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Die Legende von Licht und Schatten: Reise nach Athoria
Die Legende von Licht und Schatten: Reise nach Athoria
Die Legende von Licht und Schatten: Reise nach Athoria
eBook332 Seiten4 Stunden

Die Legende von Licht und Schatten: Reise nach Athoria

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Über dieses E-Book

Schon sein ganzes Leben lang spürt Nat eine besondere Verbundenheit zu Tieren. Er kann ihre Gefühle wahrnehmen und sogar mit ihnen kommunizieren. Doch gerade diese Gabe macht ihn im Waisenhaus zum Außenseiter. Nur seine beste Freundin Lia hält zu ihm, da sie sein Schicksal teilt, nichts über die eigenen Eltern zu wissen.

Als der geheimnisvolle Fen auftaucht und Nat offenbart, dass in ihm noch weitaus größere Kräfte schlummern, überschlagen sich die Ereignisse. Zusammen mit Max und Robb, die ebenfalls mit Fen in Verbindung stehen, werden sie von bösartigen Schattenwesen angegriffen. Auf der Flucht wird ihnen klar, dass sie ihr altes Leben hinter sich lassen müssen, um die Wahrheit über ihre Vergangenheit zu erfahren. Aber können sie Fen vertrauen? Und welche dunkle Macht ist ihnen auf den Fersen?

Es beginnt eine gefährliche Reise. Eine Reise nach Athoria.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum29. Nov. 2022
ISBN9783756849215
Die Legende von Licht und Schatten: Reise nach Athoria
Autor

Fabian Loche

Fabian Loche ist ein deutschsprachiger Fantasy-Autor, der aus der näheren Umgebung von Düsseldorf stammt. Nach dem Abschluss seines ersten juristischen Staatsexamens kehrte der Autor dem Studentenleben den Rücken und widmet sich seitdem ausschließlich dem Schreiben fantastischer Geschichten. Seit 2017 arbeitet er an der Reihe "Die Legende von Licht und Schatten", welche als neunteiliger Fantasy-Epos geplant ist. Die Liebe zum Schreiben und das Erfinden neuer, unerforschter Welten begleiten den Autor seit dieser Zeit jeden Tag auf ein Neues und treiben sein Herz an, eine unvergessliche Geschichte zu erzählen. Weitere Reihen in den Genres "Fantasy" und "Dystopie" sind geplant.

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    Buchvorschau

    Die Legende von Licht und Schatten - Fabian Loche

    KAPITEL 1

    In all den Jahren, vorwiegend den jüngeren, die Fen damit verbracht hatte, in der Armee der Goldenen Lande zu dienen, hatten ihn seine Wege häufig in diese atemberaubenden Hallen geführt. Nur selten war der Anlass seines Besuches ein Grund zur Freude. Und auch heute wäre es dem alten Mann lieber gewesen, diesen Ort zu meiden.

    Zu viele Erinnerungen verband er mit den Heilenden Tempeln. Jenen Bauten der Arztkunst und Naturlehre, die ein kleines Stück außerhalb der Mauern Aréns lagen und in den Tagen des Krieges ein Symbol der Hoffnung und der Erneuerung für die Bewohner Aréns gewesen waren. Viele Verwundete, dem Tod näher als dem Leben, konnten inmitten dieser Wände vor dem Scheiden bewahrt werden. Viele Seelen wurden gerettet, viel Zuversicht und Erleichterung gespendet.

    Die Heiler und Heilerinnen Aréns waren für ihre Fähigkeiten in ganz Eña bekannt. Selbstverständlich reichten sie nicht an die nahezu sagenumwobene Begabung der Druiden in Lorungart heran: Eremiten, die in völliger Abgeschiedenheit in Arbaron, einem kleinen Teil des Waldlandreiches, ein bescheidenes Leben in Verbundenheit mit der Natur führten und ihr Wissen nur an die fähigsten Schüler Lorungarts weitergaben. Und dennoch respektierte selbst das Waldlandreich das Können, mit dem in den Heilenden Tempeln Aréns operiert wurde.

    Doch trotz all dieses Talentes, all dieses Wissen und den Erfolgen in ihrem Kampf gegen den Tod glaubte Fen, dass ihr Pfad hin zur vollkommenen Heilung zum Scheitern verurteilt war. Es war nur eine Frage der Zeit. Fen akzeptierte den Versuch, diesen sehnlichen Wunsch, das Leid, das Verlust unweigerlich hervorbrachte, aufzuhalten. Mehr noch, er respektierte ihn. Und er war froh darüber, dass sich die Heilenden den Schicksalen Einzelner auf diese hingebungsvolle Weise widmeten. Doch er vergaß dabei genau diesen einen wichtigen Aspekt nicht: Es waren die Leben Einzelner, die bewahrt wurden. Hob man die Heilkunst auf eine größere, vielschichtigere Ebene, war jedes gerettete Leben nichts weiter als ein Tropfen auf dem heißen Stein. So hart diese Worte klangen, Fen wusste, dass sie der bitteren Wahrheit entsprachen. Der Tod, der wahre und endgültige Feind der Heiler und Heilerinnen, war für sie ein unbesiegbarer Gegner. Man konnte ihn abwehren, sich vor ihm verbergen, aber ein dauerhaftes Entkommen war unmöglich. Alles und jeder stirbt irgendwann. Selbst die mächtigsten Wesen dieser Welt.

    Ja, der Tod war ihre Nemesis. Ihre Fessel, von der sie nie befreit werden würden.

    Dieser Fakt minderte in seinen Augen nicht im Geringsten den Wert, den die Kunst der Heilung für sich beanspruchte. Denn das Geschenk, das den Geretteten gemacht wurde, nämlich weitere Lebenszeit, war zugegebenermaßen unbezahlbar. Dennoch hinterließ die Tatsache, dass das Ergebnis dieser Auseinandersetzung bereits feststand, für ihn einen fahlen Beigeschmack. Vielleicht hatte seine Person dem Tod einfach schon zu viele Opfer erbracht. Vielleicht ärgerte ihn die unstillbare Gier der anderen Seite, die sich niemals befriedigen lassen würde. Vielleicht war es eine Mischung aus all diesen Aspekten, die seine Erinnerungen an diesen Ort nach jedem Besuch auf ein Neues verfinsterten.

    Fen dachte noch einen kurzen Augenblick über seine Position in dieser Debatte, die tief in ihm tobte, nach. Dann schüttelte er kaum merklich den Kopf und ließ seinen Blick über die strahlenden Tempelwände wandern. Ein seiner Meinung nach recht einseitiges Strahlen, sollte es lediglich die Hoffnung widerspiegeln, die die Heilenden bangenden Angehörigen machten. Die Verzweiflung hingegen, die hier ebenfalls unweigerlich Platz fand, wurde totgeschwiegen.

    Unter diesem Gesichtspunkt, überlegte Fen, sind die Praktizierenden nicht besser als jene, welche den Tod durch das Schwert herbeirufen.

    Doch er verwarf diesen Gedanken sofort. In gewisser Weise ging er ihm zu weit und er tadelte die Extreme, in denen sich sein Verstand bewegte.

    Stattdessen betrachtete er die ineinander verschlungenen Linien, die wellenförmige Muster in das Kapitell der Säulen zeichneten. Er hatte das Gefühl, dass die Intarsien bei jedem seiner Besuche gewaltiger und einnehmender wurden. Als würden die Linien in dem hellweißen Gestein eine Geschichte erzählen, die sich ständig ausdehnte. Eine Geschichte über die Kunst der Heilung, die er nicht verstand und auch niemals verstehen würde. Doch er kam nicht umhin, sie trotzdem zu bewundern.

    Seine Augen bewegten sich forschend umher, nahmen alle Eindrücke in sich auf und er glich sie mit denen ab, die er in seinem Gehirn aufbewahrte.

    Die vier Tragsäulen, jede von ihnen nicht höher als drei Meter, stützten eine ovale Kuppel. Von dieser schlängelten sich einige dichte Ansammlungen von Rankenpflanzen hinab und fungierten im leeren Raum als Trennwände zwischen einfach gestalteten Holzbetten. Der spiegelnde Boden aus hellem Marmor war an vielen Stellen mit Erde, losen Blättern oder den Resten von Pulver und Flüssigkeiten bedeckt, doch niemanden schien dieser Umstand zu stören. Auch wenn dieser Gebäudekomplex dem Stellenwert der Heilkunst durch die Art seiner Errichtung gerecht werden wollte, stand für ihn das hehre Ziel der Tätigkeit über allem.

    Fen musste lächeln.

    Ein Lächeln, das genauso schnell verschwand, wie es gekommen war, als er seinen Bruder Armadis bemerkte. Er stand neben einer jungen Frau in einem hellbraunen, schürzenähnlichen Trägerkleid, der traditionellen Tracht der Heilerinnen. Das Gespräch, in das die beiden eben noch vertieft gewesen waren, endete in diesem Augenblick und Armadis trat mit zügigen Schritten an ihn heran.

    »Bruder?«

    »Sie ist draußen«, erwiderte Armadis. Seine Stimme war gefestigt, doch Fen durchschaute den Schleier, den sein Bruder um seine Emotionen gespannt hatte. Es gelang ihm, seine Gedanken ruhen zu lassen und keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, bevor er sich nicht selbst ein Bild von dem Stand der Dinge gemacht hatte. Eine Fähigkeit, für deren Meisterschaft sein Geist etliche Jahrzehnte benötigt hatte. Doch noch immer war er ein Suchender, ein Schüler, das Leben sein anspruchsvoller Meister.

    Wortlos folgte Fen Armadis durch einen der schmalen Gänge, zwischen Pritschen, Schränken und Regalen hindurch, an Pflanzen und Praktizierenden vorbei, bis sie durch einen großzügigen Torbogen ins Freie traten.

    Ein weitläufiges Stück Wiese erstreckte sich vor ihren zusammengekniffenen Augen im Rücken des Tempelkomplexes. Die Sonne stand tief und tauchte Blattwerk und Gras in eine milde, wärmende Röte. Armadis und Fen folgten einem der vielen unebenen Trampelpfade, die zu einer kreisförmigen Ansammlung kräftiger Bäume in der Mitte des Rasens führten. Zu den Seiten der Brüder reckten sich Wildblumen dem Himmel entgegen. Die Blüten hinterließen einen quadratischen Regenbogen auf der Erde. Ein melodisches Summen versetzte das Feld in wohltuende Schwingungen und hier und da raschelte es im dicht bewachsenen Unterholz.

    Bei jedem Atemzug, den Fen nahm, jedem Schritt auf dem unberührten Boden, jedem Flüstern des Windes, bemerkte er den Einfluss der Druiden des Waldlandreiches. Ihrer für sie unanfechtbaren Philosophie entsprach es, jeglichen Eingriff in die Natur zu unterlassen und ihr Treiben lediglich als stiller Beobachter zu verfolgen, um aus diesem perfekten, ganzheitlichen System Lehren für die Heilkunst zu ziehen. Dieses strikte Dogma beinhaltete die vorrangige Verwendung pflanzlicher Arznei. Die Urkraft durfte zu Heilzwecken nur in einem einzigen Fall angewandt werden: Wenn der Weg in die Fänge des Todes drohte und dieser nicht mit den Mitteln des Waldes verhindert werden konnte. Zu diesem Schritt waren allerdings nur die fähigsten Druiden Lorungarts in der Lage.

    Doch selbst unter diesen Umständen lag es im Ermessen des Druiden, ob er sich bereit erklärte, eine Heilung durchzuführen. Denn der Tod war ihrer Ansicht nach nichts weiter als ein Kind der Natur. Ein Teil jenes Systems, das sie unter allen Umständen schützen wollten.

    Alles und jeder stirbt irgendwann, hallte es erneut in Fens Kopf wider. Schon sehr bald würde sich diese grausame Wahrheit ein weiteres Mal bestätigen.

    Armadis trat durch den Baumkreis auf die in goldenes Sonnenlicht getunkte Lichtung. Er hatte den Grund seiner Anwesenheit bereits von Weitem erblickt, denn nur selten gab es in den Tempeln Leidende, die an einen Rollstuhl gefesselt waren. In den meisten Fällen handelte es sich dabei um im Krieg zu Krüppeln gewordene Soldaten, die ihre Beine in einem offenen Gefecht, in Gefangenschaft, bei Erdrutschen oder Explosionen verloren hatten. Doch sie hielten sich in der Regel nicht allzu lange hier auf. Die Heilenden konnten nicht sonderlich viel für sie tun, außer die Blutung zu stoppen und die Wunden zu reinigen.

    Rúth jedoch war zwar eine von Armadis’ Schülerinnen, aber keine Kriegerin gewesen und dennoch eines der vielen Opfer, die der Krieg mit sich gebracht hatte. Sie besaß noch beide Beine, konnte sie aber nicht benutzen.

    Armadis hielt einige Meter vor ihr inne. Er betrachtete ihren geraden Rücken, die aufrechte Haltung. Das wild gelockte, braune Haar wand sich wie ein Vorhang um ihren zierlichen Kopf. Er genoss den aufrichtigen Klang ihres Lachens, so rein, so überraschend unverdorben. Trotz ihres Alters, ihrer Erlebnisse. Trotz ihrer Zukunft.

    Es war die Endgültigkeit, die zu ihrer Akzeptanz führte. Und ihre Akzeptanz war die Ursache für dieses Lachen. Denn nur, wenn sie ihr unverrückbares Schicksal akzeptierte, konnte sie ihre verbleibende Kraft vollkommen dem Menschen widmen, der ihr Leben nicht sinnlos erscheinen ließ.

    Schließlich ist ein Leben nur besonders, wenn es irgendwann endet.

    Armadis dachte über diesen Satz nach, der ihm wie aus dem Nichts im Gedächtnis erschienen war. Worte, die Evyn, sein ehemaliger Schüler und letzter König von Arén, gelegentlich zu sagen gepflegt hatte. Doch als sein Blick die tapsigen Bewegungen jenes Lebens zu Rúths Füßen streifte, das schon bald so viel verlieren würde, fragte er sich: Muss ein Leben denn immer besonders sein?

    Er wünschte, Evyn würde noch leben, um mit ihm über diese Frage diskutieren zu können.

    Rúth weilte ein wenig abseits von den anderen Tempelgängern, die sich überwiegend grüppchenweise im Schatten der Bäume aufhielten.

    Sie selbst hatte während des letzten Jahres hingegen genug im Schatten geweilt. Es zog sie in die Sonne. Ihre Haut wollte die Wärme spüren, verzehrte sich nach ihr. Jene Wärme, die ihr ihr eigener Körper schon lange nicht mehr zu geben vermochte. Ihre einst rastlosen Gedanken waren in kürzester Zeit erkaltet. Schneller, als sie befürchtet hatte. Ihr Herz begann leiser zu werden. Jegliche Liebe, die sie nach dem Angriff auf den Grenzposten aufbringen konnte, hatte sie ihrem Kind gespendet. Ihrem neugierigen, unzähmbaren Kind, das sie zum Lachen brachte. Das sie jede Sekunde ihres Leidens antrieb … und schon bald selbst angetrieben werden musste.

    »Dieser Anblick macht mich glücklich.«

    Rúth lächelte, als sie Armadis’ bärige Stimme in ihrem Rücken vernahm. Sie hatte gewusst, ihr alter Meister würde heute erscheinen. Die Praktizierenden hatten sein Kommen am frühen Morgen angekündigt. »Ja, er ist unbezahlbar, so wie jeder Moment mit ihm.«

    Die große, kräftige Hand fand auf ihrer zitternden Schulter Platz. Zwar hörten die unkontrollierten Bewegungen nicht auf, doch sie genoss den sanften Druck, der sich durch den dünnen Stoff ihres Krankenhemdes auf ihre Haut verteilte. Hätte sie ihre Arme bewegen können, hätte sie die Hand ergriffen. So begnügte sie sich mit einem weiteren Lächeln, das ihr noch um einiges leichter fiel, als ihr Sohn seinen Kopf ruckartig in ihre Richtung wandte … und bei dieser plötzlichen Bewegung eine winzige Untiefe übersah, die ihm sein Gleichgewicht nahm und ihn zu Fall brachte.

    »Aber Robb, du musst vorsichtiger sein«, tadelte sie den tapsenden Jüngling mit einem spielerischen Kichern. Robb begann zu weinen, und als dies geschah, hätte Rúth ebenfalls weinen mögen, weil sie nicht in der Lage war, aufzustehen und ihr Kind zum Trost in die Arme zu nehmen. Stattdessen nickte sie dankbar, als Fen den kleinen Robb behutsam hochhob und ihn ihr in den Schoß legte.

    Schwerfällig bewegte sie ihr Kinn zur Brust. Ihr Kopf kam ihr vor wie ein eingerostetes Türschloss. In diesen Tagen funktionierte ihr Körper selbst bei den simpelsten Bewegungen nicht ohne schier unermessliche Anstrengung.

    »Ich bin hier«, hauchte sie dem Jungen entgegen, welcher schluchzend seinen Kopf an Rúths Oberkörper vergrub. »Lass mich mal sehen.«

    Der kleine Robb entblößte widerwillig die Kniescheibe, auf der nun einige dünne, oberflächliche Kratzer zu sehen waren.

    »Nichts allzu Schlimmes, mein Schatz. Mama pustet.« Rúth nahm das letzte Überbleibsel an Kraft zusammen, das ihr das Gift bis zum heutigen Tag gelassen hatte, und presste ein wenig Luft aus ihren schwächlichen Lungen. Robb musste kichern, als die kitzelnde Kälte seine Haut streifte, und dieses Geräusch brannte sich wie ein Feuersturm in die Seele seiner Mutter.

    »Ich werde es vermissen«, flüsterte Rúth und ihre Stimme bröckelte. Armadis trat neben seinen Bruder, sodass Rúth sie beide anblicken konnte. Langsam bewegten sich ihre Augen zu ihnen empor.

    »Das ist nur natürlich«, antwortete der Meister ruhig.

    »Wie fühlst du dich heute, Rúth?« Fen trat einen Schritt vor und beugte sich zu ihr herunter. Der dichte Stoff seines enganliegenden, dunkelblauen Zeremoniengewandes spannte über den Knien. Seine kinnlangen Haare, weiß wie der Schnee aus dem Norden der Flusslande, umrahmten das kantige Gesicht und gaben ihm eine vertrauenserweckende, weichere Form. Zärtlich strich er über die fingerbreite Narbe an ihrem Unterarm, dem schwärzlich verfärbten Zeugnis ihres Leidens. Währenddessen stand Armadis noch immer aufrecht, mit verschränkten Armen, unerschütterlich und überdauernd, wie die Bäume, die sie umkreisten. Aber es wirkte niemals abweisend.

    »Es dauert nicht mehr lange, denke ich«, gab Rúth mit einem gequälten Lächeln zurück. Auch sie sah nun zu der Stelle, an der die Klinge des Wüstenhäschers sie vor mehr als einem Jahr verwundet hatte. »Mein Körper stumpft immer mehr ab. Bald schon …« Sie bewegte ihre Augen zu Robb, der sich unruhig auf ihrem Schoß hin und her wälzte und Fen sein Hinterteil entgegenstreckte. Das brachte den alten Mann zum Lächeln. »Bald schon wird mein Herzschlag verklingen.«

    Armadis’ Miene verhärtete sich, als Rúth ihn erneut ansah.

    »Meister, ich habe Gespräche zwischen den Heilenden gehört«, fuhr sie fort, in dem Bewusstsein, dass sie Fens Frage nicht wirklich beantwortet hatte. »Dass der Feind aus den Provinzen um Arén gedrängt wurde.« Rúths Augen weiteten sich. »Ist das wahr?«

    Armadis schwieg einen Moment, dann nickte er. »Es ist die Wahrheit.«

    »Und die Armeen der vier Reiche … sind sie auf dem Vormarsch?«

    »Harendaín schickt seine Männer, um die Spur unseres Feindes bis nach Ulungart zu verfolgen. Die Truppen befinden sich bereits auf dem Weg. Uriyal führt sie mit der Kraft Áspidans an.«

    Bei diesen Worten entfuhr Rúth ein unkontrolliertes Lachen, voller Erleichterung. »Den Göttern sei Dank. Das war alles, was ich mir gewünscht habe. Ich hätte es nicht ertragen können, Robb in einer solchen Welt zurücklassen zu müssen. Ich weiß, ihr werdet mit Evyn und den anderen gut über ihn wachen.«

    Armadis betrachtete Rúth mit unbewegtem Ausdruck. Nichts an seiner Mimik ließ erahnen, welche Gedanken ihm in diesem Moment durch den Kopf gingen. Dunkle Gedanken waren es, und davon einige.

    Er dachte an Rúths Geschichte. Ihren Weg, der sie vor etwas mehr als einem Jahr in diesen Tempel geführt hatte, zu einer Zeit, in der Arén und seine Provinzen dem Untergang geweiht schienen und Arshengard beinahe vollständig eingenommen war.

    Er dachte an Alems damaligen Bericht, den Kampf um die Grenzbastionen südlich der Hauptstadt betreffend. Hunderte und Aberhunderte Zivilisten waren dem Angriff der Doulouskía und Ulunianer zum Opfer gefallen. Mindestens doppelt so viele trugen schwere Verletzungen davon und erlagen kurze Zeit später deren Folgen.

    Zu der ersten Gruppe gehörte Jarmal Custos.

    Graf Jarmal Custos – Krieger der Goldenen Lande und stolzer Feldherr aus einem uralten Adelsgeschlecht, dessen Wurzeln bis zu den verlorenen Stämmen der C’elestar reichten. Begabt in der Urkraft. Kultiviert. Vermögend, aber dennoch bodenständig. Tapfer, loyal, aufopfernd. Und Vater des Jungen, der sich vor ihm und seinem Bruder an den Leib seiner liebenden Mutter schmiegte.

    Zu der zweiten Gruppe hätte Rúth gehören müssen. Rúth Custos, geborene Tinalca. Frühere Jägerin und Fährtenleserin unter direktem Befehl des Königs. Lebenslustig, aufmerksam, hilfsbereit, liebevoll. Frühere Ehefrau des ehemaligen Grafen.

    Nun trauernde Witwe und Mutter.

    Trauernd, aber am Leben.

    Noch.

    Dies war ein Umstand, dem Armadis nicht genug Zuwendung geschenkt hatte. Die mehrere Zentimeter lange Wunde, die sie bei einem Angriff auf den Grenzposten Ilanú erlitten hatte, wäre unter normalen Umständen nicht im Geringsten lebensgefährlich gewesen. Doch der Mann, der die Klinge führte, war einer der Wüstenhäscher, ein Kind des Sandes und der Hitze aus dem Nomadenreich Shâ. Dies war einer der schier endlosen Landstreifen im Südwesten Eñas und als eine der drei großen Wüsten bekannt. Sandwanderer wurden dessen Attentäter im gemeinen Volksmund geheißen und sie hatten sich zu Beginn des Krieges rasch auf die Seite der Finsternis geschlagen, wohingegen die anderen beiden Nomadenvölker seit den letzten anderthalb Jahrzehnten eine weitgehende Neutralität bewahrten. Sie töteten nur diejenigen, die in ihre Gefilde eindrangen. Ein Krieg, der sich außerhalb ihres ureigenen Reviers zutrug, spielte für sie keinerlei Rolle.

    Dies galt nicht für die Wüstenhäscher aus Shâ, jene groß gewachsenen, kriegerischen Leute, die als Söldner galten und stets dem Ruf schnellen Reichtums folgten. Dabei war ihnen gleich, wie viele Leben dieser Reichtum gekostet hatte und wie viele ihre Gegenleistung sie noch kosten würde.

    Die zahlenmäßige Unterstützung der Sandwanderer hatte maßgeblich dazu beigetragen, dass die Grenztruppen unter Graf Custos die Außenposten nicht verteidigen konnten. Ihr Kampfverhalten beruhte dabei auf einer höchst verschlagenen Taktik: dem Einsatz von Gift. Und zwar eines besonderen Giftes, nämlich das der Úlcra, den roten Riesenskorpionen. Es handelte sich um antike Geschöpfe aus längst vergangenen Zeiten, die während der Herrschaft der Drachen mit den Riesenspinnen gegen die vier Drachenstämme gekämpft hatten und schließlich unter der Führung von Arassar, dem ersten Drachenfürsten, zerschmettert worden waren.

    Die wenigen überlebenden Exemplare wurden von den Shâ-Nomaden und ihren Nachkommen gejagt, denn ihr Toxikum wies eine für die Sandwanderer interessante Besonderheit auf: Es war tödlich, wie auch die Gifte vieler anderer Geschöpfe Eñas, doch jener Tod durch das Úlcra-Gift war eine recht weit entfernte Folge. Es konnte Wochen dauern, bis es den Körper eines Lebewesens für immer zum Schweigen brachte, bei fachkundiger medizinischer Versorgung sogar Monate. Dies spielte den stets an der Zufriedenheit ihres Auftraggebers orientierten Shâ-Nomaden in die Hände. Denn nicht selten kam es vor, dass sie ihre Opfer kampfunfähig, aber lebend bei ihren Lohnherren abliefern mussten. Dafür war das Úlcra-Gift wie geschaffen. Oder genauer gesagt, seine hochgradig lähmende Wirkung.

    Eine Eigenschaft, mit der Rúths Körper nun seit beinahe einem Jahr fertigwerden musste. Armadis wusste, lang würde er nicht mehr aushalten. Dass sie noch lebte, war unter den Gesichtspunkten der Heilkunde sowieso im höchsten Maße ungewöhnlich. Unter normalen Umständen hätte ihr Herz längst nicht mehr schlagen dürfen. Sie dürfte nicht mehr atmen, geschweige denn auch nur einen einzigen Muskel bewegen können.

    Doch Rúth Custos lebte. Das Gift trieb sie an ihre Grenzen, körperlich wie geistig, aber sie gab nicht auf. Sie konnte nicht aufgeben, obwohl der Ausgang ihres Kampfes absehbar war. Schließlich forschten die Druiden und auch alle anderen Heilenden in den vier Reichen Eñas seit Jahrhunderten an einem Gegengift, an einem Mittel, das die Wirkung des Úlcra-Giftes neutralisierte. Doch selbst in den Waldlandreichen konnte bisher kein nennenswerter Erfolg vermeldet werden.

    Und so blieb Rúth Custos nichts anderes übrig, als mit einer nicht zu leugnenden Gewissheit auf ihr eigenes Ableben zu warten. Sie würde ihren Sohn als Waise zurücklassen und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte.

    Diese Gedanken waren es, die den alten Meister befielen, wenn er auf die Frau im Rollstuhl blickte. Gedanken, die sich in jene, die seinen Geist bereits beherrschten, so perfekt einfügten, dass er nicht daran glaubte, dass das Schicksal dieses Jungen vom Zufall gelenkt wurde. Ebenso wenig wie das der anderen Zöglinge, die ihm seine ehemaligen Schüler anvertraut hatten. Etwas tief in seinem Inneren, er empfand es als eine Mischung aus Ahnung und Bestimmung, teilte ihm mit, dass ihre Leben miteinander verbunden waren.

    »Ich werde dafür Sorge tragen, dass deinem Kind nichts geschieht, Rúth.«

    Rúths Lächeln wurde intuitiv schmaler, als sie den festen, angespannten Unterton in seiner Stimme wahrnahm. »Ihr glaubt nicht an ein baldiges Ende des Krieges«, stellte sie ernüchtert fest.

    Armadis wandte den Blick ab, blickte in die Ferne. Nach einem Moment des Schweigens sprach er: »Es war schon immer unklar, welche Grenzen den Anfang und das Ende eines Krieges markieren.«

    Rúth starrte ihn an. Sie machte sich nicht die Mühe, über diesen verheißungsvollen Satz nachzudenken. In den meisten Worten ihres ehemaligen Meisters lag eine Weisheit, die dieser seiner beträchtlichen Lebenserfahrung verdankte, doch nur selten war die Quintessenz in ihnen klar zu greifen. Manchmal kam es Rúth so vor, als wollte Armadis sein gesamtes Umfeld dazu ermutigen, seine Gedanken als Anstoß zu nehmen, um sich über die eigene, die persönliche Wahrheit bewusst zu werden. Etwas, das für Rúth in diesem Moment und in ihrem Zustand unmöglich erschien. Alles, was sie klar und deutlich sehen konnte, war, dass Armadis und auch Fen nicht davon überzeugt waren, dass die Nachricht vom Rückzug ihrer Besatzer das lang ersehnte Ende der Dunkelheit bedeutete … oder dieses Ende vielleicht auch nur einläutete. Aber wieso war dies der Fall? Wieso?

    »Aber … Evyn ist der König von Arshengard! Die Drachen haben in ihm den Wegbereiter für den Sieg des Lichtes gesehen! Ihr habt selbst gesagt, dass seine Urkraft mächtiger ist als die jedes anderen Salai in der Geschichte Eures Stammes! Glaubt mir, Meister, er wird die Dunkelheit bezwingen!« Sie legte mehr Kraft in ihre Stimme, als ihr Körper es ihr gestattete. »Jamal hat an ihn geglaubt! Alem und Bal glauben noch immer an ihn! Ich …« Sie schluckte, als sie die Bewegungen ihres Sohnes auf ihrem Unterleib spürte. »Ich werde an ihn glauben, solange ich noch Kraft habe«, hauchte sie den beiden Brüdern entgegen, doch sie bemerkte, dass sie zu sich selbst sprach. Und zu ihrem Sohn, dem sie Gleiches auftrug und ihn damit einer weiteren Belastung, einer weiteren Aufgabe aussetzte. Plötzlich hatte sie das Gefühl, unter der Last ihrer eigenen Handlungsunfähigkeit zusammenzubrechen.

    »Alem und Bal …«, begann Armadis, während Fen die Augen schloss und schluckte. Die Mienen der beiden Männer versteiften sich, anstatt dass einer von ihnen weitersprach.

    Rúth hatte das Gefühl, als hätte sich mit einem Mal eine nicht zu erspähende und doch zerdrückende Schwere über sie gelegt. Bei der Erwähnung der zwei Kommandanten, die Rúth bereits in Kindestagen in ihr Herz geschlossen hatte, zogen sich ihre schwächlichen Muskeln ungewöhnlich rasch zusammen.

    »Alem und Bal sind tot. Sie haben beide vor wenigen Stunden im letzten Gefecht um die Hauptstadt ihr Leben gelassen.«

    Stille.

    Dunkelheit.

    Ein einzelner, undurchdringlicher Schleier legte sich über Rúths Augen und raubte ihr den letzten Funken Licht, an dem sie so lange festgehalten hatte.

    Sie hätte schreien mögen. Sie konnte es nicht.

    Sie hätte aufstehen und weglaufen mögen. Weit, weit weg. Mit Robb in ihren Armen, gemeinsam mit ihren Freunden. Sie konnte es nicht.

    Sie konnte nicht einmal Tränen vergießen. Sie lächelte und ihr Verstand schien angesichts dieser widersprüchlichen Reaktion zu bersten. Ihre Lippen teilten sich, doch kein einziges Wort verließ den ausgetrockneten Mund. Lediglich ein brüchiges Röcheln stahl sich aus der nutzlosen Öffnung.

    »W-was?« Nur ein Flüstern, ein kaum wahrnehmbarer Laut. Dann noch einer: »Evyn?«

    »Der König fiel ebenfalls«, erwiderte Armadis. Seine Stimme hatte sich nicht verändert, aber Rúth entdeckte die tiefe Zerrissenheit in seinem Blick. Seine Miene war nichts weiter als eine einzige Maske. Evyns Tod bedeutete für ihn mehr als den Verlust des Königs der Goldenen Lande. Viel mehr.

    Die nächsten Worte waren gedämpft. Erklärungen über das, was geschehen war, flogen um Rúth herum wie ein Schwarm nervöser Bienen. Das laute Summen und Hämmern in ihrem Kopf sorgte dafür, dass sie lediglich Bruchstücke wahrnahm. Schlucht. Der Latjan-Pass. Doulouskía. Die drei Schatten. Die Flucht des Kriegstreibers. Die Zukunft ist ungewiss. Und dann ein Satz, der sich immer und immer wieder wiederholte, dessen Ausmaß sie jedoch gegenwärtig nicht vollständig begreifen konnte: Evyn war es nicht.

    Rúths verbleibende Kraft galt schließlich einem Gedanken. »Was geschieht mit den Kindern?« Ihre eigene Stimme vermochte es kaum, den dumpfen Nebel, der ihre Sinne erstickte, zu durchbrechen.

    Armadis strich sich nachdenklich über den dichten weißen

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