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Frauenlob. Der Roman eines jungen Mannes
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eBook532 Seiten8 Stunden

Frauenlob. Der Roman eines jungen Mannes

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Über dieses E-Book

Ein beeindruckendes Portrait dreier junger Menschen im ausgehenden 19. Jahrhundert! Um seinen Neffen Sascha Kersting zu besuchen, macht der Kaufmann Otto Gebauer mit seiner Tochter Katja kurz vor Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges in Heidelberg Station. Noch keiner ahnt, wie dieses Wiedersehen das Leben von Sascha, Katja und der noch halbwüchsigen Elschen Ritter schicksalshaft miteinander verstricken wird. Die Zeit vergeht und die Zeiten ändern sich, doch die Wege der drei kreuzen sich immer wieder in ganz Europa – in Frankreich, Russland, England, Italien und Deutschland. -
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum21. Okt. 2019
ISBN9788711507254
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    Buchvorschau

    Frauenlob. Der Roman eines jungen Mannes - Rudolf Stratz

    www.egmont.com

    I.

    Es ist nicht im Geringsten meine Absicht, mich in die Händel zwischen dem Kaiser Napoleon und dem Herrn von Bismarck zu mischen! sagte der kleine aus dem eben eingelaufenen Zug gestiegene Herr in einem reinen Hochdeutsch zu dem Gensdarmen, der ihn auf dem Heidelberger Bahnhof jetzt — in den Kriegs-Sommertagen von 1870 — nach Zweck und Ziel seiner Reise fragte. „Ich bin Ausländer. Ich bin russischer Untertan. Als ich im Juli Odessa verliess, um in Geschäften ins Ausland zu reisen, war der politische Himmel noch unbewölkt. In Frankfurt überraschte mich vor vier Wochen dieser unglückliche Krieg. Ich eile jetzt, dass ich mit meiner Frau und meiner Tochter hier in die Schweiz komme. Wenn ich unterwegs hier in Heidelberg noch über Nacht Aufenthalt nehme, so geschieht das rein nur in bestimmten Familien-Angelegenheiten.

    Der alte Deutschrusse öffnete die Rocknöpfe seines tadellosen, silbergrauen Wiener Sommeranzugs. Er knöpfte auch die blütenweisse Piqué-Weste auf. Er entnahm ihrer Innentasche einen Reisepass, klemmte sich den goldenen Zwicker bedächtig in das feingefurchte, von einem gepflegten kurzen Graubart umrahmte Gesicht, blätterte den Pass auf und reichte ihn dem Gensdarmen auf dem Main-Neckar-Bahnhof in Heidelberg.

    „Ich bin der Kaufmann Erster Gilde und Erbliche Ehrenbürger Otto Gebauer aus Odessa. Und dies hier meine Frau Melanie, geborene Malbasá, auch aus Odessa, und meine dort geborene Tochter Katja!" erläuterte er. Ein feiner Hauch von Kölnisch-Wasser, einer Havannah-Zigarre, tadellos frischer Wäsche ging von ihm aus. Um die beiden Damen hinter ihm wehte der Duftkreis eines starken, fremdartigen Parfüms. Etwas unbestimmt Ausländisches in Haltung und Gesichtsausdruck umgab wie eine Mauer die dreiköpfige Familie. Otto Gebauer fuhr fort:

    „Mein Schwestersohn, ein junger Mensch von sechzehn Jahren, ebenfalls russischer Untertan, und aus Odessa stammend, befindet sich seit einigen Jahren hier in Heidelberg bei dem Gymnasialprofessor Ritter in Pension. Mein Neffe ist Waise. Sein Vater — auch Grosskaufmann und Ehrenbürger — und seine Mutter sind tot. Ich bin sein Vormund. Dies. der Grund meiner Anwesenheit hier. Ich will den jungen Mann schleunigst mit mir in die Schweiz nehmen, ehe die Franzosen womöglich über den Rhein kommen und Heidelberg besetzen!"

    Der kleine Herr sagte das trocken, in der leisen, langsamen und nachdrücklichen Sprache eines gebietenden Finanzmanns. Der Gensdarm sah ihn wortlos an wie einen Verrückten. Ein dicker Dienstmann blieb mit offenem Mund stehen.

    „Was hot der do g’sächt? schrie er. „Die Franzose üwwern Rhein? . . .?

    „Hebet ’en!" riet ein verrusster Eisenbahn-Arbeiter, den Hammer zum Beklopfen der Räder in der Hand.

    „Sagen Sie das nicht noch ’mal! Ein junges Mädchen stellte seinen Korb mit Liebesgaben hin und sprang, halb weinend vor Zorn, mit geballten Fäusten vor Otto Gebauer. „Es kommt kein Turko ’rüber! . . Es kommt keine Mitrailleus rüber! Dafür bin ich Ihnen gut!

    „Ja . . . Ich meinte ja nur . . ." Der alte Odessaer Kaufherr sah sich vorsichtig beschwichtigend im Kreise um. Ihn verblüffte immer wieder diese lodernde Stimmung in Deutschland, das er von früher als so phlegmatisch und liebevoll gegen alles Fremde kannte. Hier auf dem Rhein-Neckar-Bahnhof, wo er von Frankfurt angekommen, verlief sich der Schwarm der Reisenden. Aber gegenüber, zwischen den roten Sandstein-Arkaden und Mauern des Odenwald-Bahnhofs wogte es unter dem tiefblauen Sonnenhimmel kornblumblau von bayrischen Uniformen und darüber dem Gewimmel schwarzer Raupenhelme, und wirbelte ein Taubengeflatter weisser Taschentücher um die aus dem schwarzen Tunnelschlund in die grüne Rheinebene hinausdampfenden Truppenzüge, und klang in Jauchzen und Jubel auf den Bahnsteigen und aus den blaugefüllten Wagenfenstern wieder und wieder durch das Rollen der Räder der Sang, den Deutschland in diesen Tagen immer und überall sang — bei Tag und Nacht vom Belt bis zum Bodensee: Fest steht und freu die Wacht — die Wacht am Rhein . . .

    Otto Gebauer schaute zurück zu dem Häusergewirr Alt-Heidelbergs, das sich zwischen Neckar und Königstuhl schmiegte. Feierlich-riesenhaft, in der Nachmittagsonne in rotem warmen Leben aus Waldgrün leuchtend, stand mit seinen Palastruinen das von den Franzosen zerstörte Schloss unter dem blauen Himmel des 2. September 1870.

    „Das Volk ist hier noch aufgeregter als in Frankfurt, Melanie!" sagte der kleine, ausländische Kaufherr kühl, ohne Teilnahme an dem Geschehen um ihn, zu seiner Gattin. Frau Gebauer — die geborene Malbasá — stand hinter ihm — das Schosshündchen unter dem einen Arm, mit dem anderen das langgestielte Lorgnett vor den Augen. Deren Brauen waren geschwärzt, das einst schöne, nun im Verblühtsein leere, runde Gesicht so weissgepudert, dass nur die grossen Augen der Levantinerin dunkel herauslächelten und der Anflug von Schnurrbart auf der Oberlippe unter der Reismehlschicht verschwand. Sie zupfte sich entrüstet, mit dem anspruchsvollen Auftreten einer Frau aus den ersten Kreisen der Odessaer Finanzwelt, den geblümten Kaschmirschal um die Schulter zurecht und versetzte mit tiefer, voller Stimme — kurzatmig — denn sie war umfangreich und dabei nach der Vorschrift der Mode bis zum Ersticken geschnürt:

    „Ah — c’est embêtant, mon ami! Cela ne va pas à la longue!"

    „Um Gotteswillen, Mama — sprich hier nicht französisch!" Katja, die 22jährige Tochter, bog warnend die schlanke, enge Taille aus der weissen, violettgestreiften, noch krinolinenartigen Wölbung des in den Hüften weit ausladenden Glockenrocks, in dem sie, schlank, frisch und lang — ein Kopf grösser als die Eltern, wie in einem Tonnenreifen stak, und hob lebhaft die weissen Hänge-Ärmel. Ihr schönes, längliches Gesicht zeigte, wie schön die Mutter einst gewesen. Aber es war schmaler — ganz anders geistig belebt. Glänzende dunkle Augen lächelten über einem lebensneugierigen, halb offenen Mund und einer geraden regelmässigen Nase. Die Gesichtsfarbe war bräunlich, in der Blutmischung von Deutschtum und Mittelmeer.

    Sie schüttelte mit dem Ungestüm der verwöhnten einzigen Erbtochter den jungen Kopf, dass die langen, unregelmässig um die Ohren baumelnden Ringellocken flogen. Die Hauptmasse des reichen dunklen Haars war nach rückwärts zu einem Chignon geballt. Von dem Hinterkopf her sass ein kleiner lackierter Matrosenhut aus weissem Wachstuch schief nach vorn in die glatte Mädchenstirn gerügt. Die krauste sich bei ihrer wiederholten Warnung:

    „So gib doch schon Acht, Mama!"

    Aber Madame Melanie Gebauer verachtete von Russland her das Volk — Muschiks — Iswoschtschiks — Arteltschiks — Schwerarbeiter. Diese Leute waren Luft. Sie begann laut und ungeniert, sich erhitzt fächelnd:

    ,,Ah! plût à Dieu, que ce petit Sacha soit chez soi . . ."

    „Mama wird nicht ruhen, bis wir hier noch alle zusammen Haue kriegen!" sagte das schöne Mädchen zu ihrem Vater — halb lachend — halb unruhig — aber doch in der Haltung einer Dame der grossen, osteuropäischen Welt. Und zugleich ging es schon los:

    „Was bawwelt die do auf französisch — die dicke Madam!"

    „Ob Sie gleich’s Maul halte . ."

    „Die g’hört kriegsgefange!" verkündete ein Bengel.

    „Stellt sich die alti Maschin do hin und parliert druff los!"

    „Hülfe! ächzte Madame Gebauer. Sie sprach, aus der reichen Griechenkolonie Odessa’s stammend, schlechter deutsch als ihr Mann und ihre Tochter. „Hülfe!

    „Still, Ihr Männer! Als norr kalt Blut!"

    Ein vierschrötiger, bärtiger Pfälzer zu Anfang der Fünfzig donnerte es von einem Waggon voll Liebesgaben her mit kochendrotem Gesicht. Er kam hitzig heran. Er hatte grobe, kluge, willensstarke Züge. Er trug am Arm die weisse Binde des roten Kreuzes. Er brauchte die Umstehenden nicht erst unsanft bei Seite zu schubsen. Die machten ihm von selber Platz.

    „Mich kennt’r doch! schrie er den Heidelbergern zu. „Wenn ich auch norr e Mann’emer bin!

    „Ha freilich — Herr Niethammer!"

    „Also horcht emol: Die Fremde do — die gehöre behandelt wie die Augäpfel — und wenn sie noch so dumm daherschwätze! Dees sind Russe! Die Russe sind unsere gute Freund! Die decke uns de Rücke! Da brauche wir kein’ Mann im Osten! Alles üwwern Rhein! — Kumme Sie — die Herrschafte — Ich bring’ Sie aus dem Bahnhof heraus!"

    „Sie sind wohl Eisenbahnbeamter?" frug der alte Grosskaufmann und fischte schon, gemäss russischer Gewohnheit, nach einem Trinkgeld in der Westentasche. Der derbe Mann aus dem Volk lachte.

    „Ah bah! Ich hab’ e Fabrik in Mann’em!"

    „Welcher Artikel?" Otto Gebauer’s kaufmännische Neugierde erwachte.

    „E Eisengiesserei! Ich hab’ freilich klein angefange . . .

    Da gucke Sie die beide Pratze do an — da merke Sie heut’ noch, dass ich gelernter Maschinenschlosser war! Mei’ Vater war noch Vorarbeiter — drüwwe — im Saarland. Der hot sich als Schmied selbständig gemacht. Ich bring’ das Fabrikle immer weiter hoch — wann jetzt die grosse Zeit kummt und hilft!"

    „Das furchtbare Blutvergiessen den ganzen August hindurch nennen Sie eine grosse Zeit?"

    Sie waren vor die beiden Bahnhöfe, auf den Platz am Winterhafen, getreten. An den ersten Häusern der Stadt drüben hingen bunte Flaggen. Buben und Mädchen zogen mit verschiedenfarbigen Fähnchen vorüber. Sie schwenkten sie begeistert und sangen aus hellen Kinderkehlen:

    „Es braust ein Ruf wie Donnerhall —

    Wie Schwertgeklirr und Wogenprall!"

    „Do gucke Se hin! Der Pfälzer legte dem Deutsch-Russen unbekümmert die schwere Hand auf die Schulter. „Die Meiste von den Kinnern trage rotgelbe Fahne — das sind unsre badische. Und manche trage blau-weisse — den Bayern zu Ehren. Und e paar auch schwarz-rote für Württemberg und rot-weisse für Hesse — Aber das Beschte fehlt — denn das habe wir nit — Gott sei geklagt: Die Reichsfarbe fehle — Wir habe keine deutsche Farbe mehr. Wir habe kei’ deutsches Reich!

    Er schüttelte in plötzlicher Aufwallung seines rheinischen Bluts den kleinen Herrn an seiner Seite.

    „Ich bin jetzt fuffzig. Ich hab’ als junger Mann das Jahr 48 miterlebt. Ich hab’ in Frankfurt, in der selige Paulskirch’, die schwarzrotgoldene Fahne hänge sehe! ’s war nix mit dem Schwarzrotgold damals, für das wir so begeischtert ware — ’s is nix geworde! Aber es muss ’mal werde — und wenn nit schwarzrotgold — dann anderswie! Es gibt noch mehr Farbe im Regenboge. Aber das Reich muss komme! Das muss ’mal komme!"

    Seine braune, mächtige Hand wies in die Ferne. Weit am Himmelsrand, dunstig verschleiert, blauten da über dem unsichtbaren Rhein die Vogesen.

    „Gucke Sie, Herr! Deswege is das Blutvergiesse da drausse! Deswege fliesst da das kostbare deutsche Blut! Die Sach’ is gut. Die is gross. Die is heilig! Für die lohnt sich’s zu sterbe! Ich sag’ Ihne: Ich könnt’ manchmal heule, dass ich fusszig uff’m Buckel hab’ und hier Unterhose und Bauchbinde verlade muss, statt dass ich e Zündnadelgewehr in den Fäuschte halt’ . . . Ja und jetzt . . . Wo wolle Se denn eigentlich hin?"

    „Zu dem Gymnasialprofessor Hermann Ritter — wenn Sie den vielleicht . . ."

    „Ob ich den Ritter kenn’? Hal Wie mei Tasch’. . dees is auch e feschter deutscher Mann! Mit dem hock’ ich oft beisamme, wenn ich nach Heidelberg, komm’! Der hat e Herz für’s Vaterland! Er wohnt gleich da hinne uff der Anlag’! Da springt gerad’ einer von seine Bube vorbei! . . Albert! . . . Do gehscht bei! Wo kummscht denn her?"

    „Von den Baracke! Der Sekundaner hemmte seinen atemlosen Trab und deutete auf die freie Ebene hinter den Bahnhöfen. „Ich muss gleich zur Grossherzogin ins Museum.

    „Dort im Saal von der Museumsgesellschaft hat die Grossherzogin mit ihren Damen ihr Hauptquartier! erklärte der Mannheimer Fabrikant, „und die älteren Gymnasiaschte wie der Albert da, die springe den ganzen Tag als Botte hin und her!

    „Da freuen Sie sich wohl, dass Sie sich auch nützlich machen können!" frug Katja Gebauer den jungen Menschen. Er sah die elegante schöne Weltdame böse an. Er warf erbittert den Kopf zurück.

    „Ein Dreck is das! rief er wütend. „Bloss weil ich erst sechzehn bin, darf ich nicht hinaus! Ich könnt’ gerad’ so gut schiesse wie die Andere! Und wenn ich so weit bin wie die Andere, denn ist’s vorüber, und ich war nicht dabei!

    „Du bist zu jung, Albert — und ich bin zu alt! sagte der Fabrikant Niethammer. „Da kann mir nix mache!

    „So? . . . Warte Sie nur, Herr Niethammer, was noch passiert!"

    „Hoffentlich keine Dummheiten, mein Sohn! Und jetzt führst du die Herrschaften ’nüwwer zu deinem Vater! Keinen Dank! Is mit Bläsier geschehen! Gute Reis’!"

    „Seien Sie doch nicht so kratzbürstig!" sagte, im Weitergehen mit den Eltern, Fräulein Gebauer weltläufig verweisend zu dem Sekundaner neben ihr und schwenkte dabei den kleinen, weissen Sonnenschirm, dass dessen lange Seidenfranzen flogen. Darunter zeigte im Schatten ihr schönes bräunliches Gesicht lachend die weissen Zähne. Aber in den Augen blieb eine geistreiche Schwermut — etwas Fremdartiges — Träumerisches — aus fernem Osten und südlichem Blut. Sie wandte dem jungen Mann mit einer sprunghaft sprechenden Schulterbewegung den hochfrisierten dunklen Kopf zu. Die Schäferlocken baumelten ihr wetterwendisch um die schmalen, lebendigen Züge, während sie strafend fortfuhr:

    „Wir haben Ihnen nichts getan! Wir wollen doch bloss meinen Vetter Sascha Kersting besuchen, der bei Ihrem Vater in Pension ist! Er muss doch mit Ihnen im gleichen Alter sein!"

    „Er ist auch sechzehn wie ich! Er sitzt mit mir in der Obersekunda!"

    „Und kommt Ihr nett aus miteinander? Wie geht’s denn dem Sascha?"

    „Ha — genau wie mir!"

    „Was heisst das? Warum ballen Sie denn so die Fäuste?"

    „Wie ein dummes Frauenzimmer kommt sich unsereins vor!"

    „Danke!"

    „Alle dürfen hinaus und kämpfen! Und unsereins hockt daheim über dem saudummen Tacitus und dem Rindvieh von Plato — no ja — es ist doch wahr. Der junge Mann brach wütend los: „Da predigen sie einem die Hude voll von den Spartanerjünglingen und den antiken Tugenden der Römer — und jetzt, wo man einen antiken Jüngling machen könnt’ — jetzt sperren sie einen zu Haus in den Stall wie die Gickel! Ich lass’ mir die Behandlung nicht mehr lang gefallen! Und der Sascha auch nicht!

    ,,Den Sascha geht es doch schon gar nichts an! meinte die junge Odessaerin kühl. „Er ist doch Russe!

    „Russe? Der junge Mann riss die Augen auf. „Wenn einer von deutschen Eltern geboren ist und deutsch als Muttersprache spricht . .

    „Trotzdem ist er, wie es seine Eltern und Grosseltern waren, russischer Untertan!"

    „Da soll er auf die Kosaken pfeifen! Was deutsch ist, das gehört jetzt alles zusammen! Wir wollen ein einiges Deutschland! Und der Sascha will’s auch! Gerad’ der! Der will nicht zurückbleiben hinter uns anderen, bloss weil er ein zahmer Russ’ wär’. Ihr werdet noch was erleben!"

    „Was sagt denn um Gottes willen Ihr Vater dazu?"

    „Der Pappa? Der geht ja selber heut Nacht hinaus! Als freiwilliger Krankenpfleger während der Gymnasial-Ferien! Er muss auch was für’s Vaterland tun, sagt er! Na — wir auch! Der junge Mann lächelte schadenfroh und verbissen vor sich hin. „Wart’ nur, Alterle!

    „Da scheinen wir ja gerade noch zurechtgekommen zu in sein!" sprach besorgt und gedämpft hinter ihnen der alte Deutsch-Russe zu seiner Frau. Sie gingen die Anlagen entlang — auf der mit Häusern besetzten Seite, der gegenüber sich eine breitschattende Platanen-Allee längs des Eisenbahndamms an den Kastanienhainen des Gaisbergs hinzog. Der Gymnasiast blieb vor einem offenen Haustor stehen.

    „Da im ersten Stock wohnen wir! Er pfiff schrill auf zwei Fingern und schrie in die offenen Fenster hinauf: „Pappa! Da kommen Herrschaften aus Russland! Verwandte vom Sascha! . . . So! Ich muss springe, dass ich ins Museum komm’!

    Er lüftete seinen Strohhut und stürzte davon. Oben dröhnte die Treppe. Professor Hermann Ritter eilte den Besuchern entgegen. Kaum mittelgross, tief schwarz mit künstlerischem Knebelbart und leichtgelocktem Haar. Beleibt und beweglich. Die feurigen Braunaugen eines fünfundvierzigjährigen Jünglings unter der Brille. Der weiche, starke, helle Tenor seines Willkomms verriet den geübten Sänger des ,Bachvereins‘ und der ,Liedertafel‘ — neben dem Brotberuf des Schulmanns.

    „Unverhoffte Ehre . . ." Er nötigte die Gäste in sein Arbeitszimmer. Die Trippelsche Riesenbüste Goethe’s beherrschte mit olympischen Seheraugen den Raum. An der

    Wand hingen Stahlstiche der Preller’schen Odyssee — der göttliche Dulder und über ihm der Herrscher im Donnergewölk, Zeus. Über dem Kanapé unter Glas und Rahmen eine grosse Photographie der Sixtina. Auf dem Flügel in der Ecke zerstreut die Noten: Schumann — Brahms — Beethoven . . . In dem schlichten, offenen, eichenen Bücherschrank ein Leuchten der Menschheit erhellenden Geister durch die Jahrtausende wie Hunderte von Kerzen am deutschen Weihnachtsbaum — von Plato bis Kant — von Euripides bis zu den Humboldts.

    Der Professor hatte purpurne Flecken an den Fingern. Die kamen nicht von Blut, sondern von der roten Tinte, mit der er die blauen Klassenhefte korrigierte. Er schob geschäftig die Stösse von Heften von den Stühlen. Er machte das Kanapé frei, auf dem schon seine Krankenpfleger-Ausrüstung für heute Nacht lag: Eine graue Joppe. Eine Mütze und weisse Armbinde mit dem roten Kreuz. Er bat die Besucher, Platz zu nehmen. Er rieb sich aufgeregt die Hände. Er rief in melodischem Zweiklang nach seiner Frau: „Käthchen! . . Käth—chen!" und stellte sie vor, als sie endlich in einer frischen Bluse und mit ordentlichem Haar erschien — etwas grösser als er — blond und blass — mager und mild — so selbstverständlich abgehetzt — so bescheidenverblüht — so gottergeben-zufrieden in ihrer kleinen Welt wie nur irgend eine deutsche Hausfrau. Nebenan lärmten die Kinder. Aus der Küche kam Kaffeegeruch. Die Sonne schien in den kleinen Raum, in dem der Geist siegreich aus Gips und billigen Bildern, abgenutzten Klaviertasten und zerlesenen Klassikern sprach, und vergoldete ihn mit ewigem, deutschem Leben.

    Der Schulmann liess seinen Gästen nicht erst Zeit, das Gespräch zu beginnen. Er hub selber von dem an, dess das Herz voll war, mit freudig aufflammenden braunen Augensternen und über dem Knie verschlungenen Händen.

    „Nun — so hat auch Sie die grosse Zeit nach Deutschland gerufen? Oh — es ist herrlich! Eine Lust zu leben! Die Geister erwachen! Hören Sie: Da draussen singen sie schon wieder das Lied der Lieder . . . Ja wahrhaftig: ,So lang ein Tropfen Blut noch glüht‘ . . ."

    „Jede Nacht haben sie es vor unserem Hotel in Frankfurt gesungen. Man konnte nicht schlafen", sagte Madame Melanie Gebauer nervös. Sie thronte entrüstet in ihrem weitgeblähten, grell violetten Taftkleid wie eine grosse verblühte Tulpenglocke auf ihrem Stuhl, atmete in kurzen Stössen im Panzer des Mieders, und fächelte der Puderschicht auf ihren erhitzten, regelmässigen, nichtssagenden Zügen Kühlung zu. Ihr Mann räusperte sich und versetzte in das verdutzte Schweigen des Professors mit seiner vorsichtigen, kaufmännischen Höflichkeit:

    „Es ist doch nicht ganz so, Herr Professor! — was den Anlass meines Aufenthalts hier betrifft! Wir haben mit deutschen Dingen nichts zu tun! Wir sind Untertanen eines fremden Staates . ."

    „Aber doch Deutsche . . . Deutsche!"

    Der alte Deutsch-Russe überhörte es geflissentlich.

    „Mögen Odessaer Damen, die hier in Heidelberg ansässig sind, sich in der Verwundetenpflege betätigen und auch sonst leidenschaftlich für Deutschland eintreten! sagte er. „Möge eine dieser Damen, wie ich höre, bereits als Ausländerin und geborene Wienerin das Eiserne Kreuz am weissen Band erworben haben! Mich geht das nichts an. Ich bin hier lediglich gemäss meiner Pflicht als Vormund meines verwaisten Neffen!

    „Soll ich den Sascha holen? Er ist in seinem Zimmer."

    „Einen Augenblick noch, wenn ich bitten darf! Unter uns gesagt: Herr Professor — ich möchte meinen Neffen morgen mit in die Schweiz nehmen!"

    Professor Hermann Ritter zupfte erstaunt den malerischen Knebelbart. Er lächelte freundlich und begriffsstutzig.

    „Ja — warum denn?"

    „Nun — ehe der Sascha womöglich in das Kriegsgetümmel gerät, wenn die Franzosen hierherkommen!"

    „Die Franzosen nach Heidelberg? Der kleine dicke Pädagoge schnellte wie eine Sprungfeder in die Höhe. Es schien, als sträubten sich ihm die Künstlerlöckchen um die angehende Glatze. Er faltete entsetzt die Hände über dem gerundeten Leib, auf dem die Weste sich in vielen Fältchen knitterte. „Ja — du liebe Zeit! Lesen Sie denn keine Zeitung? Wissen Sie denn nicht, dass wir gesiegt haben?

    „Bisher! sprach der alte Kaufherr knapp. „Und auch da . . . diese drei mörderischen Schlachten bei Metz waren schliesslich so gut wie unentschieden. Seit gestern oder vorgestern ist dort ein neuer, grosser Ausfall der Franzosen im Gang. Eine andere entscheidende Hauptschlacht scheint jetzt eben im Norden Frankreichs, nahe der belgischen Grenze, zu toben . . . Wer da schliesslich siegen wird . . . . .

    „Ja — wir doch!" versetzte sanft und laut Frau Professor Käthchen Ritter, die bisher kein Wort gesprochen. Ihr vom Alltag müdes Gesicht übersonnte sich von einer gläubigen und glücklichen Hoffnung. Sie war schön in diesem Augenblick. Wie von Licht umflossen. Ein Mädchenzauber von einst blühte flüchtig auf.

    „Da gucken Sie ʼmal meine Alte an! Die wird förmlich wieder jung! rief Professor Ritter triumphierend. „Wir alle werden jung! Die Welt wird jung! Die Zeit erfüllt sich.

    „In Frankfurt, von wo ich komme, hat man sehr gute Beziehungen zu Österreich! sprach Otto Gebauer bedächtig. „Das Eingreifen Österreichs in den Krieg gilt Eingeweihten nur noch als eine Frage von Wochen. Das Ministerium Potocki — in Wien . .

    „Der Polack wird unsern Herrgott auch nicht aufhalten! Und ich weiss, was unser Herrgott vorhat! Der Schulmann streckte enthusiastisch den kleinen, fetten Arm aus. „Der Heinrich Heine war ein Lump. Ich hab’ ihn gar zu gern! Und sogar der gottlose Schote hat’s prophezeit — aus Paris — aus seiner Matratzengruft heraus: ,Komme du bald — oh Kaiser!‘

    ,,Eine internationale Familie wie die unsere — verzeihen Sie, wenn ich als ein prosaischer Bankier spreche — meine Familie, die überall in Europa: — in Wien — Paris — Lyon — London — enge verwandtschaftliche und zugleich damit geschäftliche Verbindungen unterhält . . ."

    „. . Der Kaiser kommt . . . der Kaiser kommt . ."

    „. . muss nach allen Seiten geradezu ängstlich neutral sein und hat Einblicke nach allen Seiten! Und diese Einblicke sagen mir mit einer geradezu unumstösslichen Gewissheit . . Der alte Odessaer Kaufmann sprach leise, als verkündete er ein Geheimnis, und unwillkürlich etwas feierlicher als sonst: — „und ich habe — im Vertrauen — meine gesamten, gerade jetzt für einen Finanzier doppelt entscheidungsvollen geschäftlichen Massnahmen darauf eingestellt: An Englands Missgunst und an Österreichs Rache für Sadowa wird, ehe der Herbst kommt, die Staatskunst des Herrn von Bismarck und die Feldherrnkunst des Generals von Moltke scheitern!

    „Ja — aber das deutsche Volk steht doch hinter dem Bismarck und dem Moltke! sagte Professor Ritter halblaut und erstaunt. „Sehen Sie denn nicht, dass bei uns ein Wunder geschieht? Sehen Sie denn nicht, dass alle Menschen leuchten? Es hat jeder einen hellen Schein ums Haupt! Es steht ein Licht vom Himmel über Deutschland! Jeder fühlt’s: Jetzt muss es werden! Jetzt oder nie! Und es wird! Das hört man in den Lüften singen! Das sind Stimmen von oben: Es wird! . . . Es wird! . . . . . Es stirbt keiner umsonst da draussen . . . .

    „Ja eben! Denken Sie an die Opfer!"

    „Mein Ältester, der Adolf, kämpft schon draussen! Ich hab’ ihn selbst aus der Schulbank in der Prima geholt und hingeführt. Ich tät’ auch meinen Zweiten — der Sie hierhergebracht hat — gleich hinausgeben, wenn er nicht erst sechzehn wär’! Da darf ich nicht — so ungebärdig der Bub sich auch anstellt."

    „Nicht er allein! sagte der alte Odessaer beunruhigt . . . „Nach seinen Andeutungen scheint sogar mein Neffe Sascha von einem kriegerischen Geist angesteckt . . .

    „Der liegt jetzt in der Luft. Die Herzen brennen — die alten und die jungen — Herr Gebauer!"

    „. . . von einem Kasernengeist angesteckt, der für einen künftigen jungen Grosskaufmann wie Sascha am allerwenigsten passt."

    „Ja — schliesslich muss er doch auch in Russland einmal dienen — so gut wie jetzt hier die jungen Leute!"

    „Da sind Sie im Irrtum, Herr Professor! sagte der Kaufmann kühl. „Mein Schwager Kersting war Erblicher Ehrenbürger, und Sascha, sein einziger Sohn, ist es also auch durch Geburt. Die Erblichen Ehrenbürger geniessen bei uns in Russland die Adelsvorrechte. Und unter diesen, als eines der wichtigsten, die grundsätzliche Befreiung von jedweder Art von Dienstpflicht! . . Und statt dass der junge Mensch froh ist, weit vom Schuss zu sein . . . . Er braucht wirklich keine kriegerischen Lorbeern! Er hat sein Leben lang genug mit der Verwaltung seines immensen Vermögens zu tun!

    „Ist er wirklich so reich?"

    „Ich kenne sein väterliches Erbe, denn ich verwalte es als Vormund! sagte Otto Gebauer. „Es ist enorm. Dies war ja, wie Sie wissen, Herr Professor, der Grund, weswegen ich ihn als Waise hierher zu Ihnen, ins Ausland und in einfache, gesunde, bürgerliche Verhältnisse brachte. Für einen elternlos heranwachsenden jungen Mann seines Reichtums sind die Verhältnisse da draussen im Osten bei uns einfach Gift! Die Frauen würden jetzt schon nach ihm angeln! Er wird sie noch früh genug kennen lernen! Ein Haufen Müssiggänger und Schmarotzer würde sich um ihn sammeln. Man würde ihn anborgen . . . ihm schmeicheln. Es ist meine Pflicht, ihn vor diesen Verlockungen und Verführungen zu bewahren, bis er erwachsen ist! Je früher er dann heiratet, desto besser! Und nun rufen Sie ihn bitte!

    Der Schulmann und seine Frau zogen sich zurück. Die deutsch-russische Familie war allein in dem kleinen, heissen Raum. Der Erbliche Ehrenbürger Otto Gebauer ging unruhiger hin und her, als es ihm sonst seine Würde als Kaufmann Erster Gilde und Mitglied der Odessaer Duma erlaubte. Er wehrte mit der Hand die schwarzsummenden Fliegen. Aber es war mehr, als scheuchte er schwarze Gedanken . . . . . .

    „Ça vient très mal à-propos, versetzte er, gegen seine gemessene. Art etwas nervös und verdriesslich, „dass der Sascha sich hier sozusagen mit der Firma Bismarck und Moltke assoziiert!

    „Du hast ihn hierher ins Ausland getan!" sprach die geborene Abasá und vervollständigte, in dem engen Korsett wider ständigen Luftmangel ringend, mit der Puderquaste den weissen Rauhreif auf der Nase.

    „Konnte, meine Liebe, ein alter Kenner Europas wie ich ahnen, dass diese süddeutschen Staaten sich jetzt Preussen anschliessen würden? Vor vier Jahren um diese Zeit zausten sich noch die Bayern und die Preussen wie Katz’ und Hund! Und nun auf einmal — comme par une vertu magique dieses Herrn von Bismarck! — promenieren beide Arm in Arm gegen Frankreich!"

    Die halbe Levantinerin zuckte die Achseln. Wie konnte man etwas gegen dieses göttliche Frankreich unternehmen?

    „Mein Odessaer. Seiden-Import kommt doch aus Südfrankreich! Otto Gebauer ging immer hastiger auf und nieder, als triebe ihn eine unbestimmte Angst. „Unsere Handelsbeziehungen gehen nach dem Mittelmeer — nach Marseille! Unsere Bankverbindung ist der Crédit Lyonnais! Wir haben unsere nächsten Verwandten dort in Marseille und Lyon! Und hier begeistert sich inzwischen der gute Sascha in aller Unschuld gegen Frankreich . .

    „Gegen Frankreich . . .", wiederholte Madame Gebauer empört und fächelte sich erschöpft Kühlung.

    „Wir Odessaer haben weder im Norddeutschen Bund noch südlich des Mains geschäftlich das Geringste in Deutschland zu suchen! Wir sind — nettement — auf Paris — auf Lyon — auf Marseille angewiesen, wenn wir überhaupt Auslandsgeschäfte machen wollen, und so habe ich auch diesmal in dieser europäischen Krise disponiert! Der kleine graubärtige Handelsherr blieb stehen. Jetzt malte sich deutlich ein Ausdruck von Angst auf seinem Gesicht, das sonst in stiller, kalter und undurchdringlicher Verschwiegenheit sein Hauptbuch widerspiegelte. „Es ist merkwürdig, Melanie . . Wenn man die Deutschen hier so alle sieht — diese Stimmung — man bekommt förmlich Zweifel, wie der Krieg ausgeht . .

    „Der Sascha kommt gleich! Ich hab’ ihn aus dem Garten holen müssen!" rief Professor Ritter durch den Türspalt und schloss ihn wieder.

    „Danke, Herr Professor! . . Ja — dieser Krieg aus heiterem Himmel . . . Katja . . . Zupfe nicht immer an den Franzen von deinem Sonnenschirm . . . . wenn ich ausnahmsweise einmal ernsthaft von Geschäften mit Euch spreche . . ."

    „Das ist auch das erste Mal, dass ich dich nervös sehe, Papa!" sagte die junge Dame gelassen.

    „Ich bin es nicht, Katjuschka! Ihr Vater setzte sich und wurde jetzt zusehends wieder ganz der körperlich kleine, geschäftlich grosse Kaufmann des Ostens, der seinen Kredit wie einen langen Schatten über die schwarze Erde Südrusslands und das Schwarze Meer bis in die Levante und in den Golf von Lyon warf. „Ich bin ganz ohne Sorge. Kaiser Napoleon hat unsern Zaren in der Krim gefchlagen: Er hat den Kaiser von Österreich in Italien geschlagen. Er hat den Kaiser von China geschlagen. Er wird also wohl auch noch diesen kleinen König von Preussen schlagen können!

    „Und dann . . Er klappte die Fingerspitzen zusammen und sah sinnend vor sich hin. „. . Dann stecke ich Sascha so bald wie möglich als Volontär zu unsern Verwandten, den Noutz in Lyon, damit er Frankreich lieben lernt!

    „Mög’ es Gott gefallen!" sprach Madame Melanie seufzend, mit einem andächtigen Augenaufschlag, der halb dem Herrn im Himmel, halb Paris galt.

    „. . . . Das heisst . . . Ihr Gatte nahm behutsam sein Wort wieder halb zurück. „Damit er vor allem auch den Lyoner Seidenhandel lernt! Mit der Liebe zu einzelnen Nationen darf sich der Sascha nicht befassen! Er muss lernen, dass ein Kaufmann überall auf der Welt Freunde hat — nämlich die Leute, mit denen er Geschäfte macht — und überall Feinde — nämlich die Konkurrenz! Die Konkurrenz kann er im eigenen Vaterland Tür an Tür haben und die Geschäftsfreunde in den fernsten Ländern! Es gibt da nur Geschäftsbeziehungen und Familienverbindungen, die die Geschäftsbeziehungen in glücklicher Weise ergänzen. A propos: Wie alt ist denn eigentlich diese kleine Françoise Nezot? Ist sie schon wieder bei ihren Eltern in Marseille?

    „Sie ist noch im Kloster! Madame Gebauer erwachte stürmisch aus ihrem Phlegma, da es um Heiratspläne ging. Das levantinische Blut lebte auf. Ein fernes Leuchten glomm in den dunklen mandelförmigen Augen. „Sie ist jetzt erst dreizehn!

    „Also noch ein Kind!"

    „Das macht ja nichts, mein Freund! Das wäre ja gerade das rechte Alter für Sascha! Ach — ich erinnere mich noch, wie seine selige Mutter . . ."

    „Ja. Meine Schwester war immer für die Partie . . ."

    „. . und der alte Nezot schon vor fünf Jahren halb im Scherz und halb im Ernst auf die Verlobung ihrer Kinder zusammen anstiessen! Mein Gott ja . . Das Haus Nezot . . Die Odessaerin schlug bewundernd die Hände zusammen. „Das ist ein Wort.

    „Gewiss ist es eine der ersten Reedereien von Marseille, sprach ihr Mann leise und vorsichtig — so wie man an ganz grosse Geschäfte herangeht. „Man würde die Schiffahrtslinie nach Odessa und dem Kaukasus ausbauen! Die teuren Frachtraten bleiben in den Familien! Das gegenseitige Wechselgiro würde . . . .

    „Wenn ihr nur kuppeln könnt! sagte die Tochter vom Fenster her. Sie hatte bisher geschwiegen. Die Eltern drehten sich entrüstet nach ihr um. Katja hielt, mit einem leichten, müden Gähnen die Hand vor den Mund und meinte dabei, zwischen den Fingern: „Ich möchte ’mal wissen, wie das ist, wenn sich zwei Menschen heiraten und nicht zwei Firmen!

    „Ach du! Schäme dich! Zweiundzwanzig Jahre bist du mit Gottes Hilfe und hast noch keinen Mann!"

    „Halb Odessa hat um dich angehalten! ergänzte ärgerlich der Vater. „Alle Nationen. Alle Branchen!

    „Warum hast du denn keinen genommen?"

    Das junge Mädchen sah die Eltern seelenruhig aus ihren lebhaften braunen Augen an und zuckte die Achseln.

    „Ja — wenn ich das wüsste . .", sagte sie.

    „Ich möchte nur wissen, auf wen du eigentlich wartest!"

    „Ich auch, Mama!"

    „Eine unglückliche Liebe hast du doch auch nicht!"

    Katja Gebauer lachte hell auf.

    „Seh’ ich so aus?"

    Dann flog unvermittelt wie alles in ihrem Wesen — ein Schatten von Ernst über ihr schönes, bräunliches Gesicht und sie murrte finster:

    „Ich wollte, ich hätte eine unglückliche Liebe! Dann hätte man doch wenigstens ’was! So hat man gar nichts! Es ist zu langweilig!"

    „Jeden Tag könntest du deinen Vetter Pauluscha heiraten! Oder Maurice Sinai! Den jungen Presnjakoff! Eduard Wollbaum! . ."

    „Mama! die hab’ ich ja alle schon längst heimgeschickt! Das Lager ist ausverkauft!"

    Madame Gebauer unterbrach ihre Aufzählung der grossen Handelshäufer Odessa’s und seufzte:

    „Ich weiss! Und der Sascha ist, leider Gottes, sechs Jahre jünger als du und kommt nicht in Betracht . ."

    „Gib Acht! Ich glaub’, da erscheint er auf der Bildfläche!"

    Die Türe zum Nebenzimmer öffnete sich. In dem sassen rund um den abgedeckten Esstisch die jüngsten Ritterschen Sprösslinge und andere Kinder und taten still und ernst, was alle Frauen und Kinder in Deutschland in diesen Sommertagen taten: Sie zupften Charpie für die Verwundeten. Mitten auf dem Tisch lagen die leinenen Lappen — zertrennte alte Hemden — zerrissene Taschentücher — ausgediente Bettlaken. Aus ihnen zogen die kleinen, mehr oder minder sauberen Finger emsig die einzelnen Fäden und schichteten sie zu hohen, lockeren weissen Haufen. Dazwischen klapperten die Stricknadeln der Frau Professor heftig an einem Liebessocken. An ihr vorbei war Sascha Kersting zur Schwelle gegangen und stand jetzt, die Türe hinter sich schliessend, ohne eine merkliche Freude des Wiedersehens zu heucheln, vor den Odessaer Verwandten.

    „Nun — da seid ihr ja auch einmal!" sagte er wenig liebenswürdig. Er kam nachlässig herangeschlendert, die Hände in den Hosentaschen, und entschloss sich dann doch, die Rechte herauszuholen und sie ziemlich missmutig der Reihenach dem Onkel, der Tante und der Base zu reichen. Er war nicht sehr gross für seine sechzehn Jahre, schmächtig und ebenmässig gewachsen, mit dunklen Augen. Eine Strähne seines braunen wirren Haars hing ihm unordentlich in die Stirn. Es war in seinen halb trotzigen, halb verträumten Gesichtszügen eine unverkennbare Ähnlichkeit mit seiner schönen, um sechs Jahre älteren Cousine Katja — nur dass ihm schon der erste, schwache. Anflug eines Flaums über den spöttisch verzogenen Mundwinkeln dunkelte. Er liess die Hand Katja Gebauers als letzte los, sah sie ernsthaft an, indem er nach seiner Gewohnheit den Kopf heftig in den Nacken warf, und meinte dann prüfend, im Ton eines Frauenkenners:

    „Na — du hast dich ja ganz gut herausgemacht — in den drei Jahren, seit wir uns nicht gesehen haben!"

    „Wenn ich nur dir gefalle!" sagte Katja.

    Er nickte herablassend, in gewaltsam verhehlter Sorge, sich nicht von der grossen Cousine imponieren zu lassen.

    „Doch! du kannst so bleiben! Du bist viel hübscher geworden, als ich dich in der Erinnerung hatte!"

    „Gottseidank! Die junge Dame atmete aus tiefster Brust auf und legte erleichtert die Hand aufs Herz. „Das war meine Todesangst auf der ganzen Auslandsreise, was du zu mir sagen würdest!

    Sascha zuckte nachsichtig die Achseln zu dem Spott. Er wandte sich etwas ironisch den beiden alten Herrschaften zu. Er hob wieder das eigenwillige Kinn. Er hatte einen bald herrischen, bald versonnenen Mund, um den jetzt eine Gereiztheit zuckte. Er forschte ungeduldig.

    „Wie denn, Onkel Ottinka? Pomiluite . . ."

    „Du sollst in Deutschland deutsch sprechen, Sascha!"

    „Karaschô! bestätigte er eigensinnig. „Was macht Ihr denn hier plötzlich? Mitten im Krieg?

    „Ich glaube, es ist unsere Sache, lieber Neffe."

    „Man kann Euch jetzt hier gar nicht brauchen! Man kann jetzt überhaupt keine Ausländer brauchen!"

    „Du bist ja selber einer . . . Bitte . . Wir wollen hier geschäftlich und fachlich reden . . Du bist russischer Staatsangehöriger und, soviel ich wenigstens weiss, liegt Heidelberg nicht in Russland!"

    Sascha Kersting sah den Onkel an. Sein hübsches Gesicht war missmutig. Er zuckte die Achseln und stellte sich, mit dem Rücken gegen die Anwesenden, die Hände wieder in den Hosentaschen, ans Fenster und schwieg verdrossen und schaute hinaus.

    „Sascha . . . . . Du gefällst mir nicht . . ."

    Es kam ein unbestimmter Laut als Antwort, aus dem man entnehmen konnte, dass das gegenseitig sei.

    „Du bist malproper angezogen! tadelte der selbst peinlich korrekte, kleine Kaufherr. „Leider achtet man in Deutschland viel zu wenig auf diese Dinge.

    „Papa . . das soll doch genial sein! erläuterte Katja belustigt und besänftigend, „das darfst du ihm in dem Alter nicht übernehmen!

    Sascha fuhr herum und musterte sie wütend und wortlos. Sein Oheim mäkelte mit hochgezogenen Augenbrauen weiter.

    „Deine Krawatte sitzt schief! Ein Rockknopf fehlt! Wo sind denn, um Gottes willen, deine Manschetten?"

    Der Jüngling drehte sich zu ihm. Er lächelte jetzt auf einmal naiv-liebenswürdig. Er sah dadurch sehr hübsch aus. Es war eine schmeichlerische, weiche Art, sich träumerisch zu geben, wie es die Frauen lieben. Aber es wurde daraus — in der Ungleichmässigkeit seines Wesens — rasch ein spöttisches Mitleid mit dem geistig hinter der Zeit zurückgebliebenen Onkel vor ihm. Er brauste plötzlich leidenschaftlich auf:

    „Es handelt sich jetzt nicht um scheppe Halsbinden, Onkel Ottinka, sondern um das grosse deutsche Vaterland . . ."

    „Da haben wir’s!" sprach Otto Gebauer entsetzt zu seiner Frau.

    „und um die Franzosen zu verwichsen, brauchen wir keine Manschetten! die stören dabei nur . . ."

    „Na — den habt Ihr ja hier gut untergebracht!" sagte Katja gleichmütig zu den Eltern und streichelte den Familienpinscher auf ihrem Arm. Ihr Vater rang nach Luft.

    „Was kümmert dich das deutsche Vaterland?" schrie er Sascha an, in einer Anwandlung von Barschheit, die bei ihm selten war.

    „Soll ich allein in der Ecke stehen, wenn alle an Deutschlands Einheit bauen? Ich hab’ keine Lust, hinter den anderen zurückzustehen!"

    „Worin denn? In einer Sache, die dich gar nichts angeht? Das ist bei dir gar keine Begeisterung für Deutschland! Das ist einfach ein überspanntes und gekränktes, knabenhaftes Selbstgefühl!"

    „Ich bin nicht gewohnt, der Zweite zu sein! Ich bin’s in Odessa nicht! Ich gehör’ dort zu den ersten mit meinem Geld — und in der Klasse hier gehöre ich auch zu den ersten — in den Zeiten wenigstens, wo ich mir Müh geb’ und etwas arbeit’, heisst das . . ."

    ,,Eben! ’mal bist du fleissig, ’mal nicht! Alles an dir ist sprunghaft. Auch dieser kindische Enthusiasmus . . ."

    „Ich bin begeistert für Deutschland! rief Sascha Kersting. Sein Gesicht wurde blass und verklärte sich. Seine Augen wurden gross und leuchteten. Er hob sich feierlich in den Schultern. Er konnte vor Erregung kaum sprechen. „Ich will dabei sein, wenn Deutschland neu ersteht!

    „Lass doch die Redensarten!"

    ,,Redensarten?" Der junge Mann hatte plötzlich wieder sein alltägliches Aussehen. Er schüttelte gottergeben den Kopf.

    „Es lohnt sich nicht, vernünftig mit Euch zu reden! Ein verächtlich-verstecktes, geheimnisvolles Lächeln flimmerte um seine, vom ersten Bartanflug beschatteten Lippen. „Ihr kommt mir ja heute so ungelegen wie nur möglich auf die Bude! Aber vielleicht kommt Ihr gerade deswegen zurecht!

    „Zu was zurecht?"

    Draussen auf der Strasse nahte sich ein betäubendes Geschrei. Sascha trat, ohne zu antworten, interessiert an das Fenster. Ein Haufen Jungen marschierte heran. Ein Halbdutzend von ihnen zog einen Handkarren, auf dem getragene Stiefel, Wäsche, Hosen, Kissen, Pferdedecken lagen. Die anderen liefen nebenher und tobten: Hurrah! Hurrah!

    „Warum kreischt Ihr denn so, Ihr Bube?" rief Sascha hinunter. Er konnte ganz gut pfälzisch.

    „Ha — wir kreische halt . . ."

    ,,Is denn ’was Extra’s bassiert?"

    „Nix! Wir hawwe Liebesgabe geholt . . bei den Bauern, drüwwe in Handschuhsheim . ."

    „Da seht Ihr die Stimmung! Sascha Kersting wandte sich lachend in das Zimmer. „Die Bengel brüllen auf alle Fälle Viktoria! . . . . Erbarmen Sie sich, Frau Professor . . . Was ist denn los?

    Frau Käthchen Ritter war in heller Aufregung vom Flur hereingestürmt und prallte erschrocken zurück.

    „Ah — ich hab’ gedenkt, mein Mann wär’ da . . .,", entschuldigte sie sich. Zugleich trat schon der Schulmann, der ihre Stimme gehört hatte, hinter ihr über die Schwelle. Sie packte ihn am Arm und riss ihn, schluchzend vor mütterlichem Zorn, ans offene Fenster.

    „Da guck’ hinunter, Hermann! da hast deine Tochter! Noch nit mehr wie dreizehn und nit zu regieren! Mit sellem Früchtche sind wir gestraft! Seit dem Mittagessen such’ ich’s Elsche wieder wie ’ne Stecknadel und sind’ sie nit! Und jetzt — da unten — da kummt mei’ Mamsellche mit dene Lausbube anmarschiert!"

    Ihr Mann musste erst seine Brille aufstülpen und blinzelte aus seinen feurigen Braunaugen unsicher auf die tobende Schar. Frau Käthchen weinte hellauf.

    „Der Neckarschleimer da, der am wildesten schreit und springt — das ist das Elsche! Sie hat sich wieder heimlich die Hose vom Karlche angezogen und is als Bub ’naus in die Welt . . . . Siehst sie noch nit, Hermann? der Bub, der wo alleweil im Rinnstein Rad schlägt und mit den Beinerche in der Luft zappelt — das is dei’ Tochter!"

    Der Professor flog beleibt und behende mit flatternden Rockschössen die Treppe hinab. Sascha lächelte amüsiert. Er war hier in der Bürgerfamilie der grosse junge Herr, der die Sache manchmal als Menagerie betrachtete.

    „Das Elsche ist ein Maladjétz! erläuterte er den deutschrussischen Verwandten. „Ein verfluchter, kleiner Taugenichts! Ein fixes Mädel! . . . Da bringt der Papa den Ausreisser!

    Hermann Ritter beförderte seine Tochter erbost am Schlafittich die Treppe hinauf, indem er sie zugleich erzieherisch mit der flachen Linken auf die behoste Kehrseite klapste. Im Wohnzimmer pflanzte er sie hin. Das Elsche stand atemlos da, in ihren Bubenhöschen, dreizehnjährig, lang, mager wie ein Hering. Semmelblond. Eine Stupsnase und zwei lustige, hellbraune Augen in dem hübschen Gesichtchen. Sie stemmte die roten Händchen in die Seite und schaute die Eltern erhitzt und unbefangen, freundlich fragend, an.

    „Der grösste Gassebub’ von Heidelberg! Die Mutter riss ihr erzürnt die Mütze vom Kopf. Ein gerolltes Rattenschwänzchen von Zopf kam zum Vorschein und fiel mit dem zerkauten Ende über die hageren Schultern. „Ich möcht’ nur wissen, wie ich zu der Tochter komm’!

    „Ich war doch nur mit den Buben in Handschuchsheim!" sagte das Elsche weinerlich. Sie hatte eine feine, helle, unschuldige Kinderstimme.

    „In Hose! . . Ja — schämst dich denn gar nit, du Malefizkrott?"

    „Sonst hätte mich doch die Bube nit mitgelasse! ,Kleine Mädche sind Rindviecher;’ — sage sie als! Ich hab’ doch trommele müssen, Mamma! ’s kann’s keiner von den Buben! Vor jedem Haus habe wir so lang getrommelt, bis die Bauern ’was für die Verwundeten hergegebe habe."

    Die Wangen der Kleinen glühten vor Eifer. Der Vater war halb besänftigt.

    „Marsch! Zieh dir jetzt eine Christenkleidung an! sagte er und schob sie zur Tür hinaus. „Entschuldigen nur die Herrschaften die Störung! Komm’, Käthchen!

    Das Ehepaar verschwand. Sascha war wieder mit den Verwandten allein. Er wartete, mit einer müden Ergebung, an die Wand gelehnt und zur Decke starrend, ob die Besucher nicht jetzt auch den Rückzug antreten würden, und frug dann, als seine Hoffnung sich nicht erfüllte, ironisch:

    ,,Na — Onkel! Was macht denn der Frankenkurs?"

    „Sascha — ärgere nicht mutwillig deinen Onkel mit Geschäftsverlusten!" rief Madame Gebauer zürnend.

    „Der Frankenkurs . . . . lieber Neffe . ." Der Kaufherr räusperte sich trocken. „Nun . . Soviel weisst du von Geschäften, dass Nostro-Forderungen auf dem Pariser oder Lyoner Platz zurzeit notleidend sind. Verluste im Geschäftsverkehr mit Frankreich sind im Augenblick unvermeidlich, solange sich nicht das Kriegsglück endgültig auf

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