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Die um Bismarck
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eBook365 Seiten4 Stunden

Die um Bismarck

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Über dieses E-Book

Spannungsgeladener Krimi um politische Intrigen im Berlin Anfang des 20. JahrhundertsGerade in Berlin angekommen trifft der junge Lutz Oberkampf einen ehemaligen Schulkameraden, der ihn bittet, eine Mappe mit absolut vertraulichem Inhalt bei sich aufzubewahren. Lutz gibt sein Ehrenwort und wird so, ohne es zu ahnen, Teil einer politischen Intrige gegen Reichskanzler Bismarck. Als Lutz' energische, junge Tante Ella entdeckt, dass ihr Neffe in die Hände der Bismarckgegner um Graf Laßbach geraten ist, steht fest: Lutz muss die Mappe mit den politisch brisanten Dokumenten so schnell wie möglich wieder loswerden! Aber wie, wo Lutz doch an sein Ehrenwort gebunden ist? Gemeinsam schmieden Ella und Lutz einen riskanten Plan...-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum14. Okt. 2019
ISBN9788711507346
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    Buchvorschau

    Die um Bismarck - Rudolf Stratz

    www.egmont.com

    1

    Seine Durchlaucht lassen Herrn Geheimrat sofort zu sich bitten!"

    Der Geheime Legationsrat von Möllinghoff verliess, auf den Ruf Bismarcks hin, hastig an diesem milden Märztag der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts seine Aktenhöhle in der Wilhelmstrasse 76 zu Berlin. Er lief, ein rüstiger Fünfziger, beleibt, etwas kurzatmig, durch den langen Flur an den Türen der Direktoren, Dirigenten und Näte vorbei. Durch die Fenster zur Rechten beschien aus dem noch kahlen Park des Auswärtigen Amts die Frühlingssonne seine glattrasierten, feierlich erregten Züge. Auf ihnen lebte jetzt nichts von Laune, List, Ironie, Nervosität des vielgewandten, vielbeweglichen Kenners der Berliner Menschen und Dinge. Sie hiessen, auf dem Weg zum Kanzler: Klemens von Möllinghoff — der Unermüdliche — der Aktenriese — der Nachtarbeiter — Klemens von Möllinghoff — ein bescheidener Mitarbeiter, ein getreuer Diener des Fürsten Bismarck.

    Eine dienstliche Pforte tat sich auf. Der Geheimrat betrat den an das Amt anstossenden Flügel des Reichskanzlerpalais und eilte mit der Sicherheit des hier Vertrauten weiter. Am Eingang zu den Gemächern des Fürsten winkte ihm eine mächtige bräunliche, dunkelbehaarte Hand Halt. Zwei hellbraune Augen blitzten durchdringend, fast dämonisch unter dichtem, pechschwarzem Haar. Aus dem rabenschwarzen Bart klang es gemütlich Bayrisch:

    „Ob’s ihr mir meinen Fürsten in Ruh lasst, ihr Viechskerle! Eben ist er erst aufgestanden!"

    „S. D. hat mich befohlen!" Herr von Möllinghoff drückte ausser Atem Schweninger die Hand. Der Leibarzt Bismarcks lachte — dies Lachen unerschütterlicher, selbstvertrauender Urkraft, aus dem ein unbändiger Wille zum Leben auf jeden andern übersprang.

    „Der Fürst hat, weil ich nicht da war, zum ersten Frühstück zwei Hummern und einen Spickaal und zwei Flaschen Bordeaux vertilgt! sagte er. „Und jetzt kommt erst der Rottenburg herüber und dann Sie — und machen ihm aus dem Masttag ’nen Lasttag und morgen ’nen Fasttag! Hätt’ der Fürst nur einmal ’nen Rasttag! Sie sind so aufgeregt! Gibt’s Krieg zwischen den Engländern und den Russen?

    „Der Krieg zwischen den beiden Weltmächten wegen Afghanistan liegt in der Luft! Ich muss dringend zu S. D.! Auf Wiedersehn, lieber Professor!"

    Der Geheimrat durchmass, an dem öffnenden Diener vorbei, den kleinen Eingangssaal und stand allein in dem grossen Salon. Er kannte genau die rotseidenen Möbel, den runden, mit Zeitungen bedeckten Tisch vor dem Kanapee, den historischen Lehnstuhl, das Lenbachsche Bismarckbild, die goldgerahmten Landschaften an den Wänden. Und trotzdem fühlte Möllinghoff, der Getreue, immer wieder dieses Herzklopfen, dieses Wehen der Weltgeschichte, beim Warten auf den Eisernen Kanzler.

    In der offenen Tür gegenüber erschien eine riesenhafte schwarze Dogge. Sie spitzte die kurzgeschnittenen Ohren und knurrte leise den Besucher an. Der kannte das. Er rührte sich nicht, um den Reichshund nicht zu reizen. Gleich darauf verdunkelte ein ungeheurer Schatten die Schwelle.

    Bismarck stand vor seinem Geheimrat. In bis zum Hals zugeknöpftem schwarzem Tuchrock, darunter die langen dunklen Hosen seiner Halberstädter Panzerreiter, so dass er in einer Minute in den blauen, langen Kürassier-Interimsrock fahren und zum Empfang von Fürsten oder Botschaftern bereit sein konnte. Aus dem zweimal um den kragenlosen Hals geknoteten weissen Leinentuch wuchs glatt wie eine Elfenbeinkugel der für die Reckengestalt fast zu kleine, rosig-feine Rundkopf. Der Wille selbst die kurze, gerade Nase. Unter Augenbrauen, dick, grau und grimmig wie Gewittergewölk, zwei mächtige, feucht, fast feierlich schimmernde Augen.

    Die Rechte des Kanzlers, die er, dem Rat reichte, war nicht kleiner als die seines Arztes Schweninger draussen, aber diplomatisch weicher ihr Druck. Seltsam leicht, parkettgewandt, die Bewegungen des gewaltigen, durch Schweninger seit Jahresfrist verjüngten Körpers. Herr von Möllinghoff verbeugte sich ehrerbietig. Er ging sofort mitten in die Sache.

    „Seit heute früh sind wir durch Stieber über die neueste Intrige gegen Euer Durchlaucht im Bilde! Es handelt sich um frech gefälschte geheime Instruktionen des Auswärtigen Amts zugunsten Englands in der afghanischen Krise an unsere Missionen in halb Europa — Instruktionen, deren Entwürfe — angeblich in meiner Handschrift — angeblich mit eigenen Randbemerkungen Eurer Durchlaucht — durch einen Vertrauensbruch oder eine Saumseligkeit dem berüchtigten Skandalblatt ,Die Grosse Trommel‘ auf den Schreibtisch geflogen sein sollen. Wer unseren Dienstbetrieb kennt — jeder Hofrat, jeder Chiffreur, jeder Kanzleirat weiss, dass ein solches Vorkommnis absolut ausgeschlossen ist!. Die von selbst in das Schloss fallende Kassette, die Euer Durchlaucht tagsüber als Papierkorb dient, wird jeden Abend im Büro des Herrn von Rottenburg von dem diensttuenden Sekretär entleert und der ganze Inhalt an Brouillons und sonstigen Papierschnitzeln in Gegenwart der Geheimpolizei verbrannt. Wir haben es mit einem ruchlosen Falsifikat zu tun, dazu bestimmt, den Frieden Europas und Asiens zu erschüttern!"

    Die Aufregung verschlug dem Geheimrat fast den Atem. Er fuhr fort:

    „Hinter diesem Versuch, den Zaren, dessen Besuch wir in der nächsten Zeit hier erhoffen, und die russische Gesellschaft gegen Euer Durchlaucht aufzuputschen und unsere traditionelle Freundschaft mit Petersburg zu stören, stecket, wie Stieber zuverlässig festgestellt hat, die bekannte Fronde aus der Vossstrasse! Wahrscheinlich glaubt Graf Lassbach selber an die Echtheit des Dokuments! Aber angesichts der Gefahr eines europäischen Krieges ist nach meinem gehorsamsten Ermessen die sofortige Haussuchung bei ihm, eine Beschlagnahme der im Druck befindlichen ,Grossen Trommel‘ und die Verhaftung ihres Herausgebers geboten — ehe diese Stinkbombe — zudem noch morgen, am zweiundzwanzigsten März, am Geburtstag unseres Allerhöchsten alten Herrn — in den Spalten der ,Grossen Trommel‘ platzt!"

    Der Geheimrat von Möllinghoff schwieg erregt und erwartungsvoll. Er hörte drüben ein dumpfes Räuspern. Dann, unter dem eisgrauen kurzen Schnurrbart die wunderlich helle, stockende Stimme.

    „Ich bin jeden Augenblick, wenn Seine Majestät es wünscht, bereit, mich unter die Kanonen von Friedrichsruh zurückzuziehen. Aber me faire renverser durch Tonio Lassbach — das geht gegen den guten Geschmack!"

    Ein Neigen des graubuschigen, grossäugigen Hauptes drüben. Es hiess: Tun Sie, was Sie für recht befinden! Greifen Sie schonungslos in das Wespennest! Herr von Möllinghoff verstand. Er zog sich mit einer tiefen Verneigung, das Antlitz gegen den Kanzler, nach dem Ausgang zurück.

    2

    In dem Arbeitszimmer drüben in der Wilhelmstrasse, das der Geheimrat wieder betrat, standen zwischen den Akten auf dem Schreibtisch zwei eingerahmte grosse Photographien. Rechts das grimme Haupt des Eisernen Kanzlers, links die schmalwangigen, hübschen Züge einer jungen Frau. Sie trug, nach der Mode der achtziger Jahre, das Haar aus der glatten Stirn nach hinten hochgekämmt, Sprechend, intelligent die Augen. Liebenswürdig lächelnd, die Dame von Welt, der Mund.

    Der Geheimrat von Möllinghoff stärkte sich durch einen Blick stiller Liebe auf seine Frau für die neue Arbeit. Er Klingelte dem Diener. Er sass eine Minute und gähnte — ein müder Mann. Dann hob er, beim Eintritt eines jungen Husarenoffiziers, rasch den diplomatisch glattrasierten, klug beweglichen Graukopf.

    „Sie sind aus einer kleinen Provinzgarnison zur Dienstleistung beim Auswärtigen Amt kommandiert, mein lieber Baron!" sagte er in einer Pause des Diktierens eines Geheimerlasses zu dem angehenden Attaché. „Sie ahnen, bei Ihrer Jugend, nicht, wieviel Feinde S. D. hat und wo überall!. Statt dass wir täglich Gott auf den Knien danken, dass wir ihn haben! Noch haben! Wer weiss, wie lange noch!

    Ohne Feinde", fuhr er fort, „würde S. D. etwas fehlen! Das liegt in seiner Natur! Aber die Feinde im eigenen Lager arbeiten am Verschleiss seiner Nerven! Die Leute, denen er zu gross geworden ist! Diese Leute fragen sich: ,Ein Landjunker wie wir und jetzt Fürst? Ein Einjähriger bei den Gardejägern und jetzt General der Kavallerie? Ein Potsdamer Referendar a. D. und jetzt Kanzler des Deutschen Reichs?‘ Das sticht manchem ehemaligen Standesgenossen in die Nase!

    Sehen Sie, mein Lieber: — Ich orientiere Sie pflichtgemäss für Ihre künftige und, so Gott will, erspriessliche diplomatische Berliner Tätigkeit! — solch einer, einer der Gefährlichsten unter den nach ihrer Meinung zu Unrecht Zurückgesetzten, ist Graf Anton Lassbach! Nicht dumm — wahrhaftig nicht — sehr tätig, sehr nervös, sehr kultiviert, sehr reich — grosse Güter — dabei zeitlebens — er ist doch nun schon an die Fünfzig — zusammengesetzt aus Eitelkeit und Ehrgeiz! Das macht diesen grossen Herrn gegen seine Umgebung blind. Er ahnt gar nicht, wer alles hinter ihm steht und ihn nach vorn in die Drecklinie schiebt!

    Er hat eine Ölze zur Frau — aus ehemaligem hannoverschem Hofadel! Na also! Seine Schwiegermutter — sie lebt noch als Witwe drüben in der Nähe von London — ist eine vornehme Engländerin — aus derselben Nation wie die Frau Kronprinzessin — unsere künftige kaiserliche Landesmutter. Na bitte! Er selber, Tonio Lassbach, steckt fortwährend in England! Es weht englische Luft aus seinem Haus in der Vossstrasse — da gleich um die Ecke! Na danke . . . . Nun sind Sie im Bilde! Bringen Sie mir so schnell wie möglich die Reinschrift!"

    Der Geheimrat sass allein. Der Sarkasmus war verflogen. Er gähnte — ein abgehetzter Mann. Er hatte heute nacht wieder bis vier Uhr gearbeitet und war doch kaum mit den Aufträgen des Kanzlers fertig geworden. Er schloss ermüdet die Augen. Rückte behutsam die Photographie seiner Frau auf dem Tisch mehr ins Licht und blies mit seinen dünnen, nach Bedarf launig-leutseligen und dienstlich-strenggepressten Lippen ein Stäubchen von dem Rahmen und wandte ungeduldig den Kopf nach der Tür, an der es leise klopfte.

    „Na endlich! Fertig für die Unterschrift, Baron? Nee — ist er ja gar nicht . . . . ."

    Er zwinkerte. Dann erhob er langsam die breitschulterige Gestalt vom Stuhl.

    „Nanu — Etta — du?"

    Das Bild seiner Frau war aus dem Rahmen getreten und stand da lebensgross und lachend in der Tür, frisch, windgerötet die schmalen Wangen, halb offen der Kluge Mund, lebhaft, unter dem schiefen, preussisch schwarzweiss mit Straussenfedern ausgeputzten Tellerhut die braunen, leicht ins Grünliche spielenden Augen.

    Noch schlanker ihre mittelgrosse Gestalt durch die enge, mit weissen Spitzen besetzte Taille und den knapp um die Hüften schliessenden, mit dem Saum den Boden streifenden dunklen Tuchrock, nach der Mode gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Der elastisch wiegende Schritt einer Frau von noch nicht Dreissig, wie sie eifrig auf ihren Mann zuging. Sie hob dabei beschwörend in der elegant behandschuhten Rechten eine Depesche.

    „Du — Klemens — ich muss dich stören!"

    „Sogar sehr!"

    „Eben ist das Telegramm gekommen. Aus Buggenhagen. Es betrifft den Taugenichts, deinen Neffen. Ich hab’s aufgemacht! Da!"

    Herr von Möllinghoff setzte bedächtig seinen Zwicker auf und las.

    „Mein Sohn Lutz heute früh nach Berlin ausgekniffen, um nicht mehr hier bei mir weiter Landwirt spielen zu müssen! Jetzt im Zug unterwegs. Erwartet ihn Bahnhof und schickt ihn postwendend zurück. Gruss. Dein Schwager Oberkamp."

    „So Streiche hat der Bengel immer gemacht!" Der Geheimrat liess missbilligend das Blatt sinken. „So vor zehn Jahren — da war er etwa vierzehn — zigeunert er doch eines schönen Tages aus Mecklenburg zu Fuss nach Hamburg hinüber und als Schiffsjunge auf ’ner Brigg nach Westindien. Alle Konsulate hatten dort zu tun, bis wir ihn nach einem halben Jahr glücklich wieder heim hatten. Dann später, am Tage, nachdem er sein Jahr bei den. Dragonern abgedient hat, fordert er seinen Rittmeister, über den er sich geärgert hatte, und knallt ihm ins Bein!

    Statt dass der dumme Junge froh ist, eines der schönsten Rittergüter von Mecklenburg zu erben, der Geheimrat zerpflückte zornig das Telegramm über dem Papierkorb. „Viertausend Morgen muss man zum Donnerwetter doch auch bewirtschaften lernen . . .

    „Aber er hat doch einmal studieren dürfen . .?"

    „Ja — was der gute Lutz studieren nannte! Ich glaube, es waren sieben Säbelduelle, wegen denen sie ihn nach ein paar Semestern relegiert haben! Na jedenfalls . . . Der Geheimrat von Möllinghoff warf einen nervösen Blick auf den Schreibtisch. „Jetzt blüht er uns also hier, und ich habe wirklich mehr im Kopf! Ich muss dir nachher erzählen, Etta: Es ist eine tolle Schweinerei im Gange . .

    „Hast du die Havas-Depesche schon gelesen? unterbrach die junge Frau ungestüm. „Also Gladstone wackelt!

    „Diese Drahtmeldung geht allerdings via Russland, aber . . ."

    „. . . und Salisbury sein Nachfolger . . ."

    „. . . und der Krieg zwischen England und Russland immer näher . . ."

    „. . . also Bleichröder — das hörte ich eben unterwegs — glaubt nicht an einen europäischen Krieg! ,Behaltet eure Aktien‘ — sagt er den Leuten, denen er wohlwill!"

    „Deswegen müssen wir doch den Herrschaften hier die brennende Pfeife wegnehmen, mit der sie auf der offenen Pulvertonne sitzen! Wer, Kind? Na natürlich wieder mal die Vossstrasse! Tonio Lassbach!"

    „Ach — ich wollte, ich könnte die ganze Bande hängen, die gegen Bismarck ist!" Die junge Frau ballte leidenschaftlich die Hände.

    „Also jedenfalls gibt es heute einen kritischen Tag erster Ordnung, Etta! Ich sehe keine Möglichkeit, mich jetzt mit ungeratenen Neffen zu befassen!"

    „Aber in einer halben Stunde kommt das Unglücksgeschöpf an! Ich hab’ im Fahrplan nachgesehen!"

    „Fang’ du ihn am Bahnhof ab, Etta!"

    „Ich kenn’ deinen Neffen Lutz ja gar nicht! Wir sind ja in den vier Jahren unserer Ehe noch nie draussen in Buggenhagen gewesen. Du kommst ja von deinen Akten nicht fort! Wie soll ich da diesen Jüngling . . . ."

    „Herrgott — du hast doch oft genug seine Photographie gesehen! Wenn du auf dem Lehrter Bahnhof einen Menschen siehst — einen Kopf länger als gewöhnliche Sterbliche — einen flachsblonden Schlaks mit strahlenden blauen Augen und seelenvergnügtem Lächeln . . . . Der Lutz ist nie sonniger, als wenn er eine rechte Dummheit macht . . . Er wird schon gleich zutraulich auf dich lossteuern!"

    „Und dem Ungetüm soll ich vor aller Welt die Leviten lesen? . . . Klemens . . . der Naturbursche lacht mich ja nur aus . . ."

    „Packe ihn nur in eine Droschke und fahre ihn zu uns! Da werde ich dem teuren Neffen schon beim Essen den Kopf zurechtsetzen, und mit dem Abendzug dampft er wieder heim zu seinen Kartoffeln! Aber jetzt habe ich keine Minute Zeit . . ."

    „Ja — ich muss mich auch eilen, dass ich noch rechtzeitig auf den Bahnhof komme! Ich bin so wahnsinnig gespannt, was du mir von Tonio Lassbachs Einmischung in die afghanische Frage erzählen wirst! Adieu, Dicker!"

    3

    Die Geheimrätin von Möllinghoff trat über die paar steilen Steinstufen der unscheinbaren Pforte des ebenso unscheinbaren, langen, niederen Auswärtigen Amts auf den Bürgersteig und winkte einem leer vorbeitrabenden „Schwarzlackierten" — einer Droschke erster Klasse, auf dem Bock der Kutscher mit schwarzem, hohem Hut.

    Ein schlanker, aufrechter Schattenriss, sass sie in dem offenen kleinen Einspänner und blinzelte zufrieden mit dem hübschen, ruhigen Antlitz unter Schleier und Spitzenschirm in die Märzsonne. An ihr vorbei glitten die altvertrauten Bilder Berlins. Die Zopfpaläste der Wilhelmstrasse aus der Zeit des Soldatenkönigs. Die Aktenmappen der wenigen Menschen in der feierlichen Leere des Wetterwinkels Europas. Die wichtigen, wissenden Gesichter unter würdevollen Zylindern: Wir sind Preussen. Wir sind das Reich. Das Kaiserreich der achtziger Jahre.

    Harter Hufschlag auf dem Pflaster. Ein schwarzbärtiger Mann auf knochigem Braunen in scharfem Trab — mitten in Berlin! Bedeutsam blickte Etta Möllinghoff dem Depeschenreiter Bismarcks nach. Die Weltgeschichte in seiner umgehängten Ledertasche . . . . Afghanistan . . . England . . . Russland — Tonio Lassbach — Was ist vor Bismarcks Augen gross — was klein?

    An der Ecke der Linden, vor dem grauen, alten Hotel Windsor, ein paar verwitterte uckermärkische Granden. Am Palais Redern gegenüber eine Hofequipage, breit die silbernen Adlertreffen am Hut des Kutfchers.

    Bunte Uniformen aller Regimenter Unter den Linden. Lieutenants auf dem Weg zum roten Ziegelbau der Kriegsakademie drüben. Unauffällig dunkle Londoner Herrenmode des Zivils, nach Vorschrift des schon mählich alternden Prinzen von Wales. Die Damen in engen, langen, staubfegenden Röcken und in Schärpen um die dünn geschnittenen Taillen. Bei vielen hinten, am südlichen Teil des Rückens, die unwahrscheinliche Wölbung des Cul de Paris. Die elegante Etta von Möllinghoff schaute frostig über diese stoffverhüllten, rücklings befestigten Drahtgestelle nach Pariser Mode hinweg. In der guten Berliner Gesellschaft war diese Vorspiegelung falscher Tatsachen, die Tournüre, als unanständig verpönt.

    Hinter den Fensterscheiben des Feudalklubs am Pariser Platz die strengen Profile zeitunglesender alter Exzellenzen. Vor dem blauen Himmel das Viergespann der Viktoria auf dem Brandenburger Tor, durch das vor anderthalb Jahrzehnten die drei Gewaltigen — Bismarck, Moltke, Noon — vor ihrem alten Kaiser und Herrn den Siegeseinzug in Berlin eröffnet hatten. Etta sann nach: Damals war ich noch klein. Erst dreizehn . . .

    Auf dem weiten Königsplatz das Gewimmel der Arbeiter beim Ausschachten des Bodens für den neuen Reichstag. Vieleckig, unregelmässig drüben das Hirn des Heeres — das gelbe Generalstabsgebäude. Die Alsenbrücke. Überall das Heer. Überall das Reich.

    Der Lehrter Bahnhof! . . . Eben noch zurecht! Von fern rollte schon der Zug heran. Auf seinen Trittbrettern balancierten aussen die Kondukteure von Kupee zu Kupee, rissen während der Fahrt die Türen auf und sammelten aus dem Innern vor der Ankunft die Billette.

    Etta Möllinghoff hob sich auf die Fussspitzen und spähte in das Gewimmel von Menschen, Fresskörben, Reiseplaids aus den haltenden Wagen. Richtig: da stürmte es schon heran, sechs Fuss lang, flachsblond, mit Siebenmeilenstiefeln, als ob es draussen in Berlin brennte, hastete achtlos an Etta vorbei dem Ausgang zu, ein Kofferchen in der Hand, sonnenverbrannt, einen Inspektorfilz schief auf dem Schopf, Kleider vom Schneider im Ackerstädtchen, Dorfstiefel wie für die Ewigkeit. Mit dem einen streifte er in seiner Eile Ettas schwarzlackierten Stöckelschuh. Die leichte, schwippe Verbeugung eines jungen Mannes von guter Kinderstube: „Oh — Pardon!" Er wollte weiter. Die junge Geheimrätin trat ihm in den Weg.

    „Herr Oberkamp?"

    „Ja. Der Recke vom Lande blieb betroffen stehen. „Wat’s denn los, gnädige Frau?

    „Ich bin hier auf Grund einer Depesche aus Buggenhagen!"

    Etta Möllinghoff hatte ihr Gesicht in sehr ernste Linien gelegt. Ihre Stimme klang streng. Der junge Mann ihr gegenüber zeigte herzlich lachend die weissen Zähne unter dem blonden Schnurrbart.

    „Nett, dass ich hier gleich begrüsst werde! sagte er sonnig und schaute Etta neugierig in das kluge, gemessene Antlitz. „Herrgott — wir haben uns doch schon mal gesehen?

    „Nur auf der Photographie! Ich bin deine Tante Etta!"

    Der blonde, junge Hüne vor ihr riss die feurigen blauen Augen auf.

    „Du bist Onkel Klemens seine . . . ."

    „. . . seine zweite Frau! . . . Erkennst du mich denn nicht?"

    „Dich hab’ ich mir ganz anders vorgestellt! Der Neffe legte ihr vertraulich die mächtigen Hände auf die schmalen Schultern und musterte sie. „Aus der Photographie hat man ja keine Ahnung, wie hübsch du bist!

    „Onkel Klemens ist empört über deine Flucht, lässt er dir sagen!"

    „Der Hut steht dir auch famos!"

    „. . . wo dein Vater im Reichstag sitzt und wirklich mehr Sorgen hat als dich . . ."

    „Viel älter hab’ ich mir dich gedacht — nach der Photographie! Tante — wie alt bist du denn?"

    „Da ich als geborene Schardt zum Uradel im Gotha gehöre, kann ich mein Alter nicht ableugnen! Aber was dich das interessiert, dass ich achtundzwanzig bin . . ."

    „Also du siehst viel jünger aus! Jünger als ich! Und ich bin doch erst fünfundzwanzig! Der Vetter vom Lande schüttelte erheitert den blonden Schopf. „Nein — Tante — dir glaubt kein Mensch die Geheimrätin!

    „Mein lieber Ludwig . . ."

    „Lutz! Lutz! Lutz!"

    „Meinetwegen mein lieber Lutz: Ich bin — merke dir das gefälligst von vornherein — als Tante und verheiratete Frau für dich eine Respektsperson . . ."

    „Ach wo!" sagte der junge Mann froh.

    „Das bitte ich mir ein für allemal aus! Lache nicht so blödsinnig!"

    „Du musst ja selber lachen!"

    „Unsinn!"

    „Natürlich lachst du! . . . Du . . . Im Vertrauen . . ."

    „Was denn?"

    „Der Onkel kann lachen, dass er dich erwischt hat — auf seine alten Tage . . ."

    „Nimm jetzt deinen Koffer vom Boden!"

    „Du sollst ja so unheimlich gescheit sein! Ist das wahr?"

    „Marsch!"

    Lutz Oberkamp rührte sich nicht. Er schaute der jungen Geheimrätin kindlich überrascht in das unruhig belebte Gesicht.

    „Tante — du hast ja grüne Augen!"

    „Braune!"

    „Grüne!"

    „Also meinetwegen braungrüne! Lass jetzt die Dummheiten!"

    „Jetzt weiss ich erst, warum du so apart aussiehst!"

    „Komm jetzt! Wird’s?"

    „Wohin?"

    „Zu uns und abends nach Mecklenburg heim!"

    Lutz Oberkamp lächelte aus seiner blonden Höhe auf das Straussenfederhütchen unter ihm herab.

    „Berlin braucht mich, Tante!"

    „Ja. Auf dich haben wir hier gewartet!"

    „Ich schaff’s schon — wenn’s nicht Krach gibt! Wo ich hinkomm’, da ist nämlich gleich einer — der fängt mit mir Händel an! Die Frauen sind zu mir viel netter! Mit denen komm’ ich viel besser aus!"

    „Das heisst: Du brennst wahrscheinlich gleich mit deinem blonden Schopf wie eine Strohfackel!"

    Lutz Oberkamp sah die junge Frau an. Dann sagte er langsam und halb betroffen:

    „Aber ich bin ja noch gar nicht in dich verliebt, Tante!"

    „Das fehlte noch!"

    Beide wurden plötzlich still. Lutz bückte sich und machte sich an seinem Gepäck zu schaffen. Er hörte über sich Ettas herbe Stimme.

    „Komm jetzt, du dummer Junge!"

    „Ja! Er schritt neben ihr her. „Ich geb’ jetzt den Koffer zur Aufbewahrung und suche mir dann gleich in der Nähe eine Bude!

    „Ja — was soll ich denn um Gottes willen meinem Mann sagen?" Etta von Möllinghoff stand, etwas blass und strafend, vor dem Neffen.

    „. . . . ich bliebe in Berlin! Riesig nett, dass du mir gleich zu meiner Ankunft in Berlin Glück gewünscht hast! Was — meinst du — bin ich?"

    „Tumb!" sagte Etta und lachte. Lutz Oberkamp beugte seine Länge über ihre schmale Hand.

    „Heut nachmittag komm’ ich mal bei euch ’ran! Auf Wiedersehen, Tante!"

    4

    Lutz Oberkamp trat siegesbewusst aufgereckt aus dem Lehrter Bahnhof. Er schaute sich um. Hier im Bereich der grossen, freien Plätze gab es keine möblierten Zimmer. Denn man tau — mitten in dat Berlin! Er steuerte mit langen Schritten der Dorotheenstadt zu. Er stand im Gewimmel der Friedrichstrasse.

    Endlos, schnurgerade lief sie vor ihm in die Weite. In Reihen rollten auf ihr die Pferdedroschken, die zweispännigen Volksomnibusse, die Equipagen. Ein paar Chinesen gingen vor ihm, in herrlichen blauseidenen und altgoldenen Gewändern und mit langen Zöpfen. Die Menschen wimmelten um ihn herum. Er kannte keinen.

    Doch — da bleibt einer stehen und feixt ironisch über sein freches Froschgesicht mit dem Zwicker und dem kümmerlichen, schwarzen Schnurrbärtchen. Ein kleiner, säbelbeiniger Kerl . . . auch so Mitte der Zwanzig.

    „Dat entfamigte Mul soll ick doch woll kennen! sagte Lutz Oberkamp in seiner Überraschung auf platt. „Jong . . . Jong . . . für dat Gegrinse haben wir dich oft genug auf dem Gymnasium in Rostock verhauen . . .

    „Nu — das ist jetzt sieben Jahr her!" Ein mitleidig überlegenes Lächeln drüben. Eine ausgestreckte Hand. Lutz Oberkamp ergriff sie.

    „Also bist du’s wirklich, Cassube?"

    „Doktor Cassube!" Gönnerhaft der einstige Mecklenburger Schulkamerad.

    „Wie geht’s dir denn, Minsch?"

    „Mir? Ausgezeichnet! Siehst ja . . ."

    „Was machst du denn in Berlin, Cassube?"

    „Frag’ lieber, was das Städtchen ohne mich machen würde . . ."

    „Ich meine — was hast du denn hier für eine Tätigkeit?"

    „Du kommst wohl vom Mond?"

    „Nee. Aus Mecklenburg! Jetzt eben!"

    „Mond und Mecklenburg — das ist dasselbe! Sonst würdest du Unschuld vom Land wissen, welche Position ich in diesem Fischerdörfchen an der Spree einnehme! Eine mitleidige Grimasse. „Na — und was willst du hier? Verkaufste Wolle? Kaufste Guano? Haste fette Ochsen?

    „Das kommt mir alles zum Halse ’raus! Ich bin meinem Vater . . . Du weisst doch von ihm . . .?"

    „Spass! Wer soll den Buggenhagener nicht kennen! Vorige Woche hat er wieder im Reichstag für Bismarck durch dick und dünn ’ne Rede geschwungen — dem Mann des Jahrhunderts müssen die Ohren geklungen haben!"

    „. . . also ich bin meinem alten Herrn ausgekniffen! Ich mops’ mich da draussen zwischen den Tüften und Swinen zu Tod! Ich bin korterhand nach Berlin!"

    „Und was erwartest du dir von dem lütten Nest?"

    „Gott! Ich lasse die Dinge eben auf mich zukommen! Es wird sich schon was für ’n bisschen dollen Kerl wie mich finden! Ich bin zu allem bereit!" Lutz Oberkamp stand breitbeinig, feurig, verkehrsstörend auf dem Bürgersteig der Friedrichstrasse. Der salopp gekleidete, kleine Doktor äugte durch

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