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eBook350 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

Spannender Roman über Liebe und Leben in Zeiten NapoleonsOstpreußen, 1807. Die verwitwete Fürstin Eliza von Preunsheim ist bei Kaiser Napoleon in Ungnade gefallen und befindet sich unter falschem Namen auf der Flucht. An der Weichsel trifft sie auf Juel Wesselink, einen einfachen preußischen Meldereiter. Bei sich trägt Wesselink ein Schreiben Kaiser Friedrich Wilhelms III, das den Friedensbeschluss zwischen Napoleon und Zar Alexander boykottieren soll. Als Wesselink von den Polen geschnappt wird, droht auch Eliza enttarnt zu werden. Ein spannender Wettlauf mit der Zeit beginnt...-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum14. Okt. 2019
ISBN9788711507285
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    Buchvorschau

    Eliza - Rudolf Stratz

    www.egmont.com

    1

    Auf dem wasserpolackischen Marktplatz spritzte der Dreck unter dem Galopp eines Gauls. Die roten Röcke der flüchtenden Weiber flogen. Die Schafpelze der Bauern strudelten untertänig zur Seite. So rücksichtslos ritt nur ein grosser Herr.

    Der fremde Herr hatte den obersten roten Riesenkragen seines blauen Reitfrackes trotz der Julihitze des Jahres 1807 hinten hoch geklappt und den schwarzlackierten Zylinderhut tief in das bartlose, scharfkantige Gesicht gedrückt. Er presste mit der Jugendkraft eines angehenden Dreissigers die langen, in gelben Hirschlederhosen steckenden Beine um die fliegenden Flanken seines Rappen und zügelte das keuchende Tier in dem Gewirr vor der Grossherzoglich-Warschauschen Posthalterei. Dort feilschten zwischen den Koffern und Kutschen die schwarzen Kaftanjuden und die himmelblauen, schwarzbordierten Postknechte des Rheinbunds um einige lebensmüde Pferdeskelette — zurückgebliebene Heerespferde fern von da oben, vom Njemen, wo eben der grosse europäische Krieg vergrollte. Der Reiter stieg steifbeinig aus dem Bügel. Er gab dem ersten Rosskamm, der ihm nicht auswich, einen Rippenstoss und trocknete sich mit dem umgedrehten Handschuhstulp den Schweiss unter dem blonden Stirnhaar. Das Blau seiner Augen stach herrisch.

    „Der Posthalter? „Herr — der Herr Posthalter schlafen! „Um acht Uhr morgens? . . „Herr . . um zwei Uhr nachts war er noch betrunken . . . Nein . . . Herr . . . der Herr Posthalter feuert aus dem Bett mit seiner Pistole, wenn man ihn vor Mittag stört! Eine Treppe hoch, gleich rechts im Flur, ist seine Schlafkammer . . .

    Die Tür flog auf. Der fremde Reiter stand auf der Schwelle. Drüben in der Ecke dämmerte das Himmelbett. Quietschend schlüpfte etwas unter die Decke. Daneben hob sich ein eisgrauer Schnauzbart in einem roten Vollmond von Gesicht grimmig aus den Pfühlen.

    „Ist er verrückt . . Er Kujon . . .? In mein eheliches Schlafgemach . . ."

    „Lasse der Herr Seine Hausehre ruhig unter der Couverture und sein Pistol unterm Kopfkissen. Springe der Herr im Hemd aus dem Bett! Die Weltgeschichte ruft!"

    „Ist er besoffen?"

    „Halte der Herr den Gang der Historie nicht mit seinem Pistolengefuchtel auf — bei Napoleons Zorn! donnerte der Fremde. „Wer ich bin? Er griff unter die drei roten Klappen seines blauen Redingote und holte ein Pergament mit baumelndem Wappensiegel heraus. „Wir sind hier im neugegründeten Grossherzogtum Warschau, unter der Herrschaft Seiner Majestät König Friedrich August des Ersten von Sachsen!"

    „Das braucht Er mir, einem alten sächsischen Rittmeister von Niesemeuschel-Dragonern, nicht erst zu melden!"

    „Gut denn! So schnarche der Herr Rittmeister nicht länger, sondern handle als sächsischer Patriot! Hier mein Dresdener Pass, ausgestellt vom Etranger-Departement des Geheimen Kabinetts, durch den Hof- und Justitienrat, für mich, den Geheimen Referendarius und Déchiffreur Schierwasser, attachiert für geheimste Aufträge an die Person des Monsieur Mehée de la Touche!"

    Der Posthalter sprang aus dem Bett und rannte im Hemd nach dem Schrank. Dem Pass zu Ehren zog er seine alte sächsische Soldatenuniform an. Er fuhr in die langen, grauen Hosen mit roten Streifen.

    „Was steht dem Herrn Geheimen Referendarius zu Diensten?" keuchte er.

    „Wissen Sie, wer Monsieur de la Touche ist?"

    Der Posthalter schlüpfte soeben in den Feuerroten Frack und stülpte sich vor dem Spiegel den schwarzen Tschako mit weisser Stossfeder auf den verschwiemelten Graukopf.

    „Ein Posthalter des Rheinbunds soll Monsieur de la Touche nicht kennen — die rechte Hand des Fürsten Talleyrand in Paris!" sprach er atemlos, vor Dienstfertigkeit zitternd.

    „Wissen Sie, wieviele Spione Herr de Talleyrand in Deutschland unterhält?"

    „Zwanzigtausend — mein Herr —, man spricht von zwanzigtausend!"

    „Nur zehntausend weniger, als sein Widersacher — der Polizeipräfekt Fouché und dessen Geheimagent, dieser unfähige Desmarets! Nun gut — wir sind diesen Herren zuvorgekommen! Wir sind auf den Fährten eines Menschen, der, als Werkzeug verbrecherischer Mächte, mit wichtigsten hochverräterischen Papieren unterwegs ist — Papieren, die, an ihren Bestimmungsort gelangt, Europa von neuem in seinen Grundfesten erschüttern! Mehr darf ich Ihnen nicht verraten!"

    „Es genügt!" Der Posthalter schnallte sich klirrend den Säbel um und warf den langen, weissen Reitermantel kriegerisch um die Schultern.

    „Soeben ist, oben in Tilsit, der Kaiser der Franzosen damit beschäftigt, der von ihm beherrschten Welt den Frieden wiederzugeben. Die Gnade Napoleons ist dem sicher, der diesen Sendboten der Feinde des Friedens abfängt!"

    „Wo ist der Kerl?"

    „Er ist vor Thorn nach Osten abgebogen, um fern vom Kriegsgetümmel auf einsamen Wegen die Weichsel zu erreichen. Es glückte mir, indem ich meinen Gaul zu schanden ritt, ihm einen Vorsprung abzugewinnen. In wenigen Minuten müssen er und seine Begleiter hier im Städtchen einpassieren!"

    „Da . ." Der alte Niesemeuschelsche Dragoner zückte den zitterigen Zeigefinger durch das Vorderfenster des Eckzimmers gegen ein Dreigespann von Bauerngäulchen, die in wildem Weidegalopp vom Stadttor her einen Reisewagen die Gasse hinab zum Marktplatz rissen. Die Räder tanzten in den Strassenlöchern, der Polack auf dem Bock peitschte die polnischen Katzen, der Herr innen in der offenen Berline kauerte lauernd wie ein Kater vor dem Sprung, den dicken, bartlosen Kopf bis zur Hutkrempe in die sturmflatternden Kragen seines zimmetbraunen, polnischen Wetterrocks geduckt. Aus dem bleichen, schwammigen Gesicht schnellten die tiefliegenden Schattenaugen zwei unheimliche Blicke der Sturmfahrt voraus nach der Posthalterei.

    „Das ist er! Der Fremde guckte seelenruhig über die Schulter des Rittmeisters. „Die Kerle auf dem Vordersitz sind sein Dolmetscher und sein Wegweiser. Gleich werden sie hier halten und frische Pferde verlangen. Benutze der Herr die Gelegenheit und packe er den Hochverräter unversehens von rückwärts! Es ist ein verzweifelter Patron und bis an die Zähne bewaffnet! Da fahren sie schon vor, als sei der Teufel hinter ihnen . .! In die Bataille, mein Herr Rittmeister! Viel Glück zum Orden der Ehrenlegion!

    „Der Kaiser der Franzosen, gnädiger Herr, soll mit mir alter Kriegsgurgel zufrieden sein! Der dicke Dragoner stolperte säbelrasselnd und sporenklirrend, mit wehendem weissen Mantel, die krachende Treppe hinab. Er liess die Tür hinter sich offen. Aber der fremde Reiter folgte ihm nicht, sondern schlüpfte mit drei Katzensprüngen fast lautlos zum Hinterfenster und beugte sich hinaus. In dem kleinen Hof unten stand ein blanker Gaul angebunden neben dem Feuergeflacker der Hufschmiede der Posthalterei. Eben schmiss der verrusste Schmied das rauchend-rote Eisen achtlos auf den Amboss und rannte durch den Torweg auf den Markt hinaus. Dort zeterte eine wutzitternde Stimme in französischen Fisteltönen. Polnische Flüche lachten dazwischen. Das befriedigte Sächsisch des Rittmeisters: „Haben wir dich, mei’ Kutester! und zu den Postknechten: „Sperrt die Ganalljen alle drei in den Holzkeller! Ihr werdet was erläben vom Naboleon, ihr Lulatsche!"

    Im Schlafzimmer oben bewegte sich etwas neugierig unter der Decke. Der Geheime Referendarius wandte sich vom Hoffenster ab und machte eine Höfliche Verbeugung gegen die unsichtbare Posthalterin.

    „Ich beurlaube mich, schönste Frau! sprach er. Verzeihen Sie dero gehorsamsten Diener, dass er im Dienst des Mars die Venus in Nacht und Dunkel zwang! Nun ist Madame aus ihrem Prison erlöst! Mille fois merci — und mein Kompliment an Ihren glücklichen Eheherrn!

    Es kicherte leise unter der Bettdecke. Dann wurde alles still. Nach einer Weile frug eine halblaute, helle Stimme unsicher aus der Tiefe der Pfühle: „Sind Sie auch wirklich fort? Keine Antwort. „Mein Herr . . . ob Sie fort sind . . .? Nichts. Ein ganz schmaler Spalt der Decke öffnete sich. Zwei kirschschwarze Augen blinzelten lichtgeblendet durch die eheliche Schlafstube. Sie war leer. Ein hübscher Schwarzkopf im Nachthäubchen tauchte auf. Die junge Posthalterin krabbelte aus den Federbetten und warf hastig die immer noch offene Tür ins Schloss. Durch diese Tür konnte der Étranger de distinction sich nicht empfohlen haben! Die wurmstichige Treppe hätte unter seinem Tritt gekracht. Blieb nur das Hoffenster! . . . Ein Stockwerk hoch! Im Hemd huschte die Frau Rittmeister die Wand entlang, lugte seitlich hinter der Gardine in die Tiefe . . . Da unten stand der Herr aus Dresden, wie ein Nachtdieb die Dachkandel hinabgerutscht, legte einen Haufen harter Maria-Theresientaler auf den Amboss, löste die Wassertrense des verlassenen Gauls, schwang sich auf dessen blanken Rücken und ritt, mit nur drei Eisen an den Hufen, still im Schritt durch das Hintergässchen davon.

    Die Posthalterin fuhr sich mit der Hand über die Augen, ob sie nicht träume. Sie warf sich in das Nötigste: eine hochgegürtete Matinée aus indischem Perkal, in graue, mit Glasperlen gestickte Pantöffelchen, den Kaschmirschal um die Schultern, einen Iphigenienschleier über den Kopf — es dauerte doch fünf Minuten, bis sie atemlos unten auf dem Markt vor ihrem Mann in der Julisonne stand und rief:

    „Kaspar — mir schwant, du hast eine Bêtise begangen! Der Herr Geheime Referendarius ist zu Pferd ohne Sattel und Bügel echappiert!"

    Unten hinter dem Gitterfenster des halb unterirdischen Holzkellers knirschte das verzerrte, schwammige Antlitz des Herrn im polnischen Wettermantel in verzweifeltem Französisch zu dem Rittmeister hinauf:

    „Da hinten reitet die Weltgeschichte und reitet uns davon! Sie hatten die Weltgeschichte in der Hand! Sie brauchten den Sendboten Wiens nur zu verhaften . ."

    „Ei — mein bestes Härrchen — das hab’ ich ja . ."

    „. . und lassen ihn weiter . . . nach Tilsit . . . mit den Briefen für Preussen! Er jagt wie ein Wahnsinniger Tag und Nacht! Endlich hatten wir ihn hier in Polen beinahe eingeholt! Von Thorn bis Warschau ist alles längs der Weichsel alarmiert, um ihn abzufangen . . Und dieser Mensch, den hunderte suchen, steht vor Ihnen . . ."

    „Nee — er sitzt da unten — im Cachot — mein Bester!"

    „Napoleon steht in Tilsit im Begriff, mit Russland Frieden zu schliessen und in diesem Frieden Preussen zu vernichten. In diesem letzten, entscheidenden Augenblick haben in Wien Erzherzog Karl und die Kriegspartei gesiegt! Der Mensch, der dort reitet, trägt die Rettung Preussens in seiner Tasche. Er trägt den Brief mit sich, der die Abreise des Kaiserlich-Königlichen Generals von Stutterheim von Wien nach Tilsit mit dem Bündnisangebot Österreichs an Preussen anmeldet! Erreicht er Tilsit vor Unterzeichnung des Friedens, dann lodert ganz Europa von neuem gegen Napoleon auf, weil ein Postmeister in der Wasserpolackei in seiner übermenschlichen Einfalt . ."

    „Er hat mir seinen Pass gewiesen!"

    „Der Pass war falsch! Man hat diesen verwegenen Botenreiter mit genug falschen Pässen in Wien ausgestattet! Er hat, dank Ihrer idiotischen Leichtgläubigkeit, mein Herr, mich, seinen Verfolger, statt seiner durch Sie verhaften lassen! Wissen Sie, mein Herr, wer ich bin? Kennen Sie den Polizeiminister Fouché? Kennen Sie seinen furchtbaren Geheimagenten, Monsieur Desmarets?"

    „Lenchen — halte mich! stöhnte der dickbäuchige, rote Dragoner im weissen Mantel zu seiner Frau. „Mir klappen die Knie . .

    „. . . Monsieur Desmarets’ oberster Vertrauter und Bevollmächtigter in Deutschland aber bin ich — François Bienassis! . . Hier meine Ausweise — mit dem Pariser Geheimstempel des Kaiserreichs!. . Hätten Sie diese Papiere geprüft, statt sich blind wie ein wütiger Bulle auf mich zu stürzen . . ."

    „Was haltet ihr hier Maulaffen feil, ihr Lümmel! Der Posthalter schubste verzweifelt die herumstehenden Postknechte. „Geleitet Seine Gnaden aus dem Holzkeller! Bürstet ihn ab! Bringt ihm einen Stuhl . . . Ein Glas Wein . . .

    „Verzeihen Sie ihm! Er ist ein alter Esel! Ich weiss es schon lange! Ich darf es nur nicht sagen!" schrie die Posthalterin.

    „Was hilft es? Das Unglück ist geschehen! Der gedunsene, schlaffe Monsieur Bienassis liess sich erschöpft im Freien nieder. „Dieser Glücksbote für Preussen hat einen neuen Vorsprung gewonnen. Wenn wir ihn nicht heute noch vor der Weichsel erreichen, ändert sich in wenigen Tagen das Antlitz der Welt.

    „Haben Sie ihn, Monsieur Bienassis?" Ein Sarmate mit langwehendem Schnurrbart sprengte auf einem feurigen Halbblut über den Marktplatz heran. Er trug die dunkelgrüne Offizier-Ulanka der neugeschaffenen polnischen Lanciers. Die Reiter hinter ihm sassen auf keuchenden Dorfkleppern, verbauerte Schlachzizen in Lammfellmützen und umgedrehten Schafpelzen, geschliffene Sensen und Holzäxte als Waffen im Gürtel.

    „Nein — Graf Grodcicki, sprach dumpf der bleiche Mann auf dem Stuhl, „da dieser Dümmste der Dummen hier mich statt des Hochverräters in einen stinkigen Keller schloss . .

    „Wollen Sie in die Bagnos von Cherbourg? zischte der polnische Graf in leisem Französisch, über den Pferdehals zu dem Posthalter hinabgebeugt. „Zieht es Sie nach Cayenne, Rittmeister, dass Sie sich an einem Bienassis vergreifen? . .

    „Ich kannte ihn doch nicht . ."

    „Bienassis? Man kennt ihn seit zwanzig Jahren, als er noch Abbé war unter Ludwig dem Sechzehnten — Jakobiner während der Schreckenszeit — rechtzeitig auf Seite des Generals Bonaparte . . . Napoleon wird Sie zerschmettern . ."

    „Lenchen — halte mich . ."

    „. . . wenn uns durch Sie dieser Fang entgeht! Wo ist der Preusse hin?"

    „Im Galopp die Landstrasse lang, auf die Weichselwälder zu! Die Postillons meldeten es durcheinander auf polnisch. „Er reitet auf blankem Pferd. Das Pferd ist alt. Es hat nur drei Eisen . .

    „Dann kriegen wir ihn! Der schnurrbärtige Sarmatengraf riss seinen Rappen auf den Hinterhufen herum. „Vorwärts! Quer durch den See! Der Preusse weiss nicht, dass der See nur flach ist! Er reitet um das Ufer herum! Wir fangen ihn drüben ab wie einen gehetzten Hasen!

    Die Gäule plantschten bis an die Bäuche im spritzenden Dreckwasser. Die Polen hockten mit hochgezogenen Knien. Der Ulan führte sie, im Modder versinkend, sich mit Sporenstichen und Peitschenhieben herausrappelnd, heiser zu dem Bauernrudel in Schmierstiefeln und Schafpelzen hinter ihm zurückschreiend:

    „Er hat das Bündnisangebot Österreichs an Preussen in der Tasche seines Spenzers! Er rettet Preussen — dies furchtbare Preussen, wenn er Tilsit erreicht . . So ist’s recht, Bruder! Beiss’ deinem Klepper in die Ohren, wenn er nicht weiter will. Gleich sind, wir an Land! Durch! Durch!" Der Graf zwängte mit Zungenschnalz die Brust seines Pferdes in die krachende, zweimannhohe Schilfwildnis des Sumpfufers hinein, arbeitete sich durch die rauschenden Dschungeln, riss draussen im fliegenden Sprung über den Landstrassengraben blitzschnell die Pistole aus dem Halfter . . .

    Hell zwitscherte ein Vöglein am Ohr des Reiters in blauen Redingote und gelben Lederhosen, der kaum dreissig Schritte vor dem Lancier auf blankem Gaul durch die klatschenden Pfützen stob. Weiter — weiter . . Die Kugeln, die singen, treffen nicht mehr . . Da . . wieder ein Knall dahinten . . fast vorher schon ein schmatzender Klatsch . . . Ein wilder Satz des Gauls . . . Der Preusse bückte sich im Galoppieren, fasste mit der Rechten an die Pferdeflanke, zog den nassen Handteller blutrot gefärbt zurück. Lang lief sein Ross nicht mehr mit dem Schuss in die Weiche . . . Er lugte über die Schulter nach hinten. Der Pole lud im Reiten, die Zügel zwischen den Zähnen, von neuem die Pistole. Er musste dabei den Galopp etwas verkürzen. Er verlor Boden. Er bekam den blauen Reitfrack mit flatterndem roten Kragen am Waldsaum aus dem Gesicht . . . Er fegte, jetzt wieder in vollem Rosseslauf, die schussfertige Waffe in der Rechten, um die Wegbiegung, prallte beinahe an eine da langsam in derselben Richtung knarrende Halbkutsche mit hinten aufgeschnalltem Koffer, zwei Bauernpferde mit hängenden Dickschädeln davor, ein steinalter Polacke mit schlaffen Zügeln auf dem Bock. Ein Blick im Vorbeisprengen unter das halboffene Verdeck: Zwei Frauenzimmer da drinnen . . . Der grüne Lancier riss seinen Gaul in Schritt . . . Er frug atemlos auf französisch: „Haben die Demoiselles einen Reiter gesehen?"

    Die Schutenhüte im Innern bewegten sich bejahend. Eine kleine Hand deutete nach vorn. Eine sanfte Stimme erwiderte in tadellosem Französisch:

    „Und was für einen Reiter, mein Kapitän! Einen englischen Kunstreiter ohne Sattel und Bügel!"

    „Einen Hochverräter, Madame! Einen Verschwörer gegen den Kaiser der Franzosen und dessen hohe Verbündete!" Der Graf Grodcicki rief es schon im Davonjagen. Er stob den schmalen, geschlängelten Waldweg zwischen undurchdringlichem Erlengestrüpp dahin, glitt plötzlich beinahe über den Hals des Pferdes, so jäh stieg sein scheuender Rappe . . . In einer Blutlache, seitlings im Graben, lag da tot, die Hufe abenteuerlich gen Himmel reckend, der sattellose Gaul. Sein Reiter war verschwunden. Das Erlendickicht stand rechts und links weithin wie eine grüne Mauer. Sumpfspiegel brüteten im Wurzelgewirr unter seinem verfilzten Geäst. Es war unmöglich, hier eine Menschenspur zu verfolgen . . .

    Aber ein hinterhältiger Schuss aus diesem Urwald heraus war möglich. Der Pole schaute sich unbehaglich um. Er kaute die Enden seines langen Schnurrbarts und trabte dann den Weg zurück, den auf ihren Ackergäulen hinter ihm gebliebenen Schlachzizen entgegen.

    Da, um die Kutsche herum, die er vorhin gesehen, hielt die Schlachta. Der schnauzbärtige Pan Thaddäus Tyszka musterte stirnrunzelnd die Reisepapiere der beiden Demoisellen. Er trug noch aus dem Vorjahre, da Warschau preussisch gewesen, den verschmutzten, weissverschnürten, scharlachroten Dolman und die langen, blutfarbenen Pluderhosen des Regiments Towarczysz, der preussischen Bosniaken, aber auf dem Kopf statt der Bärenmütze die nagelneue, polnische Czapka mit der rotweissen Nationalkokarde. Er riss erschrocken die wässerigen Augen auf.

    „Graf, wo ist der Preusse?"

    „Zu Fuss in den Wald entwischt! Aber er entgeht uns nicht. Wir reiten ihm nach dem Weichselufer voraus. Wir besetzen die Fährstellen! Er muss uns in den Rachen laufen! Vorwärts! Was vertrödelt ihr hier mit den Weibern die Zeit! Spioninnen — was?"

    „Nichts Gefährliches, Graf! Zwei kleine Putzmamsells mit ordnungsgemässen französischen Pässen des Präfekten des Departements Mainz nach Danzig unterwegs! Die Zierliche, Mittelgrosse rechts die Demoiselle Bettina Dullenkopf, dreiundzwanzig Jahre alt — die Dralle, Grössere links die Demoiselle Märtchen Zipfler — zwanzigjährig. Beide protestantisch und ledig!"

    Der Graf Grodcicki blickte in das Innere des wackeligen Hauderer-Fuhrwerks. Die beiden Putzmacherinnen waren hübsch und jung — die Demoiselle Dullenkopf dunkelbraun, mit einem zarten, schmalen, lebhaften Gesicht, die Demoiselle Zipfler flachsblond, pausbäckig, mit vergnügten wasserblauen Äuglein. Die Braune, Lebendige, hatte sich über ihrem breitkragigen, hochgeschlossenen weissen Empirefähnchen und dem fussfreien, blauen Tuchrock zum Schutz gegen die Stechmücken in eine Wiltschura, einen polnischen Pelzmantel, gewickelt. Sie hob das dunkeläugige Köpfchen unter dem weissen Schutenhut mit schwarzer Schleife seelenvoll zu dem Polen empor.

    „Spioninnen, mein Kapitän? Nein! Meine Freundin und ich sind als geborene Mainzerinnen von Herkunft Deutsche. Aber seitdem es kein deutsches Kaiserreich mehr gibt und die Franzosen die Rheinlande besetzt halten, sind wir Bürgerinnen Frankreichs und gehorsame Subjekte und Verehrerinnen Napoleons des Grossen!"

    „Warum verehren die Demoisellen den Kaiser nicht am Rhein, statt sich hier . . .?"

    „Wir ernährten uns in Mainz von unserer Handfertigkeit im Damenputz. Nachdem aber nunmehr das polnische Reich wieder errichtet und Danzig durch Napoleon den Grossen zu dessen Freistaat erklärt wird, trieb uns die Hoffnung auf günstigeren Erwerb dorthin auf Reisen, wo französische Sprachkenntnisse seltener sind als in Mainz!"

    „Was Sie sagen, ist richtig, Demoiselle. Es gibt kein deutsches Kaiserreich mehr. Die Franzosen stehen am Rhein. Polen ist auferstanden. Danzig Freistaat. Dies alles wissen wir in diesem glorreichen Jahr 1807. Aber es erklärt mir nicht, warum Ihre Reise nach Danzig Sie so weit nach Osten, bis hinter Thorn, verschlägt!"

    „Mein Gott — von Posen ab nordwärts sind alle Wege durch die Kanonen zu Brei zerfahren, aller Hafer von den Heeresintendanten requiriert, mein Kapitän! sagte die kleine Putzmamsell sanft. „Es gibt dort kein Stück Brot mehr im Lande. Die Truppen haben alles verzehrt. Wir mussten also ausbiegen, wenn wir überhaupt weiterkommen wollten! . . Dürfen wir unsere Reise fortsetzen?

    „Meinetwegen bis zum Grosstürken, Demoiselle! Vorwärts! Zur Weichselfähre!"

    Das Trappeln der Hufe verhalte fern, dumpf, im Schweigen des Waldes. Einsam hauderte die Halbkutsche dahin, im Schritt, schwankend und knarrend, über die mit Feldsteinen ausgefüllten Löcher, die mit Fichtenknüppeln überbrückten Moraste der polnischen Landstrasse. Aus dem Graben daneben spreizten sich vier starre Pferdebeine windschief zum heissen Hundstagshimmel. Schwärme von Fliegen umsummten den halb in gelben Dotterdolden und blauem Vergissmeinnicht des Moorgrunds versunkenen Kadaver.

    „Da liegt das Pferd von dem Kujon! Schad’, dass er’s nit selber ist, Märtche!" sagte die Braune, Zarte — die Demoiselle Bettinche — hitzig in Mainzer Mundart.

    „Verdient hätt’ er’s! nickte heftig die semmelblonde Putzmamsell neben ihr. „Sich gegen den Napoleon mausig mache! . . Ja — du liebe Zeit! Der Napoleon ist doch nit e Mensch — der ist doch das Schicksal selber! Unser Herrgott wird schon wisse, was er mit dem grossen Mann als noch vorhat! Wenn wir nur weiter käme! . . Das ist e Gezoddel und Gezoddel . .

    Immer langsam voran — in Gerumpel und Gehumpel — Schritt für Schritt . . Die Demoiselle Dullenkopf sass ungeduldig aufrecht. Ihre Kleinen, weissen, zartgepflegten Hände spielten nervös mit dem als antike Blechurne geformten, lackierten Ridicüle auf ihrem Schoss. Sie fächelte sich mit ihrem batistdünnen Fazzettel Kühlung. Sie schüttelte die kleinen Ohren wider die Stechmücken. Sie wippte mit den breiten Bandschleifen auf den schmalen Halbschuhchen. Sie tat einen tiefen Stossseufzer.

    „Wir sind recht einfältige Gäns’, dass wir unsere lange Röck nit daheim gelasse habe, Märtche! sagte sie. „Wenn ich wieder ’mal in die Welt hinaus muss, dann mach’ ich’s wie viele Dame auf Reisen und lauf’ in Männerkleidern! Dann wär’ ich jetzt schon an der Weichsel! . . Jetzt guck’ nur das wasserpolackische Kroppzeug an, das uns da entgegekarriolt! Was die Schote auf ihre Wägelche mit den Händ’ fuchtele und kreische!

    Die dralle Blonde klopfte ein wenig ängstlich dem alten Kutscher auf die Schulter und führte fragend mit der Hand eine unsichtbare Schnapsflasche zum Mund. Der Greis grinste nach den vorbeirasselnden Bauern. Betrunken? Nein! Er wies nach vorn. Er muschelte zahnlos irgend etwas Gottergebenes in sich hinein.

    „Verstehst du den alten Simpel, Märtche? frug das Fräulein Bettinche. „Ich hör’ als nur was von Janowka!

    „Janowka!" nickte der Alte vielsagend.

    „Janowka!" schrie zornmütig der Letzte der davonfahrenden Bauern zurück.

    „Was ist denn das für e schlimm’ Mädche — die Janowka — vor der sich all die Mannsbilder bekreuzige? Die feine, kleine Demoiselle Dullenkopf lachte über das ganze, zartgeschnittene, grossäugige Gesicht. Sie klatschte in die Hände. „Allong! Ich bin selber e Frauenzimmer! Ich fürcht’ mich vor eurer Janowka nit!

    „Gott sei Dank! Da hat der Wald e End’! schrie die Märtche. „Da sieht man Wasser zwischen den Bäumen . . .

    „Hurra! Die Weichsel!"

    „. . und dort noch mehr Wasser . . und da erst . . überall . . ja — du — so viel Wasser gibt’s ja gar nit . ."

    „Da ist ja der Rhein ein Rinnstein dagege! Das Bettinche Dullenkopf stand langsam, ungläubig auf. Der Wagen hielt auf einer Lichtung vor dem Fährhaus. Der Hauderer drehte sich um und deutete auf die flutende Weite. „Janowka, wiederholte er fast feierlich. Und jetzt begriffen die beiden Mainzer Modistinnen, dass er damit das alljährliche Johannishochwasser der Weichsel meinte.

    Die Weichsel war kein Strom mehr, sondern ein mächtiger, lehmgelber, reissender, schnell dahinschiessender See. Ein Fussgänger hätte eine Viertelstunde gebraucht, um das kaum sichtbare, niedrige, jenseitige Föhrenufer zu erreichen. Was sonst dazwischen lag — das Inselgewirr — die Sandbänke — war alles überschwemmt. Nur die Kronen von Erlenwäldern wogten da und dort mitten im Wellenschwall aus den schäumenden Wirbeln und Strudeln. Aufgeblähte, tote Ochsen, Binsendächer, Heuschober trieben auf der Flut. Ein aufrechtstehender Eichbaum schaukelte auf der losgerissenen Insel seines Wurzelgeästs der Ostsee zu. Das rastlose Wandern der Wassermassen erfüllte den weiten Raum zwischen Himmel und Erde mit einem eintönigen dumpfen Donner.

    Vor dem Fährhaus stauten sich ausgespannte Kutschen und Panjewägelchen, grasten abgeschirrte Pferde, standen in Haufen die festgehaltenen Reisenden um den Fergen. Der Riesenkerl trug, in seltsamem Gegensatz, einen ganz kleinen, verschmitzt-schnurrbärtigen, einäugigen Kopf auf seinen Cyklopenschultern. Er verbeugte sich geschmeidig und untertänig vor den beiden Demoisellen. Er konnte nur polnisch.

    „Er sagt: jetzt Weichsel — nix wie tot! dolmetschte mühsam Mendel Zeisig, der gelöckelte Handelsjude im Kaftan neben ihm. Und der polnische Kaplan, der reverendissimus dominus Joannes Batycki murmelte in lateinischem Bass: „Taceat mulier!

    „Die Demoisellen sitzen nicht allein hier fest! brummte der hochgräfliche Wiesenvogt und Veteran Starzewski im schlechten Französisch der Grossen Armee, und der Warschauer Sakristan und Oratorienheizer Sobotka schüttelte gegen die Damen den Graukopf und meinte auf polnisch: „Wir sitzen hier alle in der Arche Noah und warten auf die Taube mit dem Ölzweig.

    Die Demoiselle Dullenkopf war mit ihrer Freundin beiseite getreten. Ihr schmales, hübsches Gesicht war verstört und bleich. Sie ballte die kleinen Fäuste. Sie biss die Lippen zusammen und starrte feindselig auf die gelb gurgelnde Sintflut.

    „Gott im Himmel . . ich darf doch keine Zeit verlieren . . Für mich hängt doch alles davon ab, Märtche! sagte sie leise und hochdeutsch. „Sobald in Tilsit der Friede unterzeichnet ist, reist er doch in einem Ruck nach Paris. Er gründet unterwegs noch das neue grosse Königreich in Kassel. Die Könige von Portugal und Toscana muss er auch noch absetzen. Vor Ende des Jahres will er noch die Türkei teilen. Vielleicht landet er vorher noch in England! Ich krieg’ ihn in Europa nicht mehr zu fassen. Und ich muss doch Napoleon sprechen . .

    „. . freilich . ."

    „. . ich muss . . und ihm sagen . . . Was hast du, Märtchen?"

    „Da . . das ist der Mann im blauen Redingote, der vorhin an uns vorbeigeritte ist . . ., dem sein Pferd dort hinte tot im Grabe liegt . ."

    „. . von dem der Ulan uns zugeschrien hat, er sei ein Hochverräter und ein Feind Napoleons . .?"

    „Der ist zu Fuss durch den Wald hierher . . da kommt er heran . . . Er geht auf den Fährmann zu . ."

    „Er kann polnisch . . Sie reden miteinander . ."

    „Er zeigt auf den Fluss! . . Aber der Polack will nit! Partout nit!"

    „Er drängt ihn . . der verbrecherische Mensch . . . Er kriegt ihn an der Brust zu fassen . . . Er spricht wild auf ihn ein! Schau nur sein leidenschaftliches

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