Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Der flammende Sumpf
Der flammende Sumpf
Der flammende Sumpf
eBook401 Seiten5 Stunden

Der flammende Sumpf

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Spannungsgeladener Thriller aus der Zeit Alexander des DrittenIm Zug nach St. Petersburg trifft Mediziner Axel von Küster auf zwei geheimnisvolle Fürsten, von denen einer eine verkleidete Frau ist. Als Axel die beiden bei der Polizei melden möchte, flüchten sie und stehlen Axels Pass.In St. Petersburg angekommen macht Axel die Bekanntschaft des gefürchteten, zarentreuen Tschurisch, dessen älteste Tochter Ljuba sich von ihm abgewandt hat und seitdem auf der Flucht ist. Axel glaubt, dass sie der verkleidete Fürst aus dem Zug ist und ein Attentat plant, und plötzlich muss er um sein Leben fürchten. Ein Katz- und Maus-Spiel beginnt...-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum14. Okt. 2019
ISBN9788711507315
Der flammende Sumpf

Mehr von Rudolf Stratz lesen

Ähnlich wie Der flammende Sumpf

Ähnliche E-Books

Klassiker für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Der flammende Sumpf

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Der flammende Sumpf - Rudolf Stratz

    www.egmont.com

    I

    Die unheimlichen Abenteuer im einstigen zaristischen Russland, die die nachfolgenden Blätter verzeichnen, sind von dem, der sie in der Ruhe späterer Jahre zu Papier brachte, vor mehr als einem Menschenalter selbst erlebt. Er hat mit eigenen Augen im damaligen Zarenreich den Totentanz der Grossfürsten und Senatoren, der Popen und Tschinowniks, der Petersburger Mondänen und Moskauer Panslawisten gesehen. Er hat, vom Schicksal in die russische Unterwelt verschlagen, mit eigenen Ohren das Grollen der Tiefe unter den Füssen der Tänzer, lange vor dem Ausbruch des Vulkans, vernommen.

    Er war von Beruf kein Mann der Feder. Sein Stil ist vom Herausgeber des Werks, so, wie es sich hier dem Leser vorstellt, geglättet, seine Darstellung geordnet, seine Namengebung geändert. Aber trotzdem bleiben seine Erinnerungen der getreue Spiegel einer einst furchtbaren und einem furchtbaren Schicksal verfallenen, nun lang in Nacht und Nebel verwehten, den Jüngeren unter den jetzt Lebenden schon völlig unbekannten Welt im Osten.

    Und so möge hier folgen, was er niederschrieb.

    Der Berliner D-Zug nach Russland dampft an einem kühlen, windigen Abend zu Anfang September achtzehnhundertneunzig langsam aus dem Bahnhof von Eydtkuhnen. Tausende von weissen Farbenflecken — wandernde russische Stoppelgänse — überschnattern rechts und links von ihm das Rattern der Räder. Noch rollen diese Räder auf deutschen Schienen. Aber nun — ich spähe ungeduldig, der Heimat nahe, in die Dämmerung hinaus — nur noch hundert Fadenlängen bis zum Flüsschen Lepone — nur noch fünfzig. Dumpf donnern die Bohlen der Brücke. Schwarzgelbweiss ragt auf ihr mit doppelköpfigem Reichsadler der russische Grenzpfahl. Dunkelgrün in der Dämmerung, mit umgehängtem Gewehr, leuchten neben ihm die Uniformen des Zaren.

    Lange, finstere Gendarmen gehen durch den Wagen. Sie tragen noch die sommerlichen weissleinenen Schirmmützen und, vom letzten Türkenkrieg her, das Georgskreuz auf der Brust. Sie murmeln mit tiefen Stimmen: „Ihr Pass — belieben Sie!" Ich reiche mit dem Pass in der Hohlhand eine Zehnrubelnote. Der Gendarm lässt sie stumm in seinen Ärmelaufschlag gleiten. Ich werde bei der Passrevision als erster aufgerufen werden.

    Der Zug hält. Wirballen. Alles hinaus. Draussen in der Zollhalle, zum erstenmal wieder, der von Kindheit an vertraute Geruch Russlands — von Holz und Staub und trangeschmierten Stiefeln und Zigaretten und Schafpelzen. Neben dem Schragen, auf dem das Gepäck durchwühlt wird, sitzen an einem Tisch die Tschinowniks und blättern mit plumpen Fingern in den Pässen. Meiner liegt zu oberst. Mein Name klingt beim Aufruf zuerst:

    „Gospodin Küster!"

    Ich nähere mich erfreut und will meinen Pass in Empfang nehmen. Der Beamte hält die Hand darüber und schüttelt abwehrend den Kopf.

    „Belieben Sie, in das Nebenzimmer zu treten!"

    Der kleine, kahle Raum ist nur durch eine qualmende Petroleumlampe erhellt. Hinter ihr sitzt ein kahlköpfiger, schnauzbärtiger Gendarmerieoffizier. Neben ihm ein Schreiber. Noch ein bleicher, apostelbärtiger Kronsbeamter. Im Hintergrund ein Mann in Zivil, der sich nicht rührt und mich blinzelnd und durchdringend mustert. Ich begreife: das ist die Ochrana. Die furchtbare politische Geheimpolizei der dritten Abteilung im Ministerium des Innern. Aber ich habe die Ochrana nicht zu fürchten.

    „Mein Pass ist in Ordnung!" versetzte ich kurz und kühl. Man darf diesen Polizeikreaturen keine Demut zeigen. Sonst werden sie gleich frech.

    Der Gendarmerieoffizier antwortet nicht. Er hält meinen Pass in der Hand und sieht abwechselnd das Papier und dann wieder prüfend mich an, so dass der Agent der Ochrana im Hintergrund es hören und vergleichen kann: „Gestalt: Gross. Schlank. Alter: Sechsundzwanzig Jahre. Haar: Dunkelblond. Augen: Blau. Bart: Kurzer dunkelblonder Schnurrbart. Nase: Gewöhnlich. Mund: Gewöhnlich. Besondere Kennzeichen: Keine. Ein Räuspern. Lauter: „Sie sind der russische Untertan, Doktor der Medizin Axel von Küster, geboren in Petersburg, lutherischen Glaubens, unvermählt . . .

    „Das steht ja alles in meinem Pass!" versetze ich ungeduldig. Ich habe die lange Eisenbahnfahrt von Berlin her hinter mir. Ich bin hundemüde. Ich will nur rasch am Büfett soupieren und dann in den russischen Zug und schlafen . . .

    „Wir müssen noch mehr wissen! Ihr Vater . . ."

    „Mein Vater, erwidere ich scharf und gemessen, „ist der Professor der Medizin Daniel von Küster in Petersburg, Exzellenz, mit dem Rang eines Wirklichen Staatsrats, Hofarzt seiner Kaiserlichen Hoheit des Grossfürsten Oleg Igorowitsch . . .

    Eine höfliche Handbewegung des glatzköpfigen Gendarmeriehauptmanns unterbricht mich.

    „Gut! Gut! Und Ihre Frau Mutter?"

    „Wenn Sie auch das interessiert: Katharina mit Vornamen. Tochter des verstorbenen lutherischen Pastors Casparson in Dorpat! Sind wir zu Ende?"

    „Einen Augenblick noch, Gospodin Küster! Sie wuchsen in Petersburg auf?"

    „Ich besuchte dort das Allexander-Lyzeum, dann die Kaiserliche Universität in Moskau und die neurussische Universität in Odessa und machte vor zwei Jahren mein medizinisches Staatsexamen in Dorpat!"

    „Die beiden letzten Jahre — ein Blick in den Pass — „hielten Sie sich im Ausland auf?

    „Mein Vater stammt ja selbst aus dem Ausland. Er kam als junger Arzt aus Deutschland nach Petersburg!"

    „Doch gehört Seine Exzellenz seit dreissig Jahren dem russischen Untertanenverband an! Wie Sie schon durch Ihre Geburt!"

    „Sollte mich das hinder, in den beiden letzten Jahren in Wein, Zürich, Strassburg und Kiel meine medizinischen Kenntnisse zu vervollständigen? Westliche Bildung tut uns wahrhaftig in Russland not!"

    „Gedenken Sie sich von jetzt ab wieder dauernd in Russland aufzuhalten?"

    „ich werde meinem Vater künftig in seiner Praxis behilflich sein, die, wie Sie vielleicht wissen, die höchsten Sphärend er Petersburger Gesellschaft umfasst!"

    „Og — wer kennt Exzellenz Küster nicht? mischte sich jetzt hüstelnd der zweite bärtige Tschinownik in das Verhör. „Auch mich hat er einmal, als ich unvorsichtig Newawasser getrunken hatte, im Alexanderhospital vom Typhus gerettet!

    Ich ziehe gereizt die Augenbrauen hoch.

    „Warum werde gerade ich, sein Sohn, allein hier dieser Vernehmung unterzogen?"

    „Wie denn: allein? Der bleiche Kronsbeamte geleitet mich zur Tür und öffnet sie. „Belieben Sie: da draussen stehen in langer Reihe alle Reisenden, die mit Ihnen kamen, und warten. Es sind russische Fürsten darunter, wie dort die beiden jungen Leute am Fenster — der mit der Lammfellmütze und sein Bruder in Gymnasiastenuniform. Man macht keine Ausnahme. Jeder wird, seit gestern, einzeln vorgenommen un geprüft!

    „Was ist denn wieder passiert?"

    „. . . damit Sie Seine Exzellenz aufklären können . . . Sein Missfallen wäre uns peinlich — wir haben durch unseren höchsten Vertrauensmann — nun — Sie kennen den Namen des Generals Seliwerstow in Paris — wir haben von dort sichere Nachricht, dass in diesen Tagen einige der gefährlichsten staatsfeindlichen Elemente vom Ausland her versuchen werden, die russische Grenze zu überschreiten. Und die Anschläge dieser Gottlosen — die Worte aus dem warren Vollbart drüben sind nur noch ein nervöser und heiserer Hauch — „richten sich umnittelbar gegen die geheiligte Person des Selbstherrschers!

    „Wo befindet sich der Imperator jetzt?"

    „In Gatschine!"

    Ich sehe den Zar Allexander den Dritten vor mir — den finsteren, vollbärtigen, breitschultrigen, gekrönten Muschik, in seinem Riesenschloss, inmitten weiter, ummauertet Parkwälder, von einem fünffachen Gürtel von Garden, Gendarmen, Geheimpolizisten, Tscherkessen, Palastwachen umgeben.

    „Dort ist seine Majestät gut behütet!" sage ich.

    „Wie aber, wenn der Zar Ende nächsten Monats zum Herbstaufenthalt nach der Krim fährt — zweitausend Werst von Petersburg bis Livadia durch das ganze europäische Russland? Die Bösewichte, die ihn bedrohen, müssen vor dieser Reise unschädlich gemacht werden!"

    „Hoffentlich schon heute oder morgen!"

    „Alle Grenzstationen — Wirballen — Alexandrowo — Podwolotschiska — sin dim Zustand verstärkten Schutzes. Wir werden unsere Pflicht erfüllen! Möge uns nur die russische Gesellschaft dabei helfen! Das ist das Furchtbare, dass sie nur zu oft die, die wir verfolgen, gerade in ihrer Mitte birgt! Nun: mit Gott!"

    Der bleiche Kronsbeamte gibt mir meinen Pass zurück. Ich verstaue das kostbare Dokument sorgfältig in einem Geheimfach meiner Brieftasche. Ein Händedruck mit den Tschinowniks. Für den Mann von der Ochrana in der Ecke habe ich längst, als politisch unverdächtig, jedes Interesse verloren. Ich stecke die Brieftasche in das Innenfutter meines Rocks und gehe hinüber zum Büfett. Ich nehme stehend schnell einen Imbiss. Ich trete auf die Holzplanken des Bahnsteigs hinaus. Es ist nun schon Nacht. Ich gähne. Ich schlenere den wartenden russischen Zug entlang. Er ruht, geräumiger und bequemer, auf breiteren Schienen, als die Bahnen des Westens. Aber ich frage missmutig den Träger, e rim Wagen erster Klasse mein Gepäck vor Stationsdieben bewacht:

    „Hast du denn kein Abteil für mich allein besorgt?"

    „Wie konnte ich? Der Zug ist überfüllt! Aber Euer Gnaden haben ja die ganze eine Seite für sich!"

    Der Arteltschik sprach wahr. Meine beiden Coupégefährten hatten sich auf die andere Hälfte des Abteils beschränkt. Ich erkannte in ihnen die beiden jungen russischen Fürsten, die mir vorhin der bleiche, apostelbärtige Tschinownik durch die Tür des Passraumes in der Reihe der Reisenden gezeigt hatte. Der jüngere der Brüder lag lang ausgestreckt, das Gesicht gegen die Wand, auf der Polsterbank, einen Plaid halb über der dunkelgrünen, russischen Gymnasiastenuniform, wie man sie im Sommer auch im Ausland, unter russischen Familien in deutschen Bädern, häufig sah. Der junge Mensch schlief bereits fest den gesunden Schlaf seiner, nach den Umrissen seiner Gestalt zu urteilen, sechzehn oder achtzehn Jahre. Der andere, ältere, zu Anfanf der Zwanzig, sass noch aufrecht am Fenster. Er gate unter der Lammfellmütze ein backenknochiges, echt slawisches Gesicht mit schwachem, schwärzlichem Schnurrbart und kaute an seinen Nägeln. Diese Nägel waren Schwarz. Ein Fürst? Warum nicht? Es gibt allerhand russische Fürsten. Auch tief in den öftlichen Gouvernements. Nicht alle unter den Tausenden sind gewohnt, im Englischen Klub in Petersburg zu soupieren . . .

    Die Bahnhofglocke bimmelt aufgeregt, kurzatmig zum drittenmal. Wir fahren los. In die Nacht hinein. Nach Russland hinein . . .

    Ich lasse mich auf meiner Seite des Abteils häuslich nieder und sage dabei zu dem nägelknabbernden Knjäs am Fenster:

    „Es tut mir leid, Ihnen beschwerlich zu fallen! Aber es gab keinen anderen Platz!"

    „Oh — das macht nichts! Man wird sich schon einrichten!" erwidert er in einem reinen markigen Moskauer Russisch. Dann Verstummt er wieder und schaut in das Dunkel hinaus. Sein Gesichtsausdruck ist stumpf. Ziemlich ausdruckslos. Er seufzt. Fährt sich mit der Hand über die Augen. Packt die Beine des schlafenden Gymnasiasten und rückt sie etwas gegen die Wand.

    „Mache Platz, Kolja!" sagt er kurz und verstaut seine Beine zu denen des Bruders auf der frei gewordenen Längshälfte der Bank. Kolja lässt es schlaftrunken geschehen. Er kuschelt seinen Schwarzkopf, von dem man nur das kurze im Nacken sieht, in die Polsterrolle und schlummert weiter. Die beiden Brüder liegen einander gegenüber, eng beisammen, der ältere mit dem Kopfende am Fenster, der Gymnasiast gegen den Seitengang des Wagens. Der Zug rollt langsam, gleichmässig, fast geräuschlos dahin. Er kennt nicht die Hast des Westens. Das dumpfe Singen der Räder, die pechschwarze Finsternis vor den Scheiben, das leise Geflacker der Wachskerzen, die unser Abteil nur matt erhellen — alles lullt ein und ladet zum Schlaf. Ich überzeuge mich noch einmal, mit dem gewohnten russischen Griff, dass ich alles bei mir habe: Uhr — Brieftasche — Pass — Geld. Dann werfe ich die Zigarette weg und mich selber der Länge nach auf die Bank. Nun merke ich erst recht, wie müde ich bin. In wenigen Minuten bin ich so tief im Land der Träume, wie die beiden jungen Knjäse drüben.

    Mitten in der nacht wache ich plötzlich auf. Ich weiss nicht warum. Ich weiss in meiner Schlaftrunkenheit im efsten Augenblick überhaupt nicht, wo ich mich befinde. Dann wird es mir aus dem Dröhnen der Achse unter mir klar. Ich bin noch halb benommen. Ich liege, ohne mich zu rühren, und blinzle nur verschlafen durch die noch fast geschlossenen Lider. Dabei bemerke ich, dass der junge, dunkelgrüne Gymnasiast mir gegenüber auch wach ist. Sein Bruder schnarcht schwer. Er aber sitzt aufrecht in seiner Ecke. Man sieht jetzt sein Antlitz. Es ist klein und weiss und mager. Ein feingeschnittenes, etwas herbes Jungengesicht, blass von der Reise, mit verstrubelten, kurzen, schwarzen Haaren über der niederen Stirne, einem schmalen zähen Mund und einem weichen Kinn über dem steifen Lyzeistenkragen. Den hat der junge Fürst aufgehakt und ebenso die oberen Knöpfe seiner Uniform geöffnet. Er kramt unter ihr suchend mit der Han auf seiner Brust. Wahrscheinlich vergewissert er sich, dass da sein Lederbeutel mit Geld und Pass richtig an Ort und Stelle über dem Bild des Namensheiligen baumelt. Jetzt wendet er sich, um besser zu sehen, mit tiefgesenktem Kopf dem schwachen Licht der Wachskerze zu, das von der Decke zittert. Sein grüner, weiss gefütterter Uniformrock klafft dabei halb aufgeklappt. Ich beobachte es gleichgültig, geistesabwesend. Ich halte die Lider absichtlich bis auf einen schmalen Spalt geschlossen, um nicht ganz wach zu werden, sondern, sobald dieser Koljinka rüben mit seinem Gewirtschafte fertig ist, gleich wieder einzuschlafen. Und dabeu durchzuckt es mich plötzlich vom Scheitel bis in die Fussspitze . . .

    Wie gesagt: der Uniformrock des Gymnasiasten steht offen. Man sieht ein Stück des weissen, rotgesticken Leinenhemds über seiner Brust. Und diese Brust, unter diesem Hemd, wölbt sich ganz deutlich in einem Busenansatz — jetzt, bei einer Seitenbewegung des jungen Knjäs gar nicht mehr zu verkennen: Es ist die Brust einer jungen Frau.

    Gleich darauf knöpft der Schüler seinen Rock des Zaren wieder zu. Er wirft einen raschen, forschenden, misstrauischen Blick zu mir hinüber, ob ich auch schlafe? Dieser Blick der glänzenden, schwarzen Augen ist unheimlich. Er ist starr und zugleich unruhig-beweglich. Es sind die fanatischen und leidenden Augen eines erwachsenen Menschen, der schon viel erlebt und gewollt und erlitten hat. Gleich darauf glättet sich der gespannte Ausdruck des kleinen, weissen Gesichts, das zu bleich und hager ist, um, trotz seiner Jugend, eigentlich hübsch zu sein. Der grüne Gymnasiast ist überzeugt, dass ich schlafe. Er nestelt seinen letzten obersten Knopf zu und streckt sich beruhigt wieder, das Antlitz gegen die Wand, zum Schlummer hin.

    Und ich lasse ihn in dem Glauben und liege mit geschlossenen Augen wach und sammle meine Gedanken . . .

    Und mach emir klar: Hier im Abteil, mit mir zusammen, fährt der Tod. Der Tod, der den Zaren, wenn er nicht durch die Postenketten von Gatschina zu ihm dringt, um so sicherer in wenigen Wochen auf der Fahrt nach der Krim umschatten wird. Der Tod, der, mit den gefälschten Pässen zweier junger russischer Fürsten, durch die engen Maschen des Grenzverhörs von Wirballen geschlüpft ist. Dort und an allen Eingangspforten des Russenreiches lauert jetzt noch die Geheimpolizei des Zaren auf die vom Ausland her gemeldeten Verschwörer. Gebt euch keine Mühe: die Mörder sind jetzt schon mitten im heiligen Russland! Da, auf der Bank mir gegenüber, liegen sie friedlich und schlafen . . . Oder ist es doch eine übertriebene Angst von mir? Ich klammere mich, während ich ausgestreckt ruhe und scheinbar auch schlafe, in meiner Verwirrung an diesen Gedanken. Nein: mit falschen Pässen, mit Verkleidungen in Männertracht spielt man in Russland nicht! Es ist, wenn es entdeckt wird, unter allen Umständen der Weg nach Sibirien! Es ist zu gefährlich! Das weiss jeder. Und darum ist da Gefahr für Russland. Höchste Gefahr.

    Und meine Pflicht ist es, sie abzuwenden! Auch das stelle ich bei mir im stillen schweratmend fest! Ich überlege: Was ist zu tun? Vorläufig fahren wir. Die beiden falschen Fürsten, der Schwarznägelige und der Gymnasiast, können nicht aus dem Zug in die Dunkelheit hinaus springen. Man hat Zeit. Ich kann aufstehen und die Korridore entlanggehen und die Zugbeamten im Gepäckwagen wecken. Aber was vermögen diese paar armen, waffenlosen Schaffner gegen zwei zu allem entschlossene Verbrecher, die wahrscheinlich apfelgrosse Sprengbomben in ihren Hosentaschen mit sich führen? Und der Wärter unseres Wagens gar ist ein stumpfer Greis. Ich sah ihn vorhin schon mit offenem, zahnlosem neben dem grossen Kupfersamowar unter dem Kreuz des Heilands schlummern. Nein: es war entschieden besser, bis zu einer der seltenen Haltestellen an einem grösseren Ort zu warten. Dort — dessen konnte man in Russland sicher sein — gab es auf dem Bahnhof bei Tag und Nacht schwerbewaffnete energische Gendarmen. Und, wie um mich aller Zweifel zu entheben, verlangsamte der Zug seine Fahrt durch die Nacht. Hielt. Lichter tauchten auf. Lange Holzschuppen. In grossen russischen Lettern leuchtet der Name der Station: Pskow. Oder Pleskau, wie es noch ein Jahr zuvor hiess.

    Draussen hallen, da und dort durcheinander, schwere Tritte auf dem hölzeren Boden. Ich recke mich verschlafen. Ich zünde mir eine Papyros an. Ich schlendere langsam auf den Gang hinaus. Meine beiden Abteilgefährten schlummern und merken von nichts. Ich trete auf den Bahnsteig. Reisende tummeln sich da mit Kissen un Betttüchern. Gepäckträger. Ein paar übernächtige Beamte. Aber keine Gendarmen. Ich gehe suchend nach vorn, den Zug entlang. Da ist er schon zu Ende. Da starren schon die Stapel von Feuerungsholzscheiten auf dem Tender im nächtlichen Funkenleuchten der Lokomotive. Ich kehre um und höre zugleich von einer laut schallenden, fragenden Stimme über den Bahnsteig hin meinen Namen:

    „Gospodin Küster!"

    „Hier Doktor von Küster!" antworte ich und spähe zugleich weiter nach der unsichtbaren Gendarmerie. Ein höherer Stations-Tschinownik läuft aufgeregt auf mich zu. Er schwenkt ein Blatt in der Hand:

    „Hier ist eine Eisenbahndepesche, an Gospodin Küster, im Schnellzug Wirballen—Petersburg!"

    „Gut! Geben Sie!" Ich will weiter. Dort, ganz hinten, gerade am anderen Ende des Zuges, sehe ich endlich die weissen Leinenröcke und Pluderhosen der Gendarmen. Der Beamte tritt mir in den Weg. Er stottert vor Ehrerbietung:

    „Eine Kronsdepesche aus Gatschina, Euer Wohlgeboren! Aufgegeben in der Kanzlei des Hofministeriums . . ."

    Also eine Nachricht von Papa! Papa wird oft zu ärztlichen Konsultationen hinaus nach Gatschina berufen. Irgendein Ehrenfräulein hat den Schnupfen oder ein Hofmeister die Gicht. Deswegen erledigt Papa seine Drahtung an mich aus den Mauern des Schlosses von Gatschina. Das ist nichts Besonderes . . .

    „Belieben Sie einen Augenblick zu warten!" sage ich zu dem Gehilfen des Stationschefs. Ich sehe jetzt: die Gendarmen schreiten den Zug entlang, von Wagen zu Wagen. Ich laufe auf meinen Wagen zu. Als ich dort ankomme, stehen die Gendarmen gerade in meinem Abteil.

    Das Abteil ist leer.

    Einfach leer. Die beiden Knjäse sinf verschwunden. Der Zugführer mit den rotsilbernen Achselschnüren neben den Gendarmen deutet auf mich:

    „Dies ist der Barin, der mit in dem Abteil sass!"

    Ein finsterer Blick des einen Gendarmen prüft mich.

    „Wer war mit Ihnen in diesem Abteil?"

    „Zwei junge Leute. Ein Älterer mit einem Jüngeren in kaiserlicher Gymnasiastenuniform!"

    „Waren die beiden noch hier, als der Zug in Pskow einfuhr?"

    „Ja."

    „Wohin sind sie geraten?"

    „Ich weiss es nicht. Ich trat auf den Bahnsteig hinaus."

    „Warum? Mitten in der Nacht?" Das Misstrauen in der Stimme des Gendarmen wächt. Es klingt darin: du hast wohl da draussen Wache gestanden, während die beiden entschlüpften?

    „Ich hörte meinen Namen rufen! Man wollte mir eine eilige Kronsdepesche übergeben!" versetzte ich gleichgültig. Und neben mir der Stationsgehilfe, zitternd vor Diensteifrigkeit und Untertänigkeit.

    „Eine Depesche aus der Kaiserlichen Hofkanzlei an Seine Wohlgeboren!"

    Der Gendarm nimmt das Blatt. Er liest:

    „Ich bin in Gatschina. Steige dort aus, damit ich Dich sobald wie möglich wieder in der Heimat umarme. Ich erwarte Dich auf dem Bahnhof. Dein treuer Vater."

    „Nun — und was für ein Vater ist das?" Die Stimme des Gendarmen wird unsicher und milder. Der Tschinownik berichtet flüsternd:

    „Exzellenz von Küster. Hofarzt seiner Kaiserlichen Hoheit des Grossfürsten Oleg."

    Der Gendarm legt ehrerbietig die Hand an den breiten Mützenschirm, während er mir das Telegramm zurückgibt. Er fragt gedämpft und respektvoll:

    „Haben Euer Wohlgeboren mit den beiden Mitreisenden gesprochen?"

    „Nur beim Einsteigen mit dem Älteren ein paar gleichgültige Worte wegen unserer Plätze."

    „Kannten Sie diese Leute?"

    Das ist die entscheidende Frage. Mich durchzuckt die erste instinktive Regung des russischen Untertanen: Nur nichts mit Gendarmerie und Polizei zu tun zu haben! In das Protokoll geschrieben ist der eigene Name leicht. Aber durch wieviel absichtlich unnütze, zeitraubende Verhöre werden nachher die Bestechungsgelder von einem erpresst, damit der Name endlich wieder aus den Akten verschwindet! Wenn ich hätte helfen können — gewiss! Ich hatte ja die beste Absicht, das unheimliche Paar dem Arm der Obrigkeit zu überantworten. Ich war auf dem Wege. Aber nun sind sie fort. Was nutzt es jetzt, wenn ich sage: „Der Gymnasiast war ein Mädchen!" Das wissen die Gendarmen vor mir ohnedies wahrscheinlich schon ganz genau. Ich mache mich damit nur ohne Not verdächtig, als wüsste ich noch mehr. Bestenfalls komme ich in die Geheime Überwachungsliste der dritten Abteilung und habe noch nach Jahren Scherereien und Hinderniffe, ohne dass ich weiss, woher — gerade ich — ein junger Mann mit besten Beziehungen, der in Petersburg Karriere machen will! Ich entschliesse mich, die Wahrheit zu sagen und doch nicht ganz die Wahrheit:

    „Wie sollte ich die beiden kennen? versetzte ich. „Ich habe sie bisher niemals in meinem Leben gesehen. Ich hörte nur in Wirballen durch den örtlichen Passrevisor, es seien zwei aus dem Ausland heimkehrende junge Knjäse!

    Der Gendarm nickt nur trübe. „Die Zwei haben leider Gottes das Grenz-Examen als Fürsten bestanden. Irgendwie mussten sie also in der hohen Welt Russlands Bescheid wissen. Wenigstens der bleiche, brünette Gymnasiast. Der andere, mit den schwarzen Nägeln, sah freilich einem Popensohn ähnlicher als einem Nachkommen Ruriks."

    „Die beiden müssen durch das offene Fenster nach der Rangierseite hinausgeklettert sein!" murmelt der Oberkonduktor mit den rot-silbernen Tressen.

    Unwillkürlich blicken wir alle nach den Rangiergeleisen und in die Nacht hinaus. Es ist draussen so dunkel, dass man kaum die Umrisse der nächsten, da stehenden, mit Holz beladenen Güterwagen erkennt. Man sieht nichts von Pskow, nichts von seinem Kreml und der Pleskauer Kathedrale in seiner Mitte. Diese pechschwarze Finsternis hat die gefährlichen Eindringlinge verschluckt. Jetzt sind sie irgendwo in der grossen Weite, in der Nacht über Russland.

    Der Gendarm grüsst mich schweigend und dienstlichstramm und geht resigniert mit den anderen weiter. Sie stöbern wohl noch planlos im Zug herum, ob sich die zwei da irgendwo versteckt halten. Aber darauf ist wenig Hoffnung. Da stapfen die Gendarmen auch schon alle kopfschüttelnd in ihren schweren Kniestiefeln auf den Bahnhof hinaus. Die Glocke läutet. Wir fahren.

    Nun habe ich das ganze Abteil für mich. Aber ich sitze unruhig aufrecht. Die Geschichte hat mich aufgeregt. Ich ärgere mich hinterher: Warum, zum Teufel, musste ich plötzlich aufwachen und diesen verwünschten Gymnasiasten bei seinem Tun beobachten? Ich habe doch sonst einen Schlaf wie ein Bär an Christi Erscheinungstag. Was hat mich eigentlich geweckt? Hätte ich, nach meiner gewohnten Art, durchgeschlummert, so wüsste ich jetzt von gar nichts, und mein Gewissen wäre völlig rein . . .

    Immerhin gut, dass man aus der Sache wieder heraus ist! Es ist schliesslich nicht meine Aufgabe, die Verbrecher zu fangen! Wozu hat der Selbstherrscher seinen Polizeiminister, seinen Stadthauptmann, seine Ochrana? Der Gedanke beuhigt mich. Die Lider fallen mir zu. Ich schlafe schliesslich doch wieder fest ein.

    Als ich die Augen aufschlage, ist es schon heller Tag. Draussen gleitet langsam unter stahlblauem Herbsthimmel Russland vorüber. Endlos das weisse Gewimmel der Birkenstämme mit den letzten bunten Laub. Strohgedecke Bauernhütten. Die grünen Hols-Zwiebeln der Dorfkirchen. Ich zünde mir eine Zigarette an und überlege mir, ob ich die Ereignisse dieser Nacht nur geträumt habe. Nein! Den Eltern werde ich sie berichten. Sonst keiner Menschenseele. Ich schue gedankenlos auf die Uhe, schnelle empor, greife hastig nach meinem Gepäck. Herrgott: wir sind ja gleich in Gatschina!

    Da fahren wir schon ein. Halten. Ich will hinaus. Ein Blick durch das Fenster: Über den ganzen Bahnsteig hin steht längs des Zug seine Reihe schweigender Gendarmen mit umgeschnalltem, Revolver. Von irgendwo her schallt eine befehlende Stimme:

    „Alle Reisenden sitzen bleiben! Niemand darf den Zug verlassen!"

    Und neben mir sagt ein Schaffner draussen zu einem Stationsarbeiter, der die Räder mit einem Hammer beklopft und wahrscheinlich auch ein verkleideter Spitzel ist: „Es waren heute nacht politische Verbrecher im Zug. Sie entkamen. Man will, ehe der Zug Petersburg erreicht, untersuchen, ob sich nicht in ihm vielleicht noch Mitschuldige befinden. Alle Koffer werden durchsucht. Alle Pässe geprüft."

    Zum Glück fangen sie wenigstens mit den Wagen erster Klasse an! Mehrere Menschen treten in mein Abteil, Leute in Uniform und Zivil. Sie durchstöbern Stück für Stück mein Handgepäck. Dann wendet sich der eine, ein Kerl mit vielen Finnen in seinem käsigen Gesicht, an mich:

    „Bitte Ihren Pass!"

    Ich habe den Pass in einer unterirdischen Seitenklappe meiner Brieftasche verwahrt. Die Brieftasche steckt immer in meinem Rock. Ich hole sie heraus. Ich öffne sie. Ich greise in den Iuchtenlederschlitz, in dem mein Pass, mein getreuer Reisebegleiter im Ausland, seit zwei Jahren, ruht. Ich ziehe die Hand leer zurück. Ich fasse noch einmal in das Geheimfach der Tasche. Ich fingere hastig ihre dünnen ledernen Wände ab. Da ist nichts. Ein Blick hinein überzeugt mich . . .

    Dabei weiss ich ganz genau: Ich habe den Pass, den mir der Grenz-Tschinownik in Wirballen nach beendetem Verhör zurückgab, in die Brieftasche gesteckt. Die Brieftasche ist noch da. Ihr Inhalt — Korrespondenzen, Visitenkarten, Fahrschein, selbst ein dickes Bündel regenbogenfarbiger Hundertrubelnoten — ist völlig unversehrt. Nur der Pass — der Pass fehlt . . .

    Vielleicht habe ich ihn doch in eine andere Klappe der Tasche getan? Ich stöbere alles durch. Nein! Meine Aufregung wächst. Der finnige Geheimpolizist steht stumpfsinnig da. Hinter ihm die Gendarmen. Es regt sich nichts auf ihren schnurrbärtigen Zügen. Gegen einen Barin, der in der ersten Klasse reist, ist man rücksichtsvoll. Sie warten. Sie wissen: Ich muss ja meinen Pass besitzen! Wie wäre ich denne sonst über die Grenze gekommen?

    Habe ich das verwünschte Papier am Ende in der Zerstreutheit irgendwo andershin in meinen Anzug gesteckt? Ich weiss: es ist aussichtslos! Es ist nur, um Zeit zu gewinnen. Um zu überlegen. Ich krabbele lächelnd in jedem Behältnis herum, das im Ausland der deutsche Schneider mir in Rock und Hose und Weste angebracht. Und dabei durchzuckt mich schreckhaft die Lösung des Rätsels . . .

    Ein Erinnerungsbild der Erkenntnis steigt vor mir auf: Da sitzt wieder, mitten in der Nacht, wie ich plötzlich aufwache, mie gegenüber der bleiche, schwarzhaarige Gymnasiast. Er hat seine dunkelgrüne Uniform aufgeknöpft. Er birgt etwas auf seiner Brust — der gerundeten Brust einer Frau. Jetzt weiss ich, was dies Etwas ist. Der grüne Gymnasiast hat mir im Schlaf meinen Pass gestohlen und die Brieftasche wieder in meinen Rock zurückgeschoben. Mit dieser letzten Bewegung hat er mich, ohne dass er es merkt, aus meinem bleiernen Schlaf geweckt. Daher seine misstrauischen Blicke zu mir hinüber. Dann, als ich mich nicht rege, seine wiederkehrende Ruhe. Seine Berechnung: Wenn ich, während des Rests der Fahrt nach Petersburg, nur die Brieftasche an ihrem gewohnten Platz finde und in ihr Fahrkarte und Reisegeld — nach dem Pass in dem Geheimfach werde ich unterwegs nicht mehr sehen! Den Pass braucht man, wenn man einmal die russische Grenze hinter sich hat, ja erst wieder bei der Ankunft in Petersburg zur Ablieferung an den Viertelsmeister und die Stadthauptmannskanzlei.

    Was nun? Ich bin völlig verdonnert. Ich starre leer zum offenen Abteilfenster hinaus, um meine Gedanken zu sammeln. Vor dem Fenster klirren Sporen. Der örtliche Polizeichef, ein schlanker, schnurrbärtiger, junger Mann, geht schnell die Reihen der Gendarmen entlang. Ich kenne ihn, von Estland her. Er ist ein Balte. Er ist, durch ein Scheffel Erbsen, mit der Frau meines dortigen Onkels, des Pastors Casparson, einer geborenen Baronesse Donstätten, verwandt. Ich rufe ihn lachend auf deutsch an. Ich spiele den unbefangenen, jungen Weltmann.

    „Graf Rittmannshausen! . . . Graf Rittmannshausen! . . . Erbarmen Sie sich meiner!"

    Er bleibt stehen und reicht mir zum Abteilfenster herein die Hand.

    „Sieh da: Herr von Küster! Endlich aus dem Ausland zurück!"

    „Aber vorläufig hier im Zug als Staatsgefangener! Ich möchte so gern hier heraus! Mein Vater, den ich seit zwei Jahren nicht gesehen habe, erwartet mich!"

    „Ich sah jetzt eben dort hinten Seine Exzellenz! Er sucht nach Ihnen! Bitte steigen Sie nur aus!"

    Ein kurzer Blick des örtlichen Polizeichefs zu seinen Leuten im Abteil, der besagt: „Für diesen Herrn stehe ich ein!" Die Gendarmen und die dunklen Ehrenmänner neben ihnen begreifen. Sie sind wie ausgewechselt. Sie reichen selbst mein Gepäck aus dem Fenster dem Träger draussen. Ich trete hinaus. Ich drücke dem Grafen Rittmannshausen dankend die Hand. Ich eile den Bahnsteig entlang und liege in den Armen meines Vaters.

    II

    Papa küsst mich zur Begrüssung stürmisch auf beide Backen. Papa ist, vor undenklichen Zeiten, vor bald vier Jahrzehnten, aus Deutschland, wo es ihm zu eng war, nach Russland gekommen, und auch ich bin durch seine baltische Heirat rein deutschen Geblüts. Wir, die Eltern und ich, sprechen auch zu Hause untereinander nur deutsch. Aber jetzt, in der Freude, seinen einzigen Sprössling wiederzusehen, bricht bei Papa der alte Petersburger durch. Ein Schmatz nach Russenbrauch rechts. Ein Schmatz links. Sprechen kann Papa vor Rührung nicht. Auch ich nicht. Ich sehe Papa an. Er hat sich gar nicht verändert in den zwei Jahren meines Aufenthalts im Ausland. Immer noch die hohe, schlanke, biegsame Gestalt, trotz seiner Ende der Fünfzig, immer noch die geschmeidigen, fast lautlosen Bewegungen, die mehr an einen Höfling als an einen Professor der Medizin erinnern. Sein Haar über der hohen Stirn ist immer noch dicht und dunkelbraun, die ungewöhnlich grossen, klugen, grauen Augen sind immer noch brillenfrei. Auf seinem glattrasierten Diplomatengesicht mit der langen, geraden

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1