Der Stern von Angora
Von Rudolf Stratz
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Buchvorschau
Der Stern von Angora - Rudolf Stratz
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Vom Osten, vom fernen Kurdistan her, nahte schon die Nacht und nistete in den zerrissenen Höhenzügen, an deren Saum mit übereinander steigenden flachen Dächern, mit schlank aufschiessenden Minarehs, eingestürzten Moscheen, verrottetem Mauerwerk, moosgrauen Festungszinnen und Tempeltrümmern die Stadt Angora sich türmte. Der Abend war da, der feierliche Frieden des Orients; klagender ferner Gebetruf der Muezzin, letztes Rinderbrüllen, die senkrecht zum Himmel aufsteigenden Rauchsäulen der Reisigfeuer, und im Gemüt des Moslim eine tiefe Ruhe, ein träumerisches Behagen, als ein Erbteil der Erinnerung vom Wüstenleben her, wenn hinter fahlen Dünen das Tagesgestirn versinkt, die Kamele kauern und die Karawane unter sternenglitzerndem Himmel rastet ...
Noch strebten jetzt, von den Bergen nieder, in langen braunen Linien die Kamelkarawanen zu Tal und pilgerten im Gänsemarsch über Blachfeld und Geröll die ausgetretenen Pfade entlang, auf denen seit Jahrtausenden auf dem schaukelnden Rücken der Wüstenschiffe die Waren des westlichen Asiens nach Konstantinopel gewandert waren. Das alles war wie einst. Aber dort, wo sich von allen Seiten die Fäden der Kamelzüge wie im Mittelpunkte eines Spinnennetzes zusammenzogen, da war die neue Zeit. Da dampften die Lokomotiven und stand, durch einen langen staubigen Fahrweg von der Stadt geschieden, das Stationsgebäude der Angorabahn, die hier ihr Ende erreichte.
Täglich erschien gegen Abend auf dieser Bahn ein Zug. Zwei Tage vorher war er von Konstantinopel ausgegangen und hatte in Eski-Schehîr, dem Knotenpunkt der über Konia führenden Bagdadbahn, die Nacht über gerastet.
Konstantinopel! Das war das gelobte Land! Die ewige Sehnsucht im einförmigen Dasein des inneren Kleinasiens. Von dort kam Licht und Leben. Und die Ankunft dieser Wagenreihe ans dem Westen, die jetzt nahe bevorstand, bildete ein für allemal das grosse Ereignis des Tages und das Ziel des Abendspazierganges der europäischen Kolonie.
Schon war der Stationsvorsteher, ein junger Schweizer, mit dem roten Fez, dem Kennzeichen des ottomanischen Beamten, auf dem Kopf, an den Schienenstrang herangetreten und plauderte abwechselnd mit dem französischen Konsul und einem Bahndepotverwalter aus Bayern, mit einem magenkrank aussehenden Griechen und einem tiefsinnigen jungen Belgier, die beide hier in der Einsamkeit Angoras an der europäischen Kontrolle über die Tabakregie und die öffentliche Schuld mitwirkten — mit einem graubärtigen sächsischen Ingenieur und ein paar eleganten jungen Levantinerinnen, und dabei nickte er im Gespräche noch da und dort in die Weite den Bekannten aller Rassen und Trachten des Völkergewirres zu, das überall längs der anatolischen und Bagdadbahn herrscht.
Da stand der Hadschi Hovayim Husseyindjian, der armenische Grosskaufmann, feist, breitschultrig, pfiffig, mit dunklem Schnurrbart und aufgeregt rollenden Augen, der sich, seitdem er als frommer Katholik eine Pilgerfahrt nach Jerusalem gemacht, den Namen eines Hadschi Baba, „eines frommen Vaters, der die heiligen Stätten besucht", erworben hatte.
Die türkischen Landleute neben ihm, sehnige, sonnengebräunte Gestalten in bunten Jacken und Wollstrümpfen, blauen Kniehosen und breitem Leibgurt, schauten düster auf ihn und düsterer noch auf ihre Nachbarn zur Linken, aus Rumänien vertriebene und in einer nahen Ackerbaukolonie angesiedelte Juden. Sie verachteten dies ausgemergelte Menschenhäuflein mit den zerrissenen schmierigen Kaftans und Käppchen, den zersetzten Schaftstiefeln, den von gesalbten Ringellöckchen umrahmten Hungergesichtern, den grotesken Bärten und fuchslistig blitzenden Augen, und wandten sich scheu von dem Patriarchen dieser Verstossenen ab, einem riesenlangen, vom Alter gekrümmten, schneebärtigen Ahasver mit rotgeränderten Augen und einem klagenden Ausdruck um die eingesunkenen Lippen. Sie liebten all diesen Anblick der Ungläubigen ebensowenig wie der wilde hinter ihnen stehende blatternarbige Turkmene; und wie sie, die trägen, selbstbewussten, mittelalterlich vornehmen Herren Anatoliens, so dachten auch die schlitzäugigen tatarischen Wagenschieber und Stationsarbeiter, die die ihnen im Wege stehenden Juden, Levantiner, Griechen und Zigeuner unsanft zur Seite stiessen und dann wieder höflich ein paar in weissen Pumphosen dahertrippelnden, unförmlich verhüllten Haremsfrauen Platz machten, deren mandelförmige Augen neugierig über dem Seidenschleier hin und her blitzten.
Mirza Riza Chan, der Perser in schwarzer Lammfellmütze, würdigte sie wohlweislich keines Blickes. Er war auf einer Bussfahrt unterwegs nach Konstantinopel, um dort einmal mit allem Pomp das bevorstehende grosse Blutfest, die Leichenklage um Hássan und Hússeîn, die Propheten, zu feiern, und sah sich schon barhaupt, im weissen Totenhemd, Hand in Hand mit Hunderten von fanatischen Genossen bei grellem Fackellicht tanzen und mit scharfer Klinge den kahlgeschorenen Schädel misshandeln, dass das Blut in Strömen floss und sein Bussgewand färbte. Dann war dies Kleinod, diese rostbraun gefleckte Leinwand sein, und begruben ihn einmal später darin seine Enkel, so wachte er untrüglich im Paradiese wieder auf, im Schosse Allahs, bei dem allein Schutz und Hilfe ist. ...
Mit aller Inbrunst der Wut zwischen feindlichen Glaubensbrüdern starrten die beiden im Staub der Landstrasse kauernden sunnitischen Bettelderwische den persischen Schiiten an, kahlköpfige und barfüssige Bajazzos, die nur einen von aufgelesenen Lappen zusammengeflickten Kittel auf dem schmutzigen Leibe trugen, daneben noch die Opferschale und den Eisenstock mit dem gehörnten Teufelsschädel, um ihrem gellenden Almosenruf Huk! Huk! Er! Er! d. h. „Allah!" Nachdruck zu verleihen.
Aus dem Kamellager hinter der Station war ein Trupp Kurden herbeigeschlichen und schaute ebenso grimmig wie die Derwische, aber zugleich scheu und misstrauisch auf die Lokomotiven, die Europäer, all den fränkischen Greuel, der ihnen, den wirrmähnigen, trotz der Hitze in Schafpelze gehüllten Wildlingen des Gebirges, ebenso selten zu Gesicht kam wie den ihnen gefolgten Lasen, schönen melancholischen Kaukasiern in braunem Kopftuch, die vor den Russen aus Kars ausgewandert waren.
Auf dem Bahnhof selbst hatten sich inzwischen noch einige Paschas eingefunden und schritten säbelklirrend und zigarettenrauchend, den scharlachroten Fez nach hinten geschoben, den Waffenrock der Hitze wegen aufgeknöpft, auf und nieder, und nun erschien auch, als ein sicherer Vorbote, dass der Zug nahe sei, Schefik Bey, der gefürchtete Polizeichef. Man sah dem trägen, unbeweglichen Antlitz des Würdenträgers die Energie nicht an, mit der er Ruhe im Lande hielt und allen Missetaten zuvorkam. Schefik Bey sammelte Raubmörder, wie andere Leute Briefmarken oder Schmetterlinge, und bewahrte sie in einem bärenzwingerartigen Hofe seines Regierungskonaks auf. Aber er wartete nicht erst ab, bis diese Raubmörder ihren Willen zur Tat umgesetzt hatten, sondern er sperrte die Verdächtigen schon vorher ein und pflegte den darob erstaunten Franken zu erwidern: „Effendi — einen Toten wieder zum Leben erwecken, kann nur Allah — gepriesen sei sein Name! —, aber einen Lebendigen vor dem Tode bewahren kann ich, indem ich das Werkzeug seines Todes rechtzeitig unschädlich mache."
Umsomehr verfinsterten sich seine Züge, als er da einen Abenteurer erblickte, der längst auf der Anwärterliste seines Kerkers prangte, und den er doch nicht ohne triftigen Grund festzunehmen wagte. Ein hochgewachsener Tscherkesse stand da, in malerischer Tracht der schwarzen Fellmütze, dem schwarzen, mit Patronentaschen ausgenähten Rock, dem Schmuck silberbeschlagener Waffen, ein Bild grimmiger männlicher Schönheit, und begrüsste, die Hand an Stirne und Lippen legend, mit dem Anstand eines Königs den ihm verhassten Bey.
Das war Fürst Haoud-Oglu-Mansur, der Hirsch- und Mufflonjäger der Wälder und in den Ebenen weithin als Räuber bekannt, gefürchtet und geehrt. Wie die anderen Tscherkessen, waren auch seine Voreltern nach der Eroberung des Kaukasus durch die Russen in das grosse Sammelbecken aller Vertriebenen und Heimatlosen, in die anatolische Steppe, eingewandert und hatten unter dem Schutze des Halbmondes ihre Raubnester gebaut, die seitdem eine Landplage für die Behörden und die friedlichen Bauern bildeten. Hörte man freilich den schönen, ritterlich ernsten Pschi, den Fürsten selbst, so klang die Sache anders. Haoud-Oglu-Mansur wusste von weggetriebenen Rindern, von bestohlenen Karawanen und gebrandschatzten Wanderern so wenig wie ein neugeborenes Kind! Er lebte oben still in seiner Waldhütte mit seinen Söhnen — sechs jungen Falken! — und jagte die Hirsche, deren Häute er an die Gerber, deren Geweihe er an einen Messerhändler aus der Mahmud Pascha-Strasse in Stambul verkaufte, um arm, aber ehrlich vor Allah und dem Propheten — Friede über sein Haupt! — sein Leben zu fristen!
Immerhin hatte Schefik Bey vorläufig dem stolzen Tscherkessen untersagt, sich nach Sonnenuntergang in der Nähe von Angora blicken zu lassen, aus der Besorgnis heraus, dass jener doch einmal, in einem Rückfall in völlige Wildheit, in irgend einem Europäer einen beträchtlichen, des Wegschleppens würdigen Wertgegenstand vermuten könnte, und dann natürlich war des Ärgers und der Schererei kein Ende. So hielt es der Räuberfürst denn doch für besser, sich unsichtbar zu machen. Als der Polizeichef sich noch einmal misstrauisch nach ihm umdrehte, war er verschwunden, und der Bey trat beruhigt zu den anderen morgenländischen und fränkischen Notabeln von Angora, um die Ankunft des Zuges zu erwarten.
Der rollte inzwischen ohne Übereilung über die anatolische Hochöde dahin, zwischen uferlosen Steppen und gespenstig kahlen Steinhalden, stundenlang durch giftig saftgrüne Sümpfe, aus denen hundertfach wie weisse Sterne auf einem Rasenteppich das Gewimmel der froschfangenden Störche schimmerte, selten einmal an einer menschlichen Niederlassung vorüber —