Die vierzig Tage des Musa Dagh. Band 3: Untergang – Rettung – Untergang
Von Franz Werfel
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Mit einer präzisen und ausdrucksstarken Sprache wird die zunehmende Ausgrenzung der Armenier geschildert, bis sie schließlich von den Türken mit offener Waffengewalt verfolgt werden. Eine armenische Dorfgemeinschaft flüchtet auf ihren Heimatberg, den Musa Dagh. Ihr Anführer ist Gabriel Bagradian, ein ehemaliger Offizier der osmanischen Armee. Nur mit Sattelpistolen und Jagdgewehren bewaffnet, verschanzen sie sich auf dem Berg. Sie errichten mit bloßen Händen Festungsanlagen und leisten den Verfolgern erbitterten Widerstand. Immer wieder gelingt es ihnen, die türkischen Angriffe abzuwehren. Doch die Übermacht ist erdrückend. Es sieht nicht so aus, als könnte es eine Rettung für sie geben…
Dies ist der dritte Band der Trilogie “Die vierzig Tage des Musa Dagh”. Der Umfang des dritten Bandes entspricht ca. 350 Buchseiten.
Franz Werfel
Franz Viktor Werfel (* 10. September 1890 in Prag; † 26. August 1945 in Beverly Hills) war ein österreichischer Schriftsteller jüdisch-deutschböhmischer Herkunft. Er ging aufgrund der nationalsozialistischen Herrschaft ins Exil und wurde 1941 US-amerikanischer Staatsbürger. Er war ein Wortführer des lyrischen Expressionismus.
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Rezensionen für Die vierzig Tage des Musa Dagh. Band 3
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Buchvorschau
Die vierzig Tage des Musa Dagh. Band 3 - Franz Werfel
FRANZ WERFEL
DIE
VIERZIG TAGE
DES
MUSA DAGH
R O M A N
in drei Bänden
Band 3
UNTERGANG • RETTUNG • UNTERGANG
DIE VIERZIG TAGE DES MUSA DAGH wurde zuerst veröffentlicht von Zsolnay, Berlin/Wien/Leipzig 1933.
Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von
© apebook Verlag, Essen (Germany)
www.apebook.de
1. Auflage 2020
V 1.0
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.
Dritter Band
ISBN 978-3-96130-351-9
Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de
Alle verwendeten Bilder und Illustrationen sind – sofern nicht anders ausgewiesen – nach bestem Wissen und Gewissen frei von Rechten Dritter, bearbeitet von SKRIPTART.
Alle Rechte vorbehalten.
© apebook 2020
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Inhaltsverzeichnis
DIE VIERZIG TAGE DES MUSA DAGH. Band 3: Untergang • Rettung • Untergang
Impressum
Drittes Buch
UNTERGANG – RETTUNG – UNTERGANG
Erstes Kapitel: Zwischenspiel der Götter
Zweites Kapitel: Stephans Aufbruch und Heimkehr
Drittes Kapitel: Der Schmerz
Viertes Kapitel: Zerfall und Versuchung
Fünftes Kapitel: Die Altarflamme
Sechstes Kapitel: Die Schrift im Nebel
Siebentes Kapitel: Dem Unerklärlichen in uns und über uns
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Zu guter Letzt
Drittes Buch
UNTERGANG – RETTUNG – UNTERGANG
»Dem Sieger werde ich von dem verborgenen Manna geben
und werde ihm einen weißen Stein geben
und auf dem Stein einen neuen Namen geschrieben,
den niemand kennt als nur der, welcher ihn empfängt.«
Offenbarung Johannis 2, 17
Erstes Kapitel
Zwischenspiel der Götter
»Hier, mein verehrter Herr Doktor Lepsius, sehen Sie nur einen kleinen Teil unsres Aktenbestandes in der armenischen Sache ...«
Der liebenswürdige Geheimrat legte seine blanke schöngeäderte Marmorhand auf den staubigen Papierbau, der den Schreibtisch so hoch bedeckt, dass sein edles Pferdegesicht immer wieder dahinter verschwindet. Das hohe Fenster des auffällig leeren Zimmerchens steht weit offen. Aus dem Garten des Auswärtigen Amtes dringt dunstig schlaffe Sommerluft in den Raum. Johannes Lepsius sitzt ziemlich steif auf dem Besucherplatz mit dem Hut auf den Knien. Seit seiner denkwürdigen Unterredung mit Enver Pascha ist kaum mehr als ein Monat vergangen, und doch hat sich das Aussehen des Pastors in beängstigender Weise verändert. Sein Haar scheint schütterer, sein Bart grauer, die Nase kürzer und spitzer geworden zu sein. Die Augen strahlen nicht mehr. Die träumerische Weite ist aus ihnen verschwunden und hat einem abwartenden und spöttischen Argwohn Platz gemacht. Kann die Krankheit seines Blutes in diesen wenigen Tagen so bedenklich fortgeschritten sein? Ist es der armenische Fluch, der in geheimnisvoller Verbundenheit ihn, den Deutschen, mit verzehrt? Ist es die unermessliche Arbeit, die er in kurzer Zeit geleistet hat? Schon steht das neue Hilfswerk gegen Tod und Teufel auf festen Füßen. Sogar Geld ist da, und die besten Menschen sind gewonnen. Es gilt nun, das Sphinxrätsel der Staatsmacht zu lösen. Der Blick des Pastors gleitet hinter dem aufblitzenden Zwicker verächtlich über den Aktenberg. Der liebenswürdige Geheimrat zieht die Augenbrauen hoch, nicht aus Verwunderung, sondern um sein goldgefasstes Einglas fallen zu lassen:
»Es vergeht kein Tag, glauben Sie mir, an dem nicht eine Mahnung an die Botschaft in Konstantinopel aus dem Haus gesandt wird. Und es vergeht keine Stunde, in der nicht der Botschafter bei Talaat und Enver in dieser scheußlichen Angelegenheit interveniert. Trotz der größten Sorgen ist der Herr Reichskanzler persönlich mit dem größten Eifer dahinter. Sie kennen ihn ja, er ist ein Mann wie Marc Aurel ... Ich darf übrigens Herrn von Bethmann-Hollweg bei Ihnen entschuldigen, Herr Doktor Lepsius. Es war ihm heute leider unmöglich, Sie zu empfangen ...«
Lepsius lehnt sich weit zurück. Auch seine klangvolle Stimme ist müder und schärfer geworden:
»Und welche Erfolge haben unsere Diplomaten zu verzeichnen, Herr Geheimrat?« Die blanke Marmorhand wühlt irgendwelche Dokumente aus dem Papierbau:
»Sehn Sie! Da haben wir Herrn von Scheubner-Richter in Erzerum! Da haben wir Hoffmann in Alexandrette und den Generalkonsul Rößler in Aleppo. Die Leute berichten und berichten. Sie zerreißen sich für die Armenier. Gott weiß, wie viele Hunderte dieser Ärmsten der Rößler allein gerettet hat. Und was ist der Dank für seine Menschlichkeit? Die englische Presse stellt ihn als Bluthund dar, der die Türken in Marasch zum Massaker aufgereizt hat. Was soll man da tun?«
Lepsius sucht jetzt den Blick des Liebenswürdigen, der hinter seiner Papierdeckung auftaucht und verschwindet wie ein launischer Mond hinter Wolken:
»Ich wüsste schon, was man tun soll, Herr Geheimrat ... Rößler und die andern, das sind lauter Ehrenmänner, ich kenne sie ... Rößler ist außerdem ein ganz besonders feiner Kerl ... Aber was kann solch ein kleiner bedauernswerter Konsul ausrichten, wenn er nicht die nötige Unterstützung findet?«
»Na hören Sie mal, Herr Pastor? Keine Unterstützung? Das ist doch mehr als ungerecht.«
Lepsius macht eine knappe nervöse Handbewegung, mit der er ausdrückt, dass die Sache zu ernst und die Zeit zu kurz sei, um mit höflichen Palavers verloren zu werden:
»Ich weiß sehr gut, Herr Geheimrat, dass alles Erdenkliche geschieht. Die täglichen Interventionen und Demarchen der Botschaft sind mir wohlbekannt. Aber wir haben es ja nicht mit Staatsmännern zu tun, die in der Ehrfurcht vor den diplomatischen Spielregeln aufgewachsen sind, sondern mit Leuten wie Enver und Talaat. Für diese Leute ist alles Erdenkliche viel zu wenig und nicht einmal das Unausdenkliche genug. Die Ausrottung der Armenier ist das Palladium ihrer nationalen Politik. Ich habe mich in einem langen Gespräch mit Enver Pascha selbst davon überzeugen können. Ein ganzes Trommelfeuer von deutschen Demarchen wirkt auf diese Leute bestenfalls als Belästigung ihrer scheinheiligen Höflichkeit.«
Der Geheimrat kreuzt die Arme. Sein langes Gesicht nimmt einen erwartungsvollen Ausdruck an:
»Und wissen Sie, Herr Doktor Lepsius, einen anderen Weg, um sich in die inneren Angelegenheiten einer befreundeten und verbündeten Macht einzumischen?«
Johannes Lepsius versenkt den Blick aufmerksam in sein Hutinneres, als habe er sich dort einen Zettel mit Notizen zurechtgelegt. Doch, bei Gott, wie überflüssig wäre diese Vorsorge. Zehntausend solcher Notizen durchschwirren bei Tag und Nacht seinen armen Kopf, sodass er fast keinen Schlaf mehr findet. Er will sich jetzt nur sammeln, um kurz und methodisch vorzugehen:
»Wir müssen uns vor allem klarmachen, was in der Türkei geschieht und schon geschehen ist: Eine Christenverfolgung von solchem Ausmaß, dass sie sich mit den berühmten Verfolgungen unter Nero und Diokletian nicht im Entferntesten vergleichen lässt. Und außerdem das allergrößte Verbrechen der bisherigen Weltgeschichte, was schon einiges heißen will, wie Sie mir zugeben werden ...«
In die hellen Augen des Beamten tritt eine leichte Neugier. Er schweigt, während Lepsius mit wohlabgewogenen Worten sich Schritt für Schritt weitertastet. Seit seiner Niederlage durch Enver Pascha hat er ohne Zweifel so manches für den Umgang mit Politikern zugelernt:
»Wir dürfen in den Armeniern nicht irgendein halbwildes Ostvolk sehen ... Es sind kultivierte, gebildete Menschen mit einer Nervenverfeinerung, die man, ich sage es offen, bei uns in Europa nur selten antrifft ...«
Kein Zucken in dem schmalen Gesicht des Geheimrats lässt darauf schließen, dass er diese Rangbestimmung des armenischen »Händlervolkes« vielleicht für übertrieben hält.
»Es geht hier«, fährt Johannes Lepsius fort, »keineswegs um eine innerpolitische Frage der Türkei. Nicht einmal die Ausrottung eines kleinen Zwergnegerstammes ist eine innerpolitische Frage der Ausrotter und Ausgerotteten. Umso weniger können wir Deutschen uns in eine bedauernde oder verzweifelte Neutralität retten. Das feindliche Ausland macht uns verantwortlich.«
Der Geheimrat schiebt mit einem Ruck die Aktenstöße von sich, als brauche er Luft:
»Es gehört zur tiefen Tragik der deutschen Kriegführung, dass wir, so reinen Gewissens wir auch sind, mit fremder Blutschuld belastet werden ...«
»Alles auf dieser Welt ist zunächst eine moralische und viel später erst eine politische Frage.«
Der Geheimrat nickt Beifall:
»Ausgezeichnet, Herr Pastor, auch ich vertrete immer die Ansicht, dass man bei jeder politischen Entschließung zuerst das Moralische kalkulieren muss.«
Lepsius wittert Erfolg. Jetzt heißt es, zuzupacken:
»Ich sitze hier nicht als einzelner armer Mensch bei Ihnen, Herr Geheimrat. Es ist keine Anmaßung, wenn ich sage, dass ich im Namen der ganzen deutschen Christenheit gekommen bin, der protestantischen, ja auch der katholischen. Ich handle und spreche in Einigkeit mit bedeutenden Männern wie Harnack, Deißmann, Dibelius ...«
Der Geheimrat bestätigt das Gewicht dieser Namen durch einen anerkennenden Blick. Johannes Lepsius aber gerät in seinen alten Schwung, der ihm schon oft gefährlich geworden ist:
»Der deutsche Christ ist nicht mehr gewillt, diesem Verbrechen am Christentum tatenlos zuzusehen. Sein Gewissen erträgt es nicht, durch Lauheit länger mitschuldig zu sein. Die Siegeshoffnung des Reiches steht und fällt mit der Freudigkeit der deutschen Christen. Ich für meine Person schäme mich bis zum Ekel, dass die feindliche Presse spaltenlang über die Deportation berichtet, während das deutsche Volk in den deutschen Zeitungen mit den lügnerischen Kommuniques Envers abgespeist wird und sonst kein Wort erfährt. Verdienen wir es nicht, die Wahrheit über das Schicksal unserer Glaubensgenossen zu hören? Diesem unwürdigen Zustand muss ein Ende gemacht werden.«
Der Geheimrat, über den anklägerischen Ton des Pastors ein wenig erstaunt, legt die Finger aneinander und bemerkt unschuldig:
»Aber die Zensur! Die Zensur könnte das niemals gestatten. Sie ahnen ja gar nicht, wie verwickelt diese Dinge sind, Herr Lepsius.«
»Das primitivste Recht des deutschen Volkes ist es, nicht betrogen zu werden.«
Der Geheimrat lächelt nachsichtig: »Was würde die Folge dieses Pressefeldzuges sein? Eine schwere Belastung der deutschen Nerven und des türkischen Bündnisses.«
»Dieses Bündnis darf uns nicht vor der Geschichte zu Hehlern machen. Wir wünschen daher, dass unsre Regierung schleunig eine Tat setze. Fordern Sie doch in Stambul mit dem allergrößten Nachdruck, dass eine neutrale Kommission, Amerikaner, Schweizer, Holländer, Skandinavier, nach Anatolien und Syrien eingelassen werde, um die Vorgänge zu untersuchen!«
»Sie kennen die jungtürkischen Machthaber zu genau, Herr Pastor Lepsius, um nicht selbst berechnen zu können, welche Antwort wir auf diese Forderung bekämen.«
»Dann muss Deutschland zu den stärksten Mitteln greifen ...«
»Und die wären nach Ihrer Ansicht?«
»Die Drohung, der Türkei alle Hilfe zu entziehen und die deutsche Militärmission, die deutschen Offiziere und Truppen von den Fronten abzuberufen.«
Die Liebenswürdigkeit auf den kühl-gewinnenden Zügen des Geheimrats verwandelt sich in teilnahmsvolle Güte:
»Man hat Sie mir wirklich so geschildert, wie Sie sind, Herr Pastor Lepsius, so ... unschuldig ...«
Er steht schlank auf. Sein grauer Sommeranzug sitzt nicht so unerbittlich straff wie sonst bei seinesgleichen. Diese leichte Nachlässigkeit seiner Art flößt Vertrauen und Sympathie ein. Er wendet sich zu der großen Karte, Europa und Kleinasien, die an der Wand hängt, und bedeckt den Osten ungenau mit seiner blaugeäderten Hand:
»Die Dardanellen, der Kaukasus, Palästina und Mesopotamien, das sind heute deutsche Fronten, Herr Lepsius, mehr noch als türkische. Wenn sie zusammenbrechen, bricht unser ganzes Kriegsgebäude zusammen. Wir können doch wohl den Türken nicht mit unserem eigenen Selbstmord drohen, ohne uns lächerlich zu machen. Ich brauche nicht erst auf die ungeheure Bedeutung hinzuweisen, die S. M. der Kaiser unsrer orientalischen Macht beimisst. Sollten Sie aber nicht wissen, dass sich die Türken durchaus nicht als unsre Schuldner, sondern recht sehr als unsre Gläubiger fühlen? Noch heute sind die ententefreundlichen Strömungen in der ottomanischen Regierung äußerst stark. Ich kann Ihnen verraten, dass eine mächtige Gruppe des Komitees gern bereit wäre, umzusatteln und lieber noch heute als morgen mit dem Feindbund in Friedensverhandlungen einzutreten. Sie könnten es nachher leicht erleben, wie dasselbe Frankreich und England, die sich jetzt über die Armeniergräuel laut jammernd empören, morgen beide Augen zudrücken würden. Sie sprechen von Wahrheit, Herr Lepsius? Die Wahrheit ist, dass die Türken in diesem Spiel die Trümpfe in der Hand halten, dass wir unendlich vorsichtig zu sein haben und die Grenzen des Möglichen achten müssen.«
Johannes Lepsius hört den Geheimrat ruhig an. Er kennt sie genau, diese Wahrheiten, wie die Kinder der Welt sie mit schneidender Logik vertreten. Sie schließen dicht und fugenlos. Wer nur ein Glied der Kette anerkennt, ist verloren. Der Pastor aber ist längst darüber hinaus, dergleichen anzuerkennen. In den letzten Wochen ist ihm eine geistige Hornhaut gewachsen, die ihn gegen solches Denken unempfindlich macht. Er lässt sich nicht herauslocken. Hartnäckig bleibt er in seinem Kreis:
»Ich bin kein Politiker. Es ist nicht meine Sache, Mittel und Wege zu finden, wie man im letzten Augenblick noch einen Teil des armenischen Volkes retten könnte. Es ist aber meine Pflicht als Vertreter einer großen Anzahl gleichgesinnter deutscher Christen, die dringende Bitte auszusprechen, dass solche Mittel und Wege gefunden werden, und zwar, ehe es zu spät ist.«
»Wie man die Sache auch dreht und wendet, Herr Pastor, man kann vielleicht das Schicksal der Armenier hier und dort mildern, verändern kann man es leider nicht.«
»Mit diesem unchristlichen Standpunkt werden sich weder meine Freunde abfinden noch ich selbst.«
»Begreifen Sie doch, dass in diesem Schicksal höhere Geschichtsmächte zur Geltung kommen, die sich unserem Einfluss entziehen ...«
»Ich begreife nur, dass Enver und Talaat mit satanischer Genialität den besten Augenblick wahrgenommen haben, um die Rolle dieser höheren Geschichtsmächte zu spielen.«
Der Geheimrat lächelt geziert, als sei es nun auch an ihm, einen Zipfel seiner religiösen Anschauungen sehen zu lassen:
»Sagt nicht Nietzsche, was stürzt, soll man noch stoßen?«
Nietzsche aber ist nicht der Mann, ein Kind Gottes, wie es Johannes Lepsius ist, aus der Fassung zu bringen. Etwas unwillig über die Allgemeinheiten, in die das Gespräch zerbröckelt, meint er knapp:
»Wer weiß es denn, ob er der Stürzende oder der Stoßende ist?«
Der Geheimrat, der wieder am Schreibtisch sitzt, wirft noch einmal einen kurzen Blick auf die Wandkarte:
»Die Armenier gehen an ihrer Geographie zugrunde. Das Los der Schwächeren, das Los der verhassten Minorität!«
»Jede Person und jede Nation kommt einmal in die Lage, die schwächere zu sein. Deshalb darf man einen Präzedenzfall der Ausrottung, ja auch nur der Schädigung nicht dulden.«
»Haben Sie sich niemals die Frage vorgelegt, Herr Doktor, ob nationale Minoritäten nicht überflüssige Beunruhigungen vorstellen und am besten zu verschwinden hätten?«
Lepsius nimmt sein Augenglas ab und putzt es angelegentlich. Seine Augen zwinkern stumpf und müde. Sein ganzer Körper bekommt durch den geschwächten Blick etwas Täppisches:
»Herr Geheimrat, sind wir Deutschen denn keine Minderheit?«
»Was wollen Sie damit sagen? Ich verstehe Sie nicht.«
»Innerhalb eines gegen Deutschland vereinigten Europas bilden wir eine verflucht gefährdete Minderheit. Es muss nur einmal schiefgehen. Und eine besonders gescheite Geographie haben wir uns auch nicht ausgesucht.«
Das Gesicht des Geheimrats ist nun nicht mehr liebenswürdig, sondern scharf und sehr blass. Ein Schwall staubiger Mittagshitze schlägt durch das Fenster:
»Sehr richtig, Herr Pastor! Und deshalb hat jeder Deutsche die Pflicht, sich um sein eigenes Volksschicksal zu kümmern und der Blutströme zu gedenken, die, wie Sie es zu nennen belieben, die deutsche Minorität vergießt. Nur unter diesem Gesichtspunkt können wir uns mit der armenischen Frage beschäftigen.«
»Wir Christen sind abhängig von der Gnade Gottes und vom Gehorsam des Evangeliums. Ich sage Ihnen rundheraus, Herr Geheimrat, dass ich jeden andern Standpunkt verwerfe. Seit einigen Wochen werde ich mir täglich klarer darüber, dass den Kindern dieser Welt, den Politikern, die Macht entwunden werden muss, soll die Gemeinschaft des Heilands, des Corpus Christi Wirklichkeit werden auf unserer kleinen Erde ...«
»Gebt dem Cäsar, was des Cäsars ist.«
»Was aber ist des Cäsars außer dem abgegriffenen Groschenstück? Das sagt der Herr in seiner göttlichen Verschlagenheit nicht. Nein, nein! Die Völker sind Untertanen ihrer Artung. Und die Schmeichler, die von ihnen leben wollen, reizen liebedienerisch ihre Eitelkeit. Als wäre es schon ein besonderes Verdienst, als Hund oder Katze, als Kohlrübe oder Kartoffel geboren zu sein. Jesus Christus aber gibt uns das ewige Beispiel, wie der Gottmensch sich in menschliche Artung nur zu dem Zweck kleidet, um sie zu überwinden. Deshalb sollten auf Erden nur die echten Diener Christi herrschen, und zwar deshalb, weil sie ihre Artung, ihre irdischen Bedingungen überwunden haben. Das ist mein politisches Glaubensbekenntnis, Herr Geheimrat.«
Der preußische Aristokrat gibt nicht die leiseste Ironie zu erkennen:
»Sie haben wie ein eingefleischter Katholik geredet, Herr Pastor.«
»Katholischer als ein Katholik! Denn die Kirche meiner Zuversicht teilt mit keiner Laienmacht die Herrschaft.«
Der Geheimrat klemmt sein Monokel wieder ins Auge, als gebe er damit zu verstehen, dass die Zeitspanne der Erörterungen nun zu Ende sei:
»Ehe wir aber nicht wieder bei der heiligen Inquisition halten, müssen wir armen Kinder der Welt die Verantwortung tragen.«
Johannes Lepsius, der vielleicht ein wenig zu weit gegangen ist, nimmt sich wieder zurück. Seine Worte klingen ruhig, fast abweisend:
»Ich will weiter zu Ihnen offen sein, Herr Geheimrat ... Bis vor einigen Tagen war ich noch hoffnungsvoll und habe geglaubt, der Herr Reichskanzler werde mich in diesem Kampf durch drastischere Mittel unterstützen als bisher. Sie haben mich nun endgültig darüber belehrt, dass unsere Regierung der Pforte gegenüber gebundene Hände hat und mit den üblichen Demarchen und Interventionen ihr Auslangen finden muss. Gut! Mich aber bindet keinerlei Staatsräson. Und auf meinen Schultern allein liegt jetzt die armenische Sache in Deutschland. Ich bin nicht gewillt, Konzessionen zu machen und zurückzuweichen. In Gemeinschaft mit meinen Freunden werde ich die Aufklärung in das Volk hinaustragen. Denn nur wenn die Menschen die ganze Wahrheit wissen, kann ich das christliche Hilfswerk auf ein breites Fundament stellen ... Ich bitte daher, mir wenigstens bei dieser Tätigkeit nicht in den Arm zu fallen.«
Der Geheimrat, der sich in das Studium seiner Armbanduhr vertieft hat, hebt erfreut den Kopf:
»Eine Offenheit ist der anderen wert, Herr Pastor ... Sie werden es mir also nicht übelnehmen, wenn ich Ihnen mitteile, dass man schon lange ein Auge auf Sie hat. Ihr Aufenthalt in Konstantinopel war Gegenstand so mancher Beschwerde. Ich sage es noch einmal, Sie ahnen nicht, wie verwickelt die Dinge liegen. Es tut mir leid. Ich habe die größte Hochachtung vor Ihrer humanitären Tätigkeit. Und doch, diese Tätigkeit ist, nun, sie ist im politischen Sinn unerwünscht. Ich würde Ihnen raten, Verehrtester, sie einzuschränken und möglichst unauffällig zu gestalten.«
Die Antwort des Pastors fällt im Ton eher mürrisch als feierlich aus: »An mich ist ein Ruf ergangen. Keine Macht der Welt kann mich hindern, diesem Ruf zu folgen.«
»Sagen Sie das nicht, Herr Doktor Lepsius«, erschrickt der Geheimrat mit beinahe bestürzter Liebenswürdigkeit, »einige Mächte der Welt arbeiten schon daran, Sie gründlich zu hindern.«
Der Pastor tastet seine linke Rockseite eingehend ab. Dann erhebt er sich:
»Ich bin Ihnen äußerst dankbar, Herr Geheimrat, für Ihre Aufrichtigkeit und für Ihren Rat.«
Der hohe schlanke Herr steht mit einer Art selbstgefälliger Verlegenheit, die ihn gut kleidet, vor Lepsius:
»Es freut mich, dass wir uns so rasch verstanden haben, Herr Pastor. Sie sehen blass aus. Es wäre für Sie am bekömmlichsten, eine Zeitlang auszuspannen und in den Tag hinein zu leben. Wohnen Sie nicht in Potsdam?«
Johannes Lepsius bedauert, den Herrn Geheimrat so lange in Anspruch genommen zu haben. Dieser aber geleitet ihn mit dem reizendsten Lächeln zur Tür:
»Aber nein, Herr Pastor, eine interessantere Stunde habe ich lange nicht erlebt.«
Unten auf der mittagsschwülen Wilhelmstraße prüft sich Johannes Lepsius, ob er sich dem Herrnworte gemäß sanft wie eine Taube und klug wie eine Schlange verhalten habe. Er muss aber schnell erkennen, dass er sowohl als Taube wie auch als Schlange versagt hat. Zum Glück jedoch ist er vorsichtig genug gewesen, sich schon vor längerer Zeit alle nötigen Pässe, Sichtvermerke, Reiseerlaubnisse, Geldausfuhrbewilligungen zu beschaffen. Darum hat er vorhin seine linke Brustseite so eingehend nach diesen Heiligtümern betastet. Er dreht sich scharf um, ob ihn nicht jetzt schon ein Kriminalbeamter verfolge. Sein Entschluss ist gefasst. Der D-Zug nach Basel geht um drei Uhr vierzig. Er hat noch mehr als drei Stunden Zeit, um nachhause zu telefonieren, sein Gepäck kommen zu lassen und sich sonst auf die Reise vorzubereiten. Morgen schon können die Grenzen für ihn gesperrt sein. Doch er muss nach Stambul kommen! Dort gehört er hin, wenn er auch jetzt noch keine deutliche Vorstellung hat, warum. In Deutschland jedenfalls geht sein Hilfswerk auch ohne ihn weiter. Die Organisation ist geschaffen, das Büro eingerichtet, Gönner, Freunde, Mitarbeiter sind gewonnen. Sein Platz ist nicht in der gesicherten gleichgültigen Ferne, sondern an der Küste des Blutmeeres selbst.
Auf dem Potsdamer Platz herrscht ein betäubender Verkehr. Der kurzsichtige Lepsius wartet lange auf eine Gelegenheit, heil auf die andre Seite zu kommen. Das Donnern, Rollen, Rattern, Kreischen der Autos, Autobusse und Straßenbahnen dröhnt als ein zusammengeschmolzener Ton an sein Ohr. Wie Glocken einer ungeheuren barbarischen Kathedrale. Ein kleines Gedicht fällt ihm ein, das er vor vielen Jahren an Bord des tanzenden Schiffleins niedergeschrieben hat, das ihn an dem Felseneiland Patmos-Patino vorübertrug, an der heiligen Insel des Apostels und Offenbarers Johannes. Jetzt tönt in ihm der Refrain auf:
»A und O, A und O
Läuten die Glocken von Patino.«
Und dieser Versklang scheint zwei so gegensätzliche Örtlichkeiten wie Patmos und Potsdamer Platz miteinander zu verbinden.
Das Leben eines scheuen Nachttiers in Stambul.
Johannes Lepsius weiß sich verfolgt und beobachtet. Er verlässt daher das Hotel Tokatlyan meist nur bei Nacht. Am ersten Tag seines Aufenthaltes hat er seinen Pflichtbesuch auf der deutschen Botschaft abgestattet. Anstatt des Ministers, des Botschaftssekretärs oder Presseattachés empfängt ihn ein untergeordneter Beamter mit der eindeutig dürren Frage, welche Absichten ihn nach Konstantinopel führen. Lepsius erwidert, er sei ohne bestimmten Zweck in diese Stadt, die er sehr liebe, gekommen, nur um sich ein wenig zu erholen. Das mit dem mangelnden Ziel stimmt übrigens. Der Pastor hat keine bestimmte Vorstellung von dem, was er werde unternehmen können. Er weiß nur, dass er bei den Türken und nun auch bei den Deutschen verfemt ist. Jener vortreffliche Korvettenkapitän von der Botschaft zum Beispiel, der seine Unterredung mit Enver Pascha damals so mühsam zustande gebracht hat, begegnet ihm auf einer Straße von Pera und schaut auffällig fort. Gott weiß, was für niederträchtige Lügen über ihn im Schwange sind! Oft überläuft es ihn eisig bei dem Gedanken, dass er in der türkischen Hauptstadt ganz verlassen dasteht und an der Vertretung seines Heimatlandes nicht nur keinen Rückhalt, sondern fast einen Feind besitzt. Sollte Ittihad den guten Gedanken fassen, ihn um die Ecke zu bringen, ein großes diplomatisches Geräusch um seinen Leichnam würde nicht entstehen. In kleinmütigen Stunden denkt er an die Heimreise. Er verliert nur seine Zeit. Die dritte Augustwoche ist schon angebrochen. Unbeschreibliche Hitze brütet über dem Bosporus.
Was will ich hier ausrichten, fragt er sich. Und dann vergleicht er seine Situation mit der eines ungeübten Einbrechers, der eine siebenfach versperrte Eisentür ohne Dietrich und Nachschlüssel nur mit der nackten Hand, dafür aber unter den Augen der Polizei aufzusprengen sucht. Dies aber ist klar. In die siebenfach versperrte Eisentür, die ins Innere führt, muss eine Bresche gelegt werden, sofern auch nur eine Spur wirklicher Hilfe möglich sein soll. All jene Gelder, die auf offiziellen Wegen ins Innere fließen, zerstäuben und bringen diese wirkliche Hilfe nicht.
Johannes Lepsius wagt es, Monsignore Sawen, den armenischen Patriarchen, zu besuchen. Seit dem Tag, da er ihn zum letzten Mal sah, scheint der letzte Rest von Leben aus der erloschenen Gestalt des Erzpriesters gewichen zu sein. Geistesabwesend starrt der fromme Mann seinen Besuch an. Als er ihn erkennt, kann er die Tränen nicht zurückhalten.
»Sie werden sich schaden, mein Sohn«, flüstert er, »wenn man Sie bei mir weiß.«
Der Pastor bekommt nun die Wahrheit in ihrem ganzen Grauen zu hören, so wie sie sich in den Wochen seiner Abwesenheit entwickelt hat. Der Patriarch berichtet ihm kurz und trocken, wie ohne Sprache gleichsam. Jeder Rettungsversuch ist nicht nur aussichtslos, sondern auch überflüssig, da die Aussiedlung nun völlig durchgeführt ist. Die Priesterschaft sei zum größten Teil, die politische Führerschaft zur Gänze ermordet. Das Volk bestehe nur mehr aus verhungernden Weibern und Kindern. Jede Unterstützung, die man von deutscher oder neutraler Seite diesen Armeniern zuwende, reize die Wut Envers und Talaats zu neuen Schreckenstaten auf:
»Am besten, man unternimmt gar nichts, man bleibt still, man stirbt.«
Ob Lepsius nicht bemerkt habe, dass dieses Haus, das Patriarchat, von Spitzeln und Konfidenten umlagert sei. Jedes Wort, das in diesem Zimmer falle, gelange morgen unausweichlich zur Kenntnis Talaat Beys. Mit entsetztem Augenzwinkern bittet Monsignore Sawen den Gast, das Ohr an seinen Mund zu neigen. Auf diese Weise erfährt Lepsius von der Armeniererhebung auf dem Musa Dagh, von den Niederlagen des türkischen Militärs und von der bisherigen Uneinnehmbarkeit des Berges. Die Flüsterstimme des Patriarchen zittert: »Ist es nicht schrecklich? Das Militär soll mehrere hundert Tote haben.«
Johannes Lepsius findet das gar nicht schrecklich. Seine blauen Augen leuchten knabenhaft hinter seinem scharfen Zwicker:
»Schrecklich? Nein, herrlich! Gäbe es noch drei solche Musa Dagh, die Sache würde anders aussehen. Ach, Monsignore, am liebsten wäre ich auf diesem Musa Dagh!«
Der Pastor hat unachtsam laut gesprochen. Der Patriarch hält ihm mit angsterstarrter Gebärde den Mund zu. Beim Abschied übergibt ihm Lepsius einen Teil der Sammelgelder des deutschen Hilfswerkes. Sawen sperrt die Banknoten hastig in die Wertheimkasse seiner Kanzlei, als seien sie Feuer. Die Hoffnung ist nicht sehr groß, dass ihr Segen den Bestimmungsort Deïr es Zor erreicht. Der Monsignore flüstert dem Deutschen wieder etwas scharf ins Ohr, das dieser zuerst gar nicht begreift:
»Nicht wir vom Patriarchat und nicht Sie und nicht andre Deutsche und keine Neutralen, man müsste Türken als Mittler und Helfer finden, verstehen Sie, Türken!«
»Wieso denn Türken«, murmelt Lepsius leise und sieht Enver Paschas Gesicht vor sich. Die Idee ist verrückt.
Die Idee ist verrückt. Und doch befindet sie sich schon über den Kopf von Lepsius hinweg auf dem Weg der Verwirklichung. Im Speisesaal seines Hotels hat der Pastor einen türkischen Arzt von ungefähr vierzig Jahren kennengelernt. Professor Nezimi Bey ist eine sehr elegante westliche Erscheinung. Er wohnt im Tokatlyan, hat aber seine Ordination in einer vornehmen Straße von Pera. Lepsius hält den Professor anfangs für eine der sympathischsten Verkörperungen der jungtürkischen Welt. Trotz der europäischen Wissenschaft und eines fabelhaft geschnittenen Gehrocks trügt jedoch dieser Schein. Die beiden Herren geraten öfters ins Gespräch. Drei- oder viermal nehmen sie die Mahlzeit an demselben Tisch ein. Lepsius ist äußerst vorsichtig und zurückhaltend; muss es sein. Der andre aber ist durchaus nicht vorsichtig und zurückhaltend. Als er seinen Hass gegen die herrschende politische Richtung, gegen die Diktatoren Enver und Talaat unverhohlen zu erkennen gibt, erschrickt der Deutsche und verstummt. Sollte man ihm einen Lockspitzel beigesellt haben? Wenn er aber die vornehme Gestalt des kultivierten Nezimi ansieht, wenn er seine Stellung, seine Ausdrucksweise, seine überraschende Sprachenkenntnis bedenkt, so erscheint der Argwohn lächerlich. Über Agents provocateur von solchem Rang kann Enver unmöglich gebieten. Dennoch ist Lepsius weise genug, sich nicht hervorlocken zu lassen. Er leugnet nicht, dass er als christlicher Geistlicher das Los seiner armenischen Glaubensgenossen zu mildern suche, übt aber keine Kritik und beschränkt sich im Übrigen auf abwartendes Zuhören. Obgleich Nezimi kein ausgesprochener Freund der Armenier zu sein scheint, tobt er doch gegen die Verschickungspolitik des Komitees:
»An den armenischen Leichenfeldern wird die Türkei zugrunde gehen.«
Lepsius zuckt bei seinen Worten mit keiner Miene:
»Hinter Enver und Talaat steht doch die große Mehrheit der Nation.«
»Wie? Die große Mehrheit der Nation?«, fährt Nezimi auf. »Ihr Ausländer wisst ja gar nicht, wie klein diese Partei in Wirklichkeit ist, wie moralisch klein vor allem. Sie besteht aus dem schäbigsten Parvenugesindel. Wenn sich diese Leute etwas auf ihre osmanische Rasse einbilden, so ist das die größte Unverschämtheit, die es gibt. Diese Reinblütigen kommen zumeist aus dem mazedonischen Mischtopf, in dem das Rassenragout des ganzen Balkans schwimmt.«
»Das ist eine alte Sache, Professor. Auf Rasse berufen sich meist nur diejenigen, die etwas Ähnliches nötig hätten.«
Nezimi sieht Lepsius mit traurigen Augen an:
»Es ist ein Unglück, dass ein Mann wie Sie, der unsere Verhältnisse so genau studiert hat, doch keine Ahnung vom wahren türkischen Wesen besitzt. Wissen Sie, dass die wahren Türken die armenischen Verschickungen noch heftiger verwerfen als Sie?«
Johannes Lepsius horcht gespannt auf:
»Und wer sind diese wahren Türken, wenn ich fragen darf, Professor?«
»Alle, die ihre Religion noch nicht verloren haben«, sagt Nezimi, lässt sich aber auf eine nähere Erklärung nicht ein. Am Abend desselben Tages klopft er an die Tür des Pastors. Er macht einen sonderbar erregten Eindruck:
»Ich werde Sie, wenn Sie einverstanden sind, morgen in das Tekkeh des Scheichs Achmed einführen. Es ist ein großes Geschenk, das Sie damit bekommen. Und dann. Sie werden wegen der Armenier offen reden können und vielleicht auch etwas ausrichten.« Und er wiederholt noch einmal: »Es ist ein Geschenk für Sie.«
Gleich nach Tisch holt Nezimi den Pastor ab, wie sie es vereinbart haben. Der weite Weg wird größtenteils zu Fuß zurückgelegt. Heute ist die Sommerhitze durch eine kühle Brise vom Marmarameer gemildert. Über den lebendigen Nachmittagshimmel Stambuls ziehen Scharen von Störchen und Fischreihern, die drüben auf der asiatischen Seite nisten. Der Professor führt den Pastor am Seraskeriat Enver Paschas und an der Sultan-Bajazid-Moschee vorbei in die langen Straßenzüge von Ak Serai. Endlos zieht sich der Weg westwärts. Schon geraten sie in das ruinenhafte Gewirr der innersten Stadt. Die Pflasterung der Gassen verschwindet. Schaf- und Ziegenherden begegnen ihnen. Aus dem schwärzlichen Durcheinander zahlloser Holzhäuser ragt die uralte byzantinische Stadtmauer mit ihren Zinnen, Türmen und Vesten drohend empor. Johannes Lepsius ist durchaus nicht in der Stimmung, sich mit seinem künstlerischen Auge dieser romantischen, wenn auch missduftenden Stadtschaft zu erfreuen. Auch jener Mittelpunkt der islamischen Frömmigkeit, den er heute kennenlernen soll, interessiert ihn nicht um neuer Erfahrungen willen. Wie jeder Geist, der von einem übermächtig quälenden Streben ausgefüllt ist, setzt er alles einzig und allein in Beziehung zu dem armenischen Unglück. Er ist also keineswegs empfänglich für neues Erleben, sondern wälzt bereits Pläne und Entwürfe. Diese Entwürfe und nicht etwa Neugier sind der Grund für die Fragen, die er seinem Begleiter stellt:
»Wir gehen wohl zu den Mewlewi-Derwischen?«
Lepsius weiß trotz seiner langen Aufenthalte in Palästina und Kleinasien so gut wie gar nichts vom Islam. Er sieht in ihm nur den fanatischen Feind des Christentums. Da es aber eine der trübsten menschlichen Schwächen ist, denjenigen, welchen man aus seinem innersten Inneren heraus verstehen müsste, den Feind, am allerwenigsten zu kennen, so hat auch der Pastor kaum eine blasse Vorstellung von der moslemischen Glaubenswelt. Er nennt die Mewlewi-Derwische nur, weil dieser sehr bekannte Name ihm geläufig ist. Doktor Nezimi macht eine fast wegwerfende Geste:
»Nein, nein! Scheich Achmed, unser Meister, ist das Haupt eines Ordens, den das Volk ›Die Herzensdiebe‹ nennt.«
»Ein komischer Ordenstitel. Warum die ›Herzensdiebe‹?«
»Das werden Sie später selbst sehen ...«
Während des Ganges lässt sich aber der Führer doch noch zu einigen Erklärungen herbei. Er unterrichtet den Deutschen darüber, dass der Strom der Mohammed-Religion sich in zwei gewaltige Arme geteilt habe, in das Schaariat und das Tarikaat. Entspreche das Schaariat ziemlich genau dem Begriff der katholischen Weltpriesterschaft, so werde das Tarikaat durch den Vergleich mit dem Mönchstum verfälscht. Derwisch sein heiße nicht der Welt entsagen und sich fürs ganze Leben in ein Tekkeh zurückzuziehen. Derwisch könne jeder werden und sein, der gewisse Bedingungen erfülle, er brauche sein Berufs- und Familienleben darum nicht aufzugeben: der Großwesir ebenso wie der Schneider, Kupferschmied, Bankbeamte oder Offizier. So seien denn auch die verschiedensten Bruderschaften über das ganze Land verbreitet, und die Brüder erkennen einander überall »aus dem Gefühl«, ohne einander zu kennen. Johannes Lepsius fragt mit zweckhafter Nachdenklichkeit:
»Demnach müssen diese Derwisch-Orden zahlenmäßig eine große Macht vorstellen.«
»Nicht nur zahlenmäßig, mein Herr Doktor, das können Sie mir glauben.«
»Und woraus besteht das Gottesleben dieser Leute?«
»Bei euch nennt man das, wie man mir gesagt hat, Exerzitien. Aber wahrscheinlich ist auch dieser Ausdruck falsch. Wir versammeln uns von Zeit zu Zeit. Es werden Übungen abgehalten. Gebetsübungen! ›Zikr‹ nennt man das. Jeder muss auch einmal oder mehrere Male im Leben Dienst in dem Tekkeh tun und dort längere Zeit leben. Die Hauptsache aber ist, dass wir unserem Lehrer und Meister aus der Fülle des Herzens heraus