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Panik in Odessa
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eBook245 Seiten3 Stunden

Panik in Odessa

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Über dieses E-Book

Voll sind die langen Züge zwischen Kiew und Odessa. Unterwegs ist das Heer des Zaren – der Nachschub für den Türkenkrieg auf dem Balkan und an der Donau. In einer Nacht im Herbst 1887 sind an einen der langen Transportzüge auch Wagen für Zivilreisende angehängt. Unter den Passagieren herrscht Aufregung: Eine junge Frau wird im Abteil eines reichen Kaufmanns überrascht, der offensichtlich ermordet wurde. Für die Mitreisenden der ersten Klasse, General Schischko und Fürst Duchowski, ist der Fall mit der Verhaftung geklärt. Dass alle Papiere des Toten verschwunden sind, scheint nebensächlich. Doch in Odessa ermittelt der Deutsche Paul vom Winde im Auftrag der Krone weiter. Schon lange ist er auf der Spur der dubiosen Kriegslieferantenfirma des Toten Ruben und seiner Kompagnons Wainstein und Chammeles. Gerade ist wieder eine Lieferung Schlachtvieh für die Truppen des Zaren verschwunden. Als Paul sich auch noch auf die Suche nach dem ominösen roten Buch von Ruben macht, das unter den verschwundenen Papieren war, bricht in Odessas Geheimkabinetten Panik aus. Hat nicht jeder Geschäfte mit Ruben, Wainstein und Co gemacht? Trotz der Warnung der klugen Generalstochter Nadeschda Schischko lässt Paul nicht locker. Aber im zaristischen Russland gehen die Uhren anders ...-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum19. Aug. 2019
ISBN9788711507407
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    Buchvorschau

    Panik in Odessa - Rudolf Stratz

    www.egmont.com

    1

    Űber die südrussische Steppe brüllte der Regensturm. Sie lag baumlos, flach wie die Hand, in dunkler Nacht. Nur etwas wie unsichtbare, riesige Schlangen mit reihenweisen lichthellen Schuppen glitt alle paar Stunden eilig durch die Finsternis. Das waren die Eisenbahnzüge voll Truppen. Sie keuchten. Sie sprühten Funken. Sie schleppten in diesem Herbst 1877 immer neuen Nachschub für den grossen feurigen Ofen, für den Türkenkrieg auf dem Balkan und an der Donau. Generale und Soldaten, Pferde und Kanonen, Ärzte und Popen fuhren hier zwischen Kiew und Odessa dem fernen Land voll Blut und Wunden entgegen. So ging das schon seit vielen Monaten. Der Schnee des Schipkapasses, der Schützengrabenschlamm der Plewnakuppe frass die Heere des Zaren.

    An einen der langen Transportzüge waren hinten ein paar Wagen für die wenigen Zivilreisenden angehängt. Der Wagen erster Klasse war gross und bequem. Stearinkerzen erhellten flackernd den breiten Seitengang, längs dessen sich die verschlossenen Türen der einzelnen Abteile reihten. Dazwischen glühte in einer Ausbuchtung der riesige eiserne Heizofen. Ein schnurrbärtiger, grünröckiger russischer Gendarm stand zwischen ihm und der Wand verborgen. Ein zweiter schlich lautlos auf den Spitzen seiner Schaftstiefel über den Gang heran und schob sich neben ihn in das heisse Versteck. Ein Flüstern durch das Rattern der Räder.

    „Ist Goldhändchen wirklich im Zug?"

    „Antoschka hat sie gesehen! Sie hat sich auf der letzten Station in der allgemeinen Unordnung hier in das leere Abteil am Ende des Wagens eingeschlichen. Dort sitzt sie wie eine Ratte im Dunklen!"

    „Sie hat etwas im Wagen vor!"

    „Sie wird gleich zum Vorschein kommen!"

    „Diesmal kriegen wir hoffentlich endlich diese Feindin Gottes!"

    „Still! Da ist sie!"

    Die letzte Tür am Ende des Wagens öffnete sich ganz langsamm und vorsichtig. Der Kopf einer jungen Frau spähte durch den Spalt. Über dem scharf gebogenen Näschen musterten zwei unstäte, stechend schwarze Augen misstrauisch den leeren Gang.

    „Goldhändchen kommt heraus!"

    „Da steht sie!"

    Kaum mittelgross. Schmächtig die Gestalt unter dem dunklen Mantel. Ein dunkles Kopftuch über dem schmalen, gelblichen jugendhübschen Gesicht. Zusammengepresst der kleine rote Mund, den die vorgeschobene Unterlippe etwas Lauerndes gab. Die Fremde ging vorsichtig mit einem geschmeidigen Gleiten in den Hüften längs den Türen hin. Blieb vor einer stehen. Sah sich noch einmal scheu nach vorn und hinten um. Die beiden Gendarmen hinter dem Ofen beobachteten die junge Jüdin. Ihr Gemurmel verklang im Rollen des Zuges.

    „Wer ist in dem Abteil da drinnen?"

    „Irgendein reicher Kaufmann. Er hat sich Bettzeug mit hineingebracht und schläft!"

    „Jetzt klinkt sie leise auf . . ."

    „Schiebt sich wie ein Schatten hinein!"

    „Warte nur, Goldhändchen! Du wirst keine Reisenden mehr bestehlen und ermorden!"

    „Zähle noch bis zwanzig, damit wir sie auf frischer Tat ertappen! Jetzt mit Gott!"

    „Stoss die Tür auf!"

    Ein Schreckensschrei innen. Das Abteil war hell. Auf dem breiten Polster lag ein graubärtiger Reisender in tiefem Schlaf, unter sich wie daheim im Bett ein weissleinenes Kopfkissen, über sich eine weisse Steppdecke. Er hatte aus Furcht vor Dieben seinen kostbaren Otterpelz nicht abgelegt. Aus dessen Kragenausschnitt am Hals, unter dem Patriarchenbart, riss in dem Augenblick, als die Gendarmen sie packten, die junge Frauensperson ihre magere kleine Hand. Sie wand sich wie ein Aal in den Fäusten der Gendarmen. Ein tiefer Bass lachte.

    „Zappele nur, du Sünderin! Bald wirst du noch höher am Strick zappeln! Man schickt euch nicht mehr nach Sibirien! Wir haben Kriegsgelege! Verstärkten Schutz! Begreifst du, mein Seelchen?"

    „Und schreie nicht! Du weckst die Reisenden!"

    „Wie, schreie ich denn? Die junge Frau warf trotzig den schmalen Kopf ins Genick. Sie fuhr sich glättend mit der Hand über den glänzend schwarzen Mittelscheitel, von dem das Tuch gerutscht war, und über die hinten mit einer feuerroten Schleife aufgesteckten schwarzen Zöpfe und blickte den beiden Gendarmen herausfordernd ins Gesicht. „Belieben Sie, mir zu sagen, was ich verbrochen habe?

    „Was hast du hier in dem Abteil zu suchen, du Gottlose?"

    „Ich bin aus Versehen hineingeraten! Zu spät sah ich, dass hier schon ein Herr schlief!"

    „Er scheint schwer berauscht zu sein, dass er immer noch nicht aufwacht", sagte der eine Gendarm.

    „Bestehlen wolltest du ihn, wenn nicht Schlimmeres! Gestehe, du Unwürdige, dass du das Goldhändchen selber bist!"

    „Wer ist Goldhändchen?"

    Es klang dreist, mit einem unschuldsvollen Augenaufschlag. Der Gendarm schüttelte seinen Fang an den Schultern.

    „Du willst Goldhändchen und ihre Leute nicht kennen, die ihr seit Jahr und Tag nachts die Reisenden in den Zügen beraubt und womöglich umbringt?"

    „Nun — Gott mit ihnen! Ein Achselzucken. „Ich bin nicht euer Goldhändchen!

    „Wer willst du denn sein — he?"

    „Diesen Vogel kenne ich doch!" Ein bleicher, blondbärtiger Mann in mittleren Jahren trat ein — ein russischer Mensch aus dem Volk, wie man ihn zu Tausenden sah. Er trug die Schirmkappe und den umgedrehten Schafpelz der unteren Stände. Sein Gesicht mit der stumpfen breitflügeligen Nase und den fast wimperlosen blauen Augen war ausdruckslos schläfrig. Er warf eine ausgerauchte Papyros zu Boden und sagte mit einer auffallend weichen, schmeichelnden Stimme zu der Fremden:

    „Tratst du nicht bis zum Herbst in dem jüdischen Possen theater im Garten des Adelsklubs in Odessa auf?"

    „Ja, Euer Wohlgeboren! In der Lansheron-Strasse!"

    „Heisst du nicht Haja Perlstein?"

    „Hier mein Pass!"

    „Antoschka, dieser Spitzbube, weiss doch alles!" sprach der eine Gendarm zum andern mit einem Blick auf den bleichen, blondbärtigen Mann. Und dieser meinte, immer in seinem blommor Tonfall:

    „Wie sollte die Geheimpolizei nicht klüger sein als andere! Dazu gab uns Gott unser Brot! Er wandte sich wieder der jungen, schwarzhaarigen Haja Perlstein zu, deren Kohlenaugen bei dem Namen der Ochrana, der gefürchteten Geheimpolizei, ihren dreisten Glanz verloren hatten. „Und was tust du hier im Zug?

    „Ich komme aus Balta, Euer Wohlgeboren! Ich suchte dort ein Engagement!"

    „Das ist nur ein Vorwand für deine Verbrechen, mein Goldhändchen", sagte Antoschka, der Agent der Geheimpolizei, gleichmütig. Die schwarze Haja fuhr verzweifelt auf. Sie spreizte die Finger. Sie hob die Schultern. Sie zischte wie eine in die Enge getriebene Katze.

    „Und was habe ich verbrochen? Weckt doch diesen Herrn auf! Er ist ein grosser Herr! Er ist reich. Er wird bezeugen, dass ihm nichts von seiner Barschaft fehlt!"

    „Weil wir rechtzeitig gekommen sind, meine Gesegnete! Der eine Gendarm bückte sich und fasste den schlummernden graubärtigen Reisenden an den Schultern. „Aber in der Tat: er hat jetzt genug geschlafen!

    „Belieben Sie zu erwachen, Herr!" Der andere Gendarm rief es dem still Ruhenden in die Ohren. Der rührte sich nicht. Die beiden schauten sich an, rüttelten noch einmal. Der Körper da unten gab willenlos nach. Antoschka, der Geheimagent, beugte sich über das gelbliche Antlitz, aus dessen Haarwildnis eine mächtige Geiernase vorsprang, er schaute prüfend in die Augen unten, die nicht wie im Schlaf geschlossen, sondern gläsern starr und offen waren. Er richtete sich auf und sagte in seinem weichen, leisen Stimmklang:

    „Aber wie denn? Er ist ja tot!"

    „Tot?" Die Gendarmen standen mit offenem Mund.

    „Tot!"

    Darauf war eine kurze Stille.

    Haja Perlstein stedte ihre Hände zwischen die Zähne und biss sich krampfhaft auf die Finger, um nicht aufzuschreien. Ihr magerer Busen flog in ungläubigem Schrecken. Ihr geschmeidiges Körperchen zitterte vor Entsetzen über den Mord. Antoschka, der Geheimagent, mass sie mit einem mitleidigen Blick.

    „Das wundert dich noch? sprach er. „Spiele du nur Komödie wie im Adelsgarten in Odessa! Deswegen wird man dich doch aufknüpfen!

    Die beiden Gendarmen hatten sich stumm bekreuzigt. Dann befühlte der eine die graubehaarte Faust des Toten, die sich in der Seidendecke eingekrallt hatte, und murmelte:

    „Er ist noch warm!"

    „Vor ganz kurzer Zeit hat ihn Gott abgerufen! Antoschka bückte sich und beschaute das starre Antlitz da unten, das einem grimmen Hohenpriester Israels aus dem Alten Testament glich. „Bemerkt das aufgedunsene Gesicht! Die vorgequollenen Augen! Eine Spur Blut, Brüder, am rechten Mundwinkel!

    Er schlug den grauen Bart mit der Hand nach oben, so dass der Hals des Toten freilag. „Da seht: Im Schlaf erdrosselt . . . .."

    Tiefe Würgemale zeichneten sich wie zwei talergrosse bläuliche Teller zu den beiden Seiten des Kehlkopfes ab. Der Agent der Ochrana legte sorgfältig wieder den Bart darüber und richtete sich auf.

    „Er ist der erste nicht! versetzte er. „Was, Goldhändchen?

    Haja Perlstein stiess einen weinerlichen Schrei aus. Es klang wie das Wimmern einer geängstigten Katze. Der bleiche blondbärtige Antoschka fasste ihre bebende kleine magere Rechte, hob sie empor, betrachtete sie, liess sie wie einen wertlosen Lappen wieder fallen und schüttelte den Kopf.

    „Mit diesen Fingerchen ist es nicht geschehen! Er wandte sich streng zu der jungen Jüdin. „Gestehe: Wer war der rotbärtige riesige Barfüssler, mit dem ich dich noch auf der vorigen Station im Wagen dritter Klasse da nebenan zusammensah?

    „Ein Freund von mir aus Odessa! stammelte Haja. „Ein Sackträger im Praktischen Hafen!

    „Wie heisst dieser Sohn des Teufels?"

    „Morduch Izaaks, Euer Wohlgeboren! Aber auch er ist unschuldig wie ein Kind!"

    „Wir wollen dieses Kind festnehmen, ehe es auf der nächsten Station aussteigt! sagte Antoschka. „Dich wird man vorläufig in dem leeren Abteil vorn im Wagen einsperren! Du . . ., er wandte sich zu den beiden Gendarmen, „hältst drinnen bei ihr Wacht, damit sie nicht durch das Fenster klettert! Und du bleibst hier stehen und sorgst, dass niemand zu dem toten Kaufmann da drinnen eintritt!"

    Antoschka, der Geheimagent, stiess die Aussentüre des dahinrollenden Wagens auf. Draussen war stockdunkle Sturmnacht. Schräg gepeitschte Regengüsse klatschten ihm ins Gesicht. Unter ihm donnerte der Bahnkörper, während er die lebensgefährliche Kletterei über die dröhnenden und schaukelnden Puffer zum nächsten Wagen unternahm, dort die Türe aufriss und sich hineinschwang.

    In der verpesteten Stickluft von Ofenglut, Menschenbrodem, Leder- und Schafpelzbunst, Zwiebelgeruch, Zigarettenrauch winkte er zwei Gendarmen, die stumm, die Revolver über die Mäntel geschnallt, an der Wand des Seitengangs lehnten.

    „Im dritten Abteil sitzt er? Gut! Macht auf! . . . . Steh auf, du Judassohn, wenn man mit dir spricht!"

    Das Abteil war voll von allerlei Volk. Von der Holzbank erhob sich langsam ein hünenhafter Hebräer mit rotem Haarschopf und langem, wirrem rotem Bart. Es schien, als wollte er kein Ende nehmen. Er wuchs weit über den Geheimagenten und die Gendarmer hinaus. Es war, als sei Simson unter den Philistern wieder auferstandert, so riesig stand er da, breitbeinig auf knochigen blossen Füssen, die mächtigen Hände in dem Ledergurt, der den zerlumpten, aus einem alten Kohlensack gearbeiteten Kittel umschloss.

    „Zeige deinen Pass! Wahrhaftig: Du hast einen! Der Agent Antoschka blätterte. „Du bist Morduch Izaaks, Obmann einer Genossenschaft hebräischer Kohlen- und Getreidesackträger im Hafen! Warum bist du nicht dort?

    „Ich sah mich hier für unsere Gemeinschaft nach Arbeit auf einer der Stationen um. Überall wird Weizen für den Krieg in der Türkei eingeladen!"

    „Und bei dieser Gelegenheit hast du den reichen Kaufmann in der ersten Klasse ermordet?"

    „Wie denn, Herr?" Der rote Riese hob voll Staunen und Abscheu die hornigen Handteller gegen den Polizeiagenter.

    „ . . . und bist dabei offenbar gestört worden! Denn du bist auf der letzten Station hierher zurüdgekehrt und hast Haja Perlstein beauftragt, das Werk zu vollendert und den Toten zu berauben! Oh, lüge nicht! Ich selbst habe euch beide hier im Gang beisammenstehen sehen!"

    „Wie sollten wir nicht? Aber . . . ."

    „Aber den Wagen hat dieser Hebräer nicht verlassen!" sprach ein alter, schmutziger Dorfpope, der in einer Ecke des Abteils sass. Ein bärtiger Altgläubiger neben ihm ergänzte in tiefem Bass:

    „Wenn er auch Christus gekreuzigt hat — der Wahrheit die Ehre!"

    „So ist es!" sagte ein schlitzäugiger tatarischer Stationskellner neben ihm. Zwei Kaukasier schüttelten heftig die hohen schwarzen Fellmützen auf ihren bräunlichen Köpfen als Zeichen: Nein. Der Hebräer stieg nicht aus!

    „Ihr hört, Herr . . .", sprach Morduch Izaaks fast drohend. Er hatte grobe, finstere Züge und einen unheimlichen Blick. Man konnte ihn jedes Verbrechen zutrauen. Der Agent Antoschka überschaute das Abteil: ein Pope, ein Altgläubiger, ein Tatar, zwei Georgier — was war auf das Gerede dieses Häufleins Armseliger zu geben? Wer von ihnen fürchtete sich nicht, wenn er sprach, vor der Rache des Riesen und seiner Spiessgesellen?

    „Man wird eure Namen aufschreiben und euch als Zeugen vernehmen! sagte er verächtlich und dann barsch zu den Gendarmen: „Sowie der Zug jetzt hält, führt ihr diesen Menschen in den nächsten Militärwagen und bewacht ihn dort gut!

    Es war auf der Steppenstation das übliche nächtliche Getümmel von grauen Soldatenmänteln und gelben Schafpelzen der Bauern und bunten Kopftüchern der Weiber, die harte Eier und Wassermelonen feilhielten, und grünen Uniformen der Beamten — das alles in unstätem Schein von Handlaternen, in der grossen russischen Stille, in der die Menschen sich wie stumme Schatten bewegten.

    Nur einer schrie durch Sturm und Regen vom finsteren Himmel, dass alles sich neugierig um ihn drängte. Vier Gendarmen hatten Mühe, den baumlangen Morduch Izaaks zu bändigen und ihn durch die Menge zu einem Wagen voll Kosakenpferden zu schleppen. Er schlug mit Bärenkraft um sich und zeterte dabei in seltsam hohen klagenden Fisteltönen. Er verfluchte auf hebräisch seine Bedränger und rief die Rache Jahves auf sie nieder, und um ihn grinsten die Uralkosaken und halfen deri Gendarmen, den strampelnden roten Riesen zu den struppigen Gäulchen in den Wagen hineinzustossen.

    Einer von ihnen prallte dabei in dem Geraufe an einen Herrn vom langen, dünnen Wuchs der vornehmen Petersburger Welt, der, das Genfer rote Kreuz auf der weissen Armbinde und über dem Schirm der weissen Mütze, mit zwei dampfenden Teegläsern vom Stationsbüfett kan und Mühe hatte, nichts zu verschütten. Es war ein Mann zu Mitte Dreissig mit einem dunkeln Schnurrbart in dem länglichen, blassen Gesicht. Er ging suchend an dem Wagen erster Klasse entlang. Er frug den Oberkonduktor des Zugs:

    „Belieben Sie: In diesem Wagen soll sich doch Seine Exzellenz General Schischko vom Stab des Feldintendanten für die Truppenversorgung befinden?"

    „Ein General ist in diesem Wagen, sagte der Oberschaffner, „samt einem Fräulein in Schwesterntracht. Der Herrin war der Zigarettenrauch im Offizierswagen zu beschwerlich. Deswegen stieg in Balta der General zu ihr in den Wagen für die Zivilreisenden. Da stehen sie ja beide im Wagengang am fenster!

    Hinter der herabgelassenen Scheibe hob sich in dunkelgrüner Uniform mit breiten Achselstücken und Fangschnüren die Gestalt des Generals Schischko ab. Er war ein Fünfziger, kurz und stämmig. Auf breiten Schultern sass ein ruhiger, russischer Kopf mit starken Backenknochen und stumpfer Nase. Sein kurzer Vollbart war leicht ergraut. Neben ihm lehnte seine Tochter, zart gewachsen, mittelgross, in weisser Schwesterntracht und Pflegerinnenhäubchen. Mit dem hellblonden Haar, den hellblauen Augen, der vom Nachtwind geröteten klaren Hautfarbe der Wangen glichen ihre weichen Züge mit dem kleinen herzförmigen Mund und der zierlichen Nase eher einem hübschen russischen Bauernmädchen als einer Weltdame von der Newa. Der junge Aristokrat unten lächelte ihr begeistert als alter Bekannter zu. Grüssen konnte er nicht. Denn er hielt in jeder Hand eines der Teegläser. Die bot er innen im Wagen dem General und seiner Tochter an.

    „Ich beeilte mich, Sie zu bedienen! sagte er atemlos in schmeichelndem Französisch. „Der Tee wird Ihnen guttun in der kalten Nacht. Ich hörte, dass Sie im Zug seien. Ich wollte Sie schon vorhin aufsuchen. Aber ich fand Ihr Abteil nicht. Nun bin ich am Ziel meines Glücks!

    Die zarten Mädchenzüge ihm gegenüber gewannen unter der frommen Schwesterhaube bei dem Wort „Glück" einen leicht ironischen Ausdruck. Fräulein Schischko nippte an dem heissen Tee. Über das Glas hinweg blickten ihre blauen Augen sehr kühl auf den eleganten Herrn und Helfer vom Roten Kreuz. Er faltete die Hände. Er flehte flüsternd:

    „Nadeschda Basilewna — seien Sie nicht wieder aus Eis, wie das letztemal in Petersburg!"

    „Warum haben Sie Petersburg verlassen? Dort gehören Sie hin!"

    „Sie sehen es: ich diene nach meinen Kräften Russland! Der junge Fürst hob ergebungsvoll die schmalen Hängeschultern und liess sie wieder sinken. „Nicht mit der Waffe! Mein Brustumfang ist zu gering. Aber alle Duchowskoi haben gedient. Alle meine Vorfahren. Auch ich glühe für Russland. Auch ich möchte endlich nach dem Testament der Grossen Katharina das Christenkreuz auf der Sofienmoschee in Konstantinopel sehen. So mache ich mich wenigstens nach Gottes Willen hier im Hinterland des Krieges nützlich!

    „Es geht Ihnen wie mir, Fürst Duchowskoi! sprach der bärtige General Schischko. „Auch ich sehe keinen Türken und höre keine Kugel pfeifen, sondern schlage mich hier in Südrussland mit der Verpflegungsschwierigkeiten für die Balkanarmee herum!

    „Und so liess ich mich denn als Krankenpfleger zum Sechsten Militärbezirk beordern", fuhr der Fürst aufgeregt fort. Nadeschda Schischko lächelte. Aber es lag nichts Ermutigendes in dem leisen Zucken ihrer Mundwinkel.

    „ . . . weil auch ich als Schwester vom Roten Kreuz nach Odessa unterwegs bin", sagte sie, während ihr Vater sich aus dem Fenster

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