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Der leere Thron
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eBook263 Seiten3 Stunden

Der leere Thron

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Über dieses E-Book

"Sie wissen, Exzellenz: Ich habe, nach dem spurlosen und geheimnisvollen Verschwinden des Prinzen Moritz vor nun gerade zehn Jahren, in jener Nacht von dem 8. auf den 9. Februar 1900, doch niemals an seinen Tod geglaubt. Ich war überzeugt, daß jene unbekannte Hand, die ihm damals auf Nimmerwiedersehen leise von innen die Tür des verschwiegenen, in einer Woche von heute ab wohl schon dem Abbruch anheimfallenden Pavilons im Schloßgarten öffnete – daß jene Hand eine Frauenhand war – wäre sonst Prinz Moritz er selbst gewesen? – Aber nicht, daß es eine Mörderhand war." Als Stadtminister Bock diesen anonymen Brief erhält, stockt ihm der Atem. In den nächsten Tagen soll Prinz Moritz feierlich und amtlich als verschollen und tot erklärt, wofür Bock selbst an leitender Position mitverantwortlich ist. Sollte das Gerücht stimmen? Der Prinz tatsächlich doch noch leben? Für den gütigen Freiherrn von Wies wäre das eine Erlösung aus all seinem Kummer. Denn sollte der Prinz für tot erklärt werden, würde die Erbfolge an das letzte noch lebende Mitglied des Hauses Büringen, die Prinzessin Wilma, übergehen ... Eine ereignisreiche Kette von Ereignissen beginnt ihren Lauf zu nehmen. Stratz' spannender Roman spielt zwischen Fastnachtssamstag und Aschermittwoch im Jahre 1910 in der fiktiven kleinen Residenzstadt Büringen.Rudolph Heinrich Stratz (1864–1936) war ein deutscher Schriftsteller, der zahlreiche Theaterstücke, Erzählungen und vor allem Duzende Romane verfasst hat. Stratz verbrachte seine Kindheit und Jugend in Heidelberg, wo er auch das Gymnasium besuchte. An den Universitäten Leipzig, Berlin, Heidelberg und Göttingen studierte er Geschichte. 1883 trat er in das Militär ein und wurde Leutnant beim Leibgarde-Regiment in Darmstadt. 1886 quittierte er den Militärdienst, um sein Studium in Heidelberg abschließen zu können. Zwischendurch unternahm er größere Reisen, z. B. 1887 nach Äquatorialafrika. Mit dem 1888 und 1889 erschienenen zweibändigen Werk "Die Revolutionen der Jahre 1848 und 1849 in Europa" versuchte der Vierundzwanzigjährige erfolglos, ohne formales Studium und mündliches Examen zu promovieren. 1890 ließ er sich in Kleinmachnow bei Berlin nieder und begann, Schauspiele, Novellen und Romane zu schreiben. Von 1891 bis 1893 war er Theaterkritiker bei der "Neuen Preußischen Zeitung". Von 1890 bis 1900 verbrachte er wieder viel Zeit im Heidelberger Raum, vor allem im heutigen Stadtteil Ziegelhausen. Ab 1904 übersiedelte er auf sein Gut Lambelhof in Bernau am Chiemsee, wo er bis zu seinem Tod lebte. 1906 heiratete er die promovierte Historikerin Annie Mittelstaedt. Während des Ersten Weltkrieges war er Mitarbeiter im Kriegspresseamt der Obersten Heeresleitung. Bereits 1891 hatte er sich mit dem Theaterstück "Der Blaue Brief" als Schriftsteller durchgesetzt. Doch vor allem mit seinen zahlreichen Romanen und Novellen hatte Stratz großen Erfolg: Die Auflagenzahl von "Friede auf Erden" lag 1921 bei 230 000, die von "Lieb Vaterland" bei 362 000. Ebenso der 1913 erschienene Spionageroman "Seine englische Frau" und viele weitere Werke waren sehr erfolgreich. 1917 schrieb er unter Verwendung seines 1910 erschienenen zweibändigen Werkes "Die Faust des Riesen" die Vorlage für den zweiteiligen gleichnamigen Film von Rudolf Biebrach. Friedrich Wilhelm Murnau drehte 1921 nach Stratz' gleichnamigem mystischen Kriminalroman den Spielfilm "Schloß Vogelöd". Den 1928 als "Paradies im Schnee" erschienenen Roman schrieb Stratz 1922 nach Aufforderung von Ernst Lubitsch und Paul Davidson als Vorlage für den 1923 unter der Regie von Georg Jacoby realisierten gleichnamigen Film. 1925 und 1926 erschienen seine Lebenserinnerungen in zwei Bänden. Zwischenzeitlich weitgehend in Vergessenheit geraten, wird das Werk von Rudolph Stratz nun wiederentdeckt.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum18. März 2016
ISBN9788711507186
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    Buchvorschau

    Der leere Thron - Rudolf Stratz

    www.egmont.com.

    I.

    Fastnachtssamstag

    „Büringen, im Februar 1910.

    Es sind schon häufig, mein teuerster dirigierender Staatsminister, im Leben der Völker Abenteurer aufgestanden, die sich für verschollene Könige und Fürsten, für totgeglaubte Thronfolger ausgaben und für einige Zeit den Beifall der betörten Menge fanden. Das ist nicht neu. Ganz neu und unerhört aber ist es, dass seit einigen Tagen hier in unserer Residenzstadt Büringen ein Mann unter uns herumgeht und, in die Schleier zehnjähriger Vergessenheit gehüllt, es offenbar ableugnet und kalt von sich weist, der langgeschaute, tiefbetrauerte, heissersehnte Erbe unseres in Bälde verwaisten Thrones, der Letzte aus unserem uralten aussterbenden Herrschergeschlecht der Landgrafen von Büringen, zu sein.

    Mit anderen Worten, verehrteste Exzellenz Dr. Bock — und während ich dies schreibe, zittert meine Feder und fliegen meine Pulse, und ich schreie es, noch nicht auf offenem Markt, aber Ihnen ins Ohr:

    Prinz Moritz lebt! Prinz Moritz lebt!"

    Der elfenbeinfarbene Briefbogen mit der Freiherrnkrone fiel auf die grüne Schreibtischplatte. Der landgräfliche Staatsminister Dr. Emil Bock, „d’r Ämil", wie ihn seine Freunde nannten, sprang auf. Kurz und dick, wie ein Stöpsel, stand er da. Er schnaufte. Er wischte sich mit dem rotgewürfelten Sacktuch die Stirn unter dem borstigen Grauhaar. Er rückte die Hornbrille vor den kleinen schlauen Augen zurecht. Er trat an das Fenster.

    Die hohen Scheiben zitterten und schwammen unter den Regengüssen des Februarsturmes. Undeutlich spiegelte sich dahinter das kribbelnde Gewimmel der Residenzstrasse unten — nasse schwarze Droschkendächer, nasse schwarze Regenschirme, papageibunte grelle Farbenklexe in dem Grau: durchweichte weisse Pierrots, flatternde rote Dominos, verschnupfte Bajazzos: Fastnacht trotz Gänsehaut und Zähnegeklapper. Fastnacht am Rhein! Durch das Pritschengeklatsch unten im Zimmer oben die Stimme aus dem Brief:

    „Prinz Moritz lebt! Prinz Moritz lebt!" —

    Der kleine Bock, der dirigierende Staatsminister des Landgrafentums Büringen, zündete sich eine Pfälzer Zigarre an. „Als norr ruhig, Alterle!" mahnte er laut sich selbst. Dann las er weiter.


    „Wir schreiben jetzt den Februar des Jahres 1910. Sie wissen, Exzellenz: Ich habe, nach dem spurlosen und geheimnisvollen Verschwinden des Prinzen Moritz vor nun gerade zehn Jahren, in jener Nacht von dem 8. auf den 9. Februar 1900, doch niemals an seinen Tod geglaubt. Ich war überzeugt, dass jene unbekannte Hand, die ihm damals auf Nimmerwiedersehen leise von innen die Tür des verschwiegenen, in einer Woche von heute ab wohl schon dem Abbruch anheimfallenden Pavillons im Schlossgarten öffnete — dass jene Hand eine Frauenhand war — wäre sonst Prinz Moritz er selbst gewesen? — Aber nicht, dass es eine Mörderhand war.

    Vielleicht stammt diese vorgefasste Meinung und Hoffnung aus der wahrhaften Freundschaft, die mich, immerhin nur einen schlichten Baron Wies, mit dem Erben der Krone verband. Denn wahrlich: ich habe ihn geliebt! mit all den Rätseln und Widersprüchen seiner reichen Natur. Ich habe alle die verschiedenen Menschenseelen geliebt, die sich in Prinz Moritz’ Fürstenseele ein Stelldichein gaben, ineinander verschwammen, miteinander stritten, ihn vom Himmel durch die Welt zur Hölle, durch alle Höhen und Tiefen der Menschlichkeit auf und nieder warfen.

    Ich habe diesen Prinzen geliebt. Unverwischt durch zehn Jahre steht sein Menschenbild vor mir. Ich sehe das Spiel aller guten Geister um die Wölbung seiner hohen Stirne, ich sehe tollen Übermut und tiefe Schwermut zugleich in seinen dunklen Augen. Ich sehe das beredte Zucken seiner Lippen — bitter: der künftige Kronenträger auf frierender einsamer Höhe, und weich: der Liebling der Frauen. Ach — nur zu sehr ihr Liebling! Sonst wäre es ja nicht zu diesem dunklen Ende vor zehn Jahren gekommen ...

    Und dieses Bild, das in unserem Innern lebt, sollen wir uns ohne Not zerstören? In den nächsten Tagen soll Prinz Moritz feierlich und amtlich als tot und verschollen erklärt werden? Sie selber, verehrtester Staatsminister, wollen heute vormittag diesen Schritt vor dem versammelten Landtag rechtfertigen?"


    Der kleine Bock warf den Brief hin und lief durch das Zimmer. Er schaute auf die Strasse. Die Tropfen prasselten an das Glas. Unten stiebten die Regenschauer. Leute mit grasgrünen Zylindern, feuerfarbenen Nasen, himmelblauen Pluderhosen tanzten in der Nässe. „Ha! Wer is denn nachher der ärgschte Narr?" fragte sich der Minister und betrachtete seine kurze stämmige Gestalt im Spiegel: fünf Fuss Gewaltmensch, mit dem nicht gut Kirschen zu essen war. Er trat an den Mitteltisch. Da lag die Tagesordnung für die heutige Landtagssitzung. Die Anfrage des Abgeordneten Meissl und Genossen:

    „Ist es dem Staatsministerium bekannt, dass der zur Zeit regierende Landgraf Hugo XIV. seit mehr als zwanzig Jahren in völliger Geistesumnachtung lebt und seine Auflösung, nach dem Gutachten der behandelnden medizinischen Autorität, des Psychiaters Professor Dr. Roller, in der allernächsten Zeit zu erwarten steht?

    Ist es dem Staatsministerium ferner bekannt, dass das Herrscherhaus Büringen ausser dem kranken Landgrafen Hugo XIV. nur noch einen einzigen männlichen Sprossen aus einer entfernten Seitenlinie in Gestalt des seit zehn Jahren verschollenen Prinzen Moritz zählt?

    Ist es dem Staatsministerium endlich bekannt, dass im Falle der Verschollenheitserklärung des Prinzen Moritz die Erbfolge an das letzte noch lebende Mitglied des Hauses Büringen, die Prinzessin Wilma, die Schwester des obigen Prinzen, übergeht, und dass, falls auch diese Prinzessin sich der Thronfolge entschlagen sollte, unser Landgrafentum Büringen ohne irgendeinen angestammten Herrscher dasteht?

    Was gedenkt das regierende Staatsministerium unter diesen Umständen zu tun, um die durch die Hausgesetze nach zehnjähriger Verschollenheit vorgeschriebene Toterklärung des Prinzen Moritz solange hinauszuschieben, bis Gewissheit darüber besteht, dass Prinz Moritz wirklich tot ist?"

    „Exzellenz, der Wagen ist vorgefahren. Die Landtagssitzung beginnt in einer Viertelstunde."

    Der Staatsminister scheuchte den eingetretenen Diener: „Louis, lass mir mei’ Ruh’!" und griff, wieder allein, nach dem Brief des Freiherrn von Wies.


    „... Sie werden mir erwidern, meine teure Exzellenz, Sie seien durch die Hausgesetze gebunden. Es sei Ihre Pflicht, den Prinzen für tot erklären zu lassen, wenn er zehn Jahre hindurch kein Lebenszeichen von sich gegeben hat, und dieser verhängnisvolle Zeitraum ist in den nächsten Tagen, wenn sich die Fastnacht zum zehnten Male jährt, abgelaufen. Eben darum unterbreite ich Ihnen in fliegender Hast und höchster Not der Stunde hier ein erschütterndes Erlebnis von gestern abend.

    Mein Beruf, lieber Staatsminister, ist, keinen Beruf zu haben. Diese Tätigkeit nimmt mich ganz in Anspruch. Ich bin ein Zuschauer des Lebens. Ich sitze als Philosoph im Sperrsitz der Schöpfung und betrachte mir hinter den Kulissen die Weltbühne, sei es in Indien oder Japan, sei es hier in unserer guten Residenz Büringen.

    So schlenderte ich gestern um ein Viertel vor acht, bei völliger Dunkelheit, von der Promenade her auf den Altmarkt. Das Bild des Prinzen Moritz stand vor meiner Seele. Denn ich war eben da draussen an der Villa der Gräfin Bruhn vorbeigekommen, jenem geheimnisvollen Haus, in dem sich seit Jahr und Tag seiner Besitzerin und ihrem spiritistischen Anhang der Geist des Prinzen Moritz durch Klopftöne und kalten Hauch in der Trance des Mediums manifestiert. Es ist Ihnen ja bekannt, Exzellenz Bock: Sibylle Bruhn war einst seine Vertraute, seine Freundin, seine — die Feder ist nicht so plauderhaft wie ich — sie steht in meiner Hand vielsagend still — also jedenfalls, die verwitwete Frau Gräfin Bruhn glaubt ebenso steif und fest an den Tod des Prinzen Moritz wie drüben im Landtag der unermüdliche Abgeordnete Meissl und seine Leute an dessen Leben. Welche Boten aus der vierten Dimension gerade der schönen Gräfin Sibylle von uns allen allein das nächtliche Geheimnis jenes Pavillons im Schlosspark verrieten? ... Genug! ... Die Aufregung des Augenblicks geht bei mir über Takt und Mass des Weltmanns hinweg."


    Das Telephon auf dem Schreibtisch klingelte. Der Staatsminister horchte: „Wer ist da? Der Kammerpräsident? ... Schöne gute Morge, Badstübner! Wie? Die Landtagssitzung hat angefangen? Ich komm, liebschter Professor! Ich bin alleweil im Begriff, wegzufahre."


    „Schluss! Uff! Ihr Männer! Was sind das für Sache?" Wieder der Brief des Baron Wies:

    „Die Fenster bei der Gräfin Bruhn waren matt erleuchtet und verhängt. Ich sah Schatten hinter den Vorhängen. Das Gedränge der dort versammelten Geisterseher zauberte mir mit einem Schlag meinen Prinzen Moritz wieder in die Erinnerung zurück. Ich sah wieder seine dunkelbraunen, heissen, oft so wehen, oft so spöttischen, oft so herrscherhaft leuchtenden Augen vor mir. Ich las in diesen Augen seine wunde Seele, wie er sie mir so oft auf einsamen Ritten, bei Mondscheinwanderungen, in nächtlichen Gesprächen am Kamin offenbart hat — in diesen Augen, in denen ein fürstliches Jahrtausend mit allem Freud und Leid von dreissig Vorfahren wohnte, bis hinab zu ihm, dem letzten des Geschlechts, in einer Zeit, in der die Fürsten sterben."

    Schon wieder das Telephon. „Herrgottdunnerschlag! Wer? ... Lieber Badstübner — was willscht denn denn noch? Ich soll komme? Der Abgeordnete Meissl spricht? Wie? Der Mann redet nit, der kreischt was zusamme? Gege die Regierung, die den Prinzen Moritz für tot erkläre will? Die halbe Kammer rechts schreit mit? Sie laufe Sturm gegen ’s Minischterium? Wartet norr! Ich komm, Badstübner! Ich komm!"


    Der kleine Bock stand breitbeinig im Zimmer. Las, zornmütig, mit geblähten Nüstern, den Schluss des Briefes.

    „Auf dem Altmarkt kam mir ein Vorbote des Karnevals entgegen: der Närrische Kleine Rat, der im Viererzug zur Narrhalla fuhr. In den Kutschen würdige Grauköpfe mit Schellenkappen und Pappnasen. Mich freute das ernste Bild. Fastnacht ist die grosse Zeit der Wahrheit. Da lässt man die Masken fallen, indem man sie vorbindet.

    Viel Volk zieht lärmend neben der Funkengarde, deren Kindergewehre über die Menge ragen. Die Fastnachtsklappern von Hunderten von Buben rasseln im Takt. Die Laternen erhellen unstät das Dunkel. Ihr Strahl fällt drüben auf den jenseitigen Bürgersteig, über das Gesicht eines abseits stehenden Mannes, bei dessen Anblick mir der Pulsschlag stockt. Wohl deckt ein blonder Spitzbart die einst glatten Linien des Mundes. Und doch sehe ich diesen Mund über die Narren um ihn lächeln wie einst! Ich kenne dies Lächeln des Prinzen Moritz, dem nichts Menschliches fremd ist, dies geistvolle Lächeln, das immer eine Frage an das Schicksal war und sich selber nie die Antwort gab. Ich kenne auch diese Bewegung der Hand, mit der er, mich gewahrend und scheinbar unabsichtlich die Hutkrempe zurechtrückend, das Antlitz schützt und sich hastig abwendet

    Er ist es! Er ist es!

    Ich durchquere mitten durch den unwillig eifernden Narrenzug, unter den empfindlichen Pritschenschlägen der Gecken, den Fahrdamm. Ich erreiche atemlos die andere Seite. Umsonst! Der Unbekannte ist schon spurlos im Gewühl verschwunden!

    Und doch: Ich habe ihn gesehen. Ich habe den totgeglaubten Prinzen Moritz gesehen. Noch darf ich nicht wagen, die Kunde von dieser Erscheinung in das Volk zu schleudern. Ein Sturm im ganzen Land wäre der Widerhall.

    Aber Ihnen, Exzellenz, dem verantwortlichen Leiter unseres Büringer Staatsschiffleins, vertraue ich mein Geheimnis an. Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung und bin der Ihrige Karl Freiherr von Wies."

    Der Staatsminister Dr. Bock drehte sich unwillig um. „Was platze denn Sie da herein, Herr Minischterialrat Gassert? Warum sind Sie denn nit an meiner Stell im Landtag?"

    „Ich komme eben aus dem Landtag, Exzellenz! Der Abgeordnete Meissl treibt’s ärger als je. Er tobt wie ein Toller auf der Tribüne. Der Prinz Moritz wär nicht tot. Fluch über eine Regierung, die Brief und Siegel an solche erstunkene Lügen hängt. Er, der Meissl, protestiert feierlichst im Namen Büringens. Der Badstübner schwingt seine Glocke, wie der Mesner das Rauchfass. Aber der Meissl schreit weiter!"

    „Wart nur, Alterle! Ich komm gleich hinüber, Gassert!"

    Der kleine Bock schob den Ministerialrat zur Tür hinaus, rannte zum Fernsprecher, rief an, lauschte gespannt.

    „Baron Wies? Sind Sie selber am Apparat? Ja? Horche Sie mal: Mir steht der Verstand still nach Ihrem Brief! Habe Ihre Auge sich auch wirklich nit getäuscht?"

    Eine Männerstimme schnarrte geheimnisvoll durch das Telephon. „Meine Augen, Exzellenz, sahen schon indische Fakire frei in die Luft schweben und Aissuas an glühendem Eisen kauen. Meine Augen sahen den Steinregen in Java und die fliegenden Köpfe Japans. Meine Augen sahen schon viele Wunder. Aber dieses gestern abend, die Erscheinung des Prinzen Moritz, war das grösste Wunder ... denn es ist wahr!"

    „Dann tun Sie mir den einzigen Gefallen, beschter Baron: Sprechen Sie vorläufig zu niemandem darüber ..."

    Wieder das Schnarren: „Wenn ich auch schweige: die Wahrheit lebt! Der Unbekannte soll inzwischen auch von andern da und dort gesehen worden sein. Es schwirren schon Gerüchte durch die Stadt!"

    „Ach, du liebe Zeit! Mir knicke bald die Knie! Ich steh hier wie auf Kohle. Ich muss hurtig in den Landtag. Sind Sie in ein paar Stunden frei?"

    „Für Sie jederzeit, Exzellenz!"

    „Dann komme Sie bitte um ein Uhr zu mir ins Residenzschloss! Ja? ... Dank schön! Also auf nachher! Schluss!"


    Die Wolken flogen am Himmel. An die Scheibe rechts klatschte eine nasse Husche. Durch die Scheibe links lachte die Sonne. Aprilwetter im Februar. Karneval oben und unten. Es war eine bucklige Welt. Der kleine Bock griff nach seiner Aktentasche. Der Wagen hielt vor dem Landtag.

    „Auf der Tribün hocke die Leut überenanner!" meldete der alte Diener, der der Exzellenz den Zylinder und Pelz abnahm. Von innen brauste ein undeutliches Stimmengewirr auf, ein Glockengebimmel, gelle Zurufe durcheinander.

    „Heut treibe sie’s aber wüscht, Exzellenz!"

    Der dirigierende Staatsminister trat klein und wuchtig in den Saal. Dessen hintere Bankreihen waren ganz leer. Die Abgeordneten hatten sich nach vorn gedrängt. Sie umringten in dickem Knäuel den Redner. Von den Galerien hingen Menschenklumpen mit vorgebeugten Oberkörpern über die Brüstung. Der Professor Badstübner schwang vom Präsidentensessel aus leidenschaftlich die Glocke. Der kleine Bock nickte ihm zu und setzte sich kampflustig ganz vorn rechts auf die Regierungsbank. Es war Staub in der Luft, Hitze, Lärm. Er fragte, während er sich die Brille aufsetzte, den Ministerialrat Gassert hinter sich: „Wer redd’ denn?"

    „Als noch der Meissl, Exzellenz!"


    Ein hagerer, schmalschulteriger, langer Mann zu Ende der Dreissig stand auf der Tribüne. Er trug einen fadenscheinigen, fest zugeknöpften, schwarzen Überrock und eine schiefsitzende, schwarze Binde vor dem niederen Stehkragen, aus dem sich der lange Hals mit dem vorspringenden, im Reden zuckenden Adamsapfel und dem schlechtrasierten Kinn hob. Wenn er die Lippen öffnete, klaffte eine Zahnlücke unter dem kurzen, schwarzen Schnurrbart. Die schwarzen Augen blickten starr hinter der goldenen Brille. Ihr fanatischer Glanz belebte sich nicht, so leidenschaftlich er auch mit hoher, dünner Stimme sprach und mit den Armen gestikulierte.

    „Meine Herren! Wenn man jemanden für tot erklärt, muss man es auch beweisen können. Ich verlange von der Regierung den Beweis, dass der Prinz Moritz tot ist."

    „Bravo! Bravo!" rief es rechts. Der Abgeordnete Justus Meissl reckte die vornübergebeugte engbrüstige Gestalt.

    „Ich und meine Freunde hier behaupten das Gegenteil. Wir vertreten seit vielen Jahren die Rechte des Prinzen Moritz und wahren sie! Meine Herren! Ich bin kein Grosser im Lande! Ich bin ein einfacher Amtssekretär. Ich habe den Prinzen Moritz niemals persönlich gekannt, nie einen Gnadenbeweis von ihm empfangen. Ich habe keinerlei Vorteil davon, dass ich für ihn in die Schranken trete. Mich treibt nur der Drang nach Gerechtigkeit!"

    „’s is halt e Fanatiker! sagte Exzellenz Bock halblaut. „Sie, Gassert, is der Mann eigentlich verheiratet?

    „Nein. Er lebt als Junggeselle mit seiner ältlichen Schwester!"

    „Drum ist er so rechthaberisch, weil er kei’ Frau hat!"

    Der Ministerialrat ergänzte: „Er hat vor vielen Jahren mal das Zipfe-Käthche aus der Altstadt heiraten wollen — das rote Kätterche, die Tochter von einem Schneidermeister. Aber die Krott hat ihn sitzen lassen und ist heut noch die Frau von dem Schweinemetzger Gülich ..."

    „Dem seine Würscht’ kenn ich!"

    „... und seitdem will der Meissl nichts mehr von den Frauenzimmern wissen. Seine einzige Liebe ist die Politik. Und Politik heisst für ihn die Wiederkehr des Prinzen Moritz."

    Der kleine Staatsminister legte die Hand an das Ohr. Der hohe heisere Kehlklang des Amtssekretärs Meissl durchgellte den Saal: „Rufen wir uns, meine Herren, doch einmal die geheimnisvollen Vorgänge jener Nacht vom 8. zum 9. Februar 1900 in die Erinnerung zurück. Prinz Moritz begibt sich nach Mitternacht aus dem von ihm bewohnten Flügel der Residenz nach dem in der Mitte des Schlossparks gelegenen Pavillon, den er seit mehreren Wochen zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten aufzusuchen pflegte ... Ich weiss nicht, was es auf der Linken da zu lachen gibt. Die Sache ist doch wahrlich ernst genug!"

    Der Abgeordnete Meissl sah streng nach der linken Seite des Hauses. Dann fuhr er fort: „Die Tür des Pavillons öffnete sich ihm gewöhnlich, wenn er dorthin ging, von innen, also durch eine fremde Hand. Man hat diese Hand auch in den Tagen und Wochen zuweilen bei einer solchen Gelegenheit gesehen. Sie wird als klein und reich beringt geschildert, die Hand einer Frau ... Meine Herren! Diese Heiterkeit auf der Linken ist unpassend, wo es um Tod und Leben geht!"

    „Ich bitte um Ruhe!" rief, mit der Glocke in der Hand, der Präsident Badstübner.

    „Weiter, meine Herren! Prinz Moritz kehrt bis zum Morgen nicht in das Schloss zurück. Nicht bis zum Mittag. Bis zum Abend. Endlich entschliesst man sich, den Pavillon gewaltsam zu öffnen. Er ist leer. Vollkommen leer. Seine einfachen, dünnen Backsteinwände, sowie Mangel an Unterkellerung schliessen jede Möglichkeit eines Verstecks aus. Man findet nichts von dem Prinzen Moritz. Nichts von dem zweiten oder besser der zweiten, die darin gewesen ... Seit dieser Nacht vor zehn Jahren, meine Herren, ist Prinz Moritz allerdings verschwunden. Aber wer sagt uns, dass er ermordet wurde? Von wem? Aus welchem Grunde? Wer zeigt uns seine Leiche? Wer will uns beweisen, dass er damals sein Ende fand? Oder seitdem starb? Meine Herren! Wir wissen nichts! Nichts! Nichts!"

    Der Amtssekretär Meissl streckte die langen Arme aus. Seine Augen glänzten starr. Seine Stimme steigerte sich zu kreischender Anklage: „Und kraft dieses Nichts sollen wir den einzigen Erben unseres Throns, den letzten Büringer, für tot erklären, mit einem Federzug das Fürstengeschlecht auslöschen, mit dem wir durch ein Jahrtausend Freud und Leid getragen haben? Nein, meine Herren! Unser Fürstenhaus ist von Gottes Gnaden. Es ist Gottes Wille gewesen, unseren jetzt regierenden Landgrafen seit Jahrzehnten mit unheilbarer Geistesumnachtung zu schlagen und vielleicht bald, sehr bald schon, auch seinen Leib von hier abzuberufen. Sie läuten, Herr Präsident?"

    „Ich muss den Herrn Redner, nach der Geschäftsordnung, unterbrechen. Der Herr dirigierende Staatsminister verlangt zu einer kurzen sofortigen Mitteilung das Wort."

    Der kleine Bock räusperte sich und stand auf. Er hielt ein Blatt Papier in der Hand.

    „Meine Herren! Der Regierung geht in diesem Augenblick das letzte Bulletin der Ärzte über das Befinden des Landgrafen zu. Ich verlese es:

    ‚Der Körperverfall Seiner Hoheit schreitet bei zeitweise gesteigerten Erregungserscheinungen in besorgniserregender Weise fort. Die allgemeine Schwäche nimmt zu. Das Befinden des hohen Kranken gibt keinen Anlass zu Hoffnungen mehr.

    Professor Dr. Nikolaus Roller.‘"

    Ein tiefes Schweigen. Ein Murmeln. Aufgeregtes Anschwellen des Stimmengewirrs. Aus ihm heraus, schneidend, die Nerven auffpeitschend, wie der Schlachtschrei einer zerschossenen Trompete, das Falsett des Abgeordneten Meissl:

    „Ich danke dem Herrn Staatsminister für diese Mitteilung. Mit tiefer Erschütterung haben wir alle diese Hiobspost vernommen. Sie unterstreicht nur meine bisherigen Worte."

    Justus Meissl zuckte spöttisch die fast schwindsüchtigen Hängeschultern. Auf seinem abgezehrten Gesicht erschien ein unheimliches spöttisches Lächeln.

    „Welch eine Logik, meine Herren, in der Weisheit der Regierung! Weil der Landesherr stirbt, sollen wir den einzigen Thronerben für tot erklären! Und was dann? Ich frage: Was dann?

    Meine Herren! Es

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