikians Wohlverhalten scharf zu beobachten und ihm, sollte dieses seinen Erwartungen entsprechen, das Kommando der Südbastion zu übertragen. Durch diesen Schachzug hoffte Bagradian nicht nur eine wertvolle Kraft frei zu machen, sondern auch die anderen Deserteure, unzuverlässige Leute, fest in die Hand zu bekommen. Er hatte deshalb den Russen nach dem Abmarsch der Zehnerschaften zurückbehalten. Kilikian betrachtete Gabriel die ganze Zeit über mit einer unbeugsamen Teilnahmslosigkeit, die zu gelangweilt war, um impertinent zu sein. Der durch Ölsklaverei, Gefängnisse und tausend schreckliche Abenteuer ausgemergelte Mensch mit seinem jugendlichen Totenkopf, der gegerbten Gesichtshaut, in erdige Fetzen gekleidet, bot trotz alledem einen nervigen, ja imposanten Anblick. Während er Gabriel Bagradian nicht aus seinen hellen, verächtlich beobachtenden Augen ließ, spürte er vielleicht, dass sich etwas in diesem wohlgepflegten und verwöhnten Herrn vor ihm beuge. Vielleicht hielt er für einfache Furcht, was die Ehrfurcht vor seinem unfassbaren Schicksal und der Kraft war, die es überlebt hatte. Aber gerade die Ahnung eines Furchtgefühls zusammen mit dem Anblick des feingewandeten Mannes, der in seinem ganzen Leben niemals auch nur eine Minute Grauen, Entbehrung, Entehrung erlebt haben konnte, reizte das Böse in Kilikian auf. Bagradian rief ihm in scharfem Befehlston zu:

    »Sarkis Kilikian! Melde dich in zwei Stunden bei mir in der Nordstellung. Ich werde dir eine Arbeit geben.«

    Die Augen des Russen, die sich noch immer nicht von Gabriel abwandten, nahmen den stumpfen Glanz von Achat an. Er lachte schleppend:

    »Vielleicht komme ich, vielleicht komme ich auch nicht. Ich weiß wirklich noch nicht, wozu ich Lust haben werde.«

    Gabriel Bagradian wusste, dass von seiner Antwort alles abhing, dass er sich jetzt seinen Rang sichern musste, dass seine Autorität für immer dahin war, wenn er in diesem Augenblick den Ton verfehlte und den Kürzeren zog. Alles horchte gespannt. Manche verborgene Schadenfreude glomm auf. Gabriel hatte sich eine eigene Uniform aus einem noch kaum getragenen Jagdanzug seines Bruders Awetis zurechtgemacht. Er trug dazu gelbe Ledergamaschen und einen Tropenhut. Diesen setzte er auf, als er nun mit nachdenklich wiegendem Schritt auf den Russen zuging. Der Tropenhelm machte ihn noch um einen halben Kopf größer, als er schon war. Er schlug mit seinem Stock gegen die Gamaschen und trat so unabwendbar dicht an Kilikian heran, dass dieser ein Schrittchen zurückweichen musste:

    »Hör mich, Sarkis Kilikian, und tu deinen Schädel gut auf!«

    Bagradian unterbrach sich eine Sekunde lang. Er hörte, dass seine Stimme nicht ganz ruhig war. Stark klopfte sein Herz. Diese Erregung war eine Chance, die er seinem Gegner gab. Er wartete deshalb, des Russen Blick nicht auslassend, bis sich sein ganzes Wesen bis zum Rand mit klarem und kaltem Willen angefüllt hatte:

    »Ich selbst gebe dir das Recht, Kilikian, das zu tun, wozu du Lust hast. Ehe ich dir aber den Rücken kehre, musst du dich entschieden haben ... Du bist frei, du kannst zum Teufel gehen, niemand hält dich, Leute wie deinesgleichen brauchen wir am allerwenigsten ...«

    Gabriel machte eine Pause, als erwarte er, Sarkis Kilikian werde dieser Aufforderung sofort nachkommen und in seiner höhnisch langsamen Art davonschlendern, ohne sich ein einziges Mal mehr nach dem Volk des Damlajik umzusehen. Der Russe jedoch wurzelte auf seinem Platz. In den toten Steinglanz seiner Augen verirrte sich ein neugieriger Schimmer. Bagradians Stimme nahm ein kühles Bedauern an:

    »Ich habe vorgehabt, dich, Kilikian, der du Soldat gewesen bist, durch eine Führerstelle vor den anderen auszuzeichnen, weil du von den Türken mehr erduldet hast als irgendeiner hier. Du hättest dich und deine Kameraden an ihnen blutig rächen dürfen ... Da du aber noch nicht weißt, ob du dazu Lust haben wirst, da du wirklich nur ein verlotterter feiger Deserteur bist, da du die Pflicht gegen dein Volk nicht anerkennst und vorhin einen Meineid des Gehorsams geschworen hast, so lauf und lass dich nie wieder hier blicken! Wir können einen Schmarotzer nicht brauchen, einen frechen Lumpen, der den Frauen und Kindern das Brot wegfrisst. Wenn du es aber wagst, dich noch einmal unter uns zu zeigen, so lasse ich dich erschießen! Geh zu den Türken hinüber! Ihre Kompanien werden bald hier sein. Sie warten schon auf dich!«

    Für einen Mann wie den Russen hätte es jetzt nur eine einzige Möglichkeit gegeben: sich auf diesen feinen Herrn, diesen »Kapitalisten«, zu stürzen und ihm die Faust in die Fresse zu schlagen. Sarkis Kilikian aber rührte sich nicht. Seine Augen verloren die starre Ruhe und forschten in der Männerrunde nach Parteigängern. Gabriel Bagradian ließ fünf Sekunden vorübergehen, die seine Macht wie eine Welle hochtrugen, dann schrie er den Mann unvermittelt mit schneidender Stimme an:

    »Ich sehe, du hast dich entschieden. Also, marsch! Verschwinde!«

    Es war sonderbar, wie diese peitschensausenden Laute den Russen sofort in einen alten Sträfling verwandelten. Er duckte den Kopf zwischen die Schultern und lauerte von unten an dem Gegner empor, der ihn hoffnungslos überragte. Die ganze Schwäche Kilikians aber lag in der Geistesklarheit, mit der er seine Lage beurteilte. Er spürte genau, dass er einen ekelerregenden minderwertigen Augenblick erlebte, denn alle Gewalttätigkeit hängt davon ab, dass der trunkene Hassgeist nicht durch Vorausberechnung der Folgen gebrochen ist. Kilikian aber wusste in diesem Sträflingsmoment, was er zu verlieren hatte. Seit vier Monaten schon lebte er auf dem Musa Dagh in sicherer Verborgenheit. Was er zum Leben brauchte, hatte er sich nachts in den Dörfern zusammengebettelt. Der Auszug des Volkes auf den Berg bedeutete für ihn eine ungeahnte Verbesserung seines Lebens. Wurde er aber aus dem Lager gestoßen, verschwand für ihn die letzte Möglichkeit, menschliche Nahrung zu finden. Im Tal durfte er sich hernach nicht mehr sehen lassen. Doch auch die umliegenden Berggebiete würden von den Türken im Handumdrehen besetzt sein. Der Tod, der ihn höhnischerweise so oft verschont hatte, konnte sich dann an ihm gütlich tun. Die Türken würden ihm mindestens das Fell vom Leibe schinden und jedes Glied gesondert ermorden. Dies alles war dem Russen im blitzhaften Bruchteil einer Sekunde bewusst, und weder sein Stolz, sein Hass noch sein Trotz kamen wider dieses Bewusstsein auf. Er versuchte noch einmal glucksend zu lachen. Doch es kam dabei nur ein beschämend kleinlauter Spott zustande. Gabriel Bagradian wich nicht um Haaresbreite:

    »Nun?! Was stehst du noch hier herum?«

    Sarkis Kilikians geduckter Sträflingskopf drehte sich zur Seite:

    »Ich will ...«

    »Was willst du?!«

    Der Russe schlug neue Augen auf, nicht mehr jene blassen verlebten Achate, sondern unsichere Knabenblicke. Gabriel musste an den elfjährigen Jungen denken, der mit erhobenem Küchenmesser vor seiner Mutter stand, um sie zu schützen. Es dauerte lange, ehe Kilikian die entscheidenden Worte eines Unterliegenden hervorwürgte:

    »Ich will bleiben!«

    Gabriel überlegte, ob er den Mann nicht völlig auf die Knie zwingen müsse, und zwar dergestalt, dass er ihn vor den versammelten Zehnerschaften zu flehentlicher Abbitte und einem verschärften Gehorsamsschwur verurteilte. Nicht nur Mitleid jedoch (das Bild des Elfjährigen), sondern ein innerster Instinkt rieten davon ab. Es wäre eines überlegenen Führers unwürdig gewesen, den Sieg über einen Schwachen voll auszukosten und die eigene Front mit einem ganz und gar erniedrigten Feind zu belasten. Daher nahm sein scharfer Offizierston eine Schwebung von Güte an:

    »Ich werde dich dieses erste und letzte Mal begnadigen, Kilikian, und will es eine kurze Zeit mit dir versuchen. Aber du bist nicht fähig, die geringste Verantwortung zu tragen, hüte dich, du bist beobachtet! Abtreten!«

    Der Triumph Gabriel Bagradians war so überwältigend, dass der Gemaßregelte militärisch grüßend an die Lammfellmütze griff, ehe er sich unauffällig davonmachte. Die Niederwerfung des aufsässigen Deserteurs, den alle fürchteten, begründete recht eigentlich erst die Machtstellung des Oberbefehlshabers. Tschausch Nurhan und die Gruppenführer nahmen unwillkürlich stramme Stellung. In manchem Auge stand zu lesen: Es zeigt sich doch, was ein geborener Herr ist. Dem peinlichen Auftritt hatte außer Aram Tomasian und Hapeth Schatakhian, die ja Mitglieder des Kriegskomitees waren, auch Lehrer Hrand Oskanian beigewohnt. Er sah nach seiner Art finster und mit erhabener Ablehnung der Umwelt drein. Gabriel Bagradian fiel das Gesicht des schwarzen Lehrers heute besonders auf. Hinter dieser selbstbewussten und alles verneinenden Miene schien sich Energie und Entschlossenheit zu verbergen. So klein Oskanian war, er verstand es wahrscheinlich, nicht nur Kindern Angst einzuflößen. Die Besatzung der Südbastion setzte sich zur Hälfte aus Deserteuren zusammen. Wie die Frechheit Kilikians gezeigt hatte, waren sie eines Erziehers und einer Aufsichtsperson bedürftig. Man musste ihnen einen giftigen Stachel ins Fleisch bohren. Bagradian war überzeugt, in diesem von sich selbst besessenen Zwerg Oskanian den rechten Giftstachel gefunden zu haben. Auch bot sich ihm jetzt die Gelegenheit, die Kränkung wiedergutzumachen, die dem Schweiger dadurch widerfahren war, dass ihn

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