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Im Schatten der Flügel: Ein Maine-Krimi
Im Schatten der Flügel: Ein Maine-Krimi
Im Schatten der Flügel: Ein Maine-Krimi
eBook277 Seiten3 Stunden

Im Schatten der Flügel: Ein Maine-Krimi

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Über dieses E-Book

Die pensionierte Schweizer Kriminal- polizistin Corinna Holder hat auf Spruce Head Island in Maine eine zweite Heimat gefunden und ist mit ihrem neuen Freund Jake Blake glücklich. Da wird auf ihrer Insel ein Mann erschossen, und kurz darauf verschwindet ein sechsjähriges Mädchen. Privatdetektiv Matt Dennison bittet Corinna bei der verzweifelten Suche nach dem Mädchen um Mithilfe. Eine verheißungsvolle Spur führt ins Milieu rechtsextremer Frauenverachter, die offenbar Drogengeschäfte abwickeln. Dass der Bruder von Corinnas bester Freundin in die Sache verwickelt ist, macht die Sache für sie nicht einfacher. Der zweite Fall, den Corinna Holder in Maine zu lösen hat, spielt in einer dramatischen Landschaftskulisse und erzählt von Menschen, die einem nach Die Hummerzange bereits ans Leserherz gewachsen sind.
SpracheDeutsch
HerausgeberKampa Verlag
Erscheinungsdatum27. Aug. 2020
ISBN9783311701774
Im Schatten der Flügel: Ein Maine-Krimi
Autor

Hansjörg Schertenleib

Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, gelernter Schriftsetzer und Typograph, ist seit 1982 freier Schriftsteller. Seine Novellen, Erzählbände und Romane wie die Bestseller Das Zimmer der Signora und Das Regenorchester wurden in ein Dutzend Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, seine Theaterstücke auf der ganzen Welt auf die Bühne gebracht. Schertenleib lebte zwanzig Jahre in Irland, vier Jahre auf Spruce Head Island in Maine und wohnt seit Sommer 2020 im Burgund.

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    Buchvorschau

    Im Schatten der Flügel - Hansjörg Schertenleib

    Für Brigitte.

    Love, life, wife.

    Paint them a picture, Jane

    And you can hang it on the wall

    Tell them it’s me they see

    Don’t tell them why I’m small.

    Bob Seger

    1

    Der letzte Tag des Sommers

    Corinna Holder hob instinktiv den Kopf, als sie den Schuss hörte, und beugte sich auf dem Musiksessel ihres verstorbenen Mannes Michael nach vorn, um auf die Uhr an der Küchenwand zu sehen: 17:53 Uhr. Wenn sie sich nicht täuschte, stammte der Schuss von einem Gewehr, nicht von einer Pistole. Sie trat auf das Deck im Erdgeschoss ihres Cottages und blickte in die Richtung, aus welcher der Schuss vermutlich abgefeuert worden war. Trotz des Lärms auf dem Gelände von Norwood Lobster hörte sie, wie in der Nähe der Motor eines Motorrades gestartet und auf Touren gejagt wurde, ziemlich sicher eine Crossmaschine mit höchstens 250 Kubikzentimetern, und sich dann auf der Rockledge Road schnell nordwärts entfernte. Seltsam, ging ihr durch den Kopf, in diese Richtung führte die Straße nach kurzer Strecke in den Wald und brach nach knapp einer Meile am Ende von Spruce Head Island abrupt ab. Entweder lebte der Fahrer des Motorrades in einem der Häuser im Wald oder er setzte seine Flucht mit einem Boot fort. Sofern er denn überhaupt der Schütze und somit auf der Flucht war. Warum ging sie eigentlich davon aus, dass ein Mann geschossen hatte? Sie hatte die obligatorischen Schießtrainings bei der Kantonspolizei Aarau geliebt und war für ihre ruhige Schussabgabe und hohe Trefferquote gelobt worden. Sie hatte den Schießkeller häufig freiwillig besucht und im Internet in England einen Kapselgehörschutz mit einer Dämmung bis 31 Dezibel bestellt, Earmuffs, die sie gerne trug, weil sie die Welt ausblendeten und sie in eine Blase versetzten, in der sie nichts hörte als ihren Atem und ihren regelmäßigen Herzschlag.

    Heute war der 23. September, der erste Tag des Herbstes. In spätestens einer halben Stunde ging die Sonne unter; über dem Festland war die Dämmerung bereits so weit fortgeschritten, dass sie den Abendhimmel kaum von den Hügelzügen hinter Camden unterscheiden konnte, über dem offenen Atlantik hingegen war er von Lichtfurchen gesträhnt, die ein vages Fernweh in ihr auslösten. Dabei will ich gar nicht weg von hier, dachte sie amüsiert und sah zu, wie die Katze, die ihr im Sommer zugelaufen war und der sie noch immer keinen Namen gegeben hatte, über die Treppe aufs Deck lief und im Haus verschwand. Michael und sie hatten das Cottage vor vier Jahren gekauft, nach seinem Unfalltod im September letzten Jahres war sie vor dreieinhalb Monaten in die USA gezogen – in all dieser Zeit hatte sie nicht einen einzigen Schuss auf der Insel gehört. Im Bundesstaat Maine wurde leidenschaftlich gejagt, aber auf Spruce Head Island gab es kein Großwild. Umso beunruhigender war der Schuss, der gefallen war.

    Sie verließ das Deck und ging an den Rand ihres Grundstückes, um in den ehemaligen Steinbruch hinunterzuschauen, in dessen großflächiger Sohle sich das Werkareal von Norwood Lobster befand: Vor einer der Lagerhallen parkte ein Kühllastzug von SeaMazz; der Fahrersessel des Hubstablers, der hinter dessen offenen Hecktüren stand, war unbesetzt, auf seinen hochgefahrenen Gabeln stapelten sich PVC-Transportkisten für Hummer. Neben dem Hubstapler standen eine Frau und drei Männer um einen weiteren Mann, der einen Schutzhelm trug und am Boden lag. Falls die Kugel ihn getroffen hatte, war der Fleck, der sich auf Höhe seines Oberkörpers auf dem Asphalt ausbreitete, Blut. Der Gegenstand neben seinen Füßen war vermutlich ein Schraubenschlüssel, aus der Tasche seines Overalls gerutscht. Corinna trat zurück und duckte sich, als wolle sie nicht bei etwas Verbotenem überrascht werden; sie hatte sich nicht dagegen sträuben können, das Werkareal als Tatort zu betrachten und wie die Kommissarin, die sie noch vor einigen Monaten gewesen war, auf Verdächtiges zu achten. Der erste Eindruck an einem Tatort war der wichtigste, das wusste sie. Wenn der Mann vom Schuss getroffen worden war, musste er in der Nähe ihres Standortes abgefeuert worden sein. Sie steckte den Zeigefinger in den Mund, hielt ihn in die Luft und stellte fest, der Wind wehte aus Südost, also vom Meer her: Darum hatte sie den Schuss so deutlich gehört.

    Sie ging am Rand des Abgrundes entlang und suchte den Boden mit den Augen nach Spuren ab, bemüht, an nichts zu denken und mit offenen Sinnen und ohne Erwartungen wahrzunehmen, was sie sah, hörte und roch, wie sie es bei der Kripo Aarau gelernt hatte. Auf der Suche nach dem Detail, das nicht ins Bild passt. »Es gibt immer etwas, was man nicht sieht.« »Das Unsichtbare ist genauso wichtig wie das Sichtbare.« Die Sätze ihres älteren Kollegen Hostettler, die sie anfangs sanft und mit der Herablassung der Anfängerin belächelt hatte, gingen ihr durch den Kopf und sie musste schmunzeln. Dass der Schütze die Patronenhülse zurückgelassen hatte, war unwahrscheinlich, trotzdem bückte sie sich nach jedem glänzenden Gegenstand, den sie sah, ohne ihn anzufassen. Sie fand einen Schlüsselring aus Metall, an dem keine Schlüssel hingen, die silberne Kappe eines Filzstifts, eine Haarspange und den Kronkorken einer Bierflasche. Die einzigen Geräusche kamen von den Kühlaggregaten von Norwood Lobster und einem Lobsterboot im Becken von Seal Harbor, in der Luft hingen der stechende Gestank von Hering, der als Köder in den Hummerkörben diente, und die Ahnung von Diesel.

    Sie hatte das Grundstück ihrer Nachbarin Linda Russo durchquert und ging auf der Wiese von Wanda und Robert Nyström, die einen Teil des Jahres in Florida verbrachten, vorsichtig bis zum Rand des Abbruchs:

    Die Frau auf dem Werkareal lief eben in das Wellblechgebäude, in dem sich die Büroräume befanden, zwei der Männer kauerten sich neben dem Liegenden hin, der dritte entfernte sich ein Stück von ihnen, wobei er mit dem Handy telefonierte. Wie lange würde es dauern, bis die Ambulanz und die Streifenwagen der Rockland Police oder vom Sheriff von Knox County auf der Insel auftauchten? Privatdetektiv Matt Dennison, mit dem sie befreundet war, wusste bestimmt, in welchen Fällen auch die Maine State Police, der Coroner und das Maine Bureau of Investigation alarmiert wurden. Sie fühlte eine Sehnsucht nach ihrem früheren Beruf, was sie irritierte und verärgerte. Dicht am Rand des Abbruchs lag ein Zigarettenstummel, daneben war das Gras auf einer kleinen halbrunden Fläche niedergedrückt, als habe sich jemand auf ein Knie niedergelassen. Sie hütete sich, die Kippe anzufassen, ging aber daneben in die Hocke: Der Filter trug keine Spuren von Lippenstift, dafür aber Abdrücke von Zähnen. War der Schütze oder die Schützin so nachlässig gewesen, eine DNA-Spur zurückzulassen? Er oder sie hatte das Motorrad nahe der Rockledge Road abgestellt, war an den Rand des Abbruchs getreten, hatte sich auf ein Knie niedergelassen, angelegt und gezielt, Luft geholt, den Atem angehalten, sorgsam ausgeatmet und abgedrückt. Übersah sie etwas? Die Entfernung zum Mann am Boden betrug etwa zweihundert Meter, eine Distanz für einen versierten Schützen, einen Jäger, einen ausgebildeten Scharfschützen der Army, einen Sniper. Waren die Nyströms in Florida oder auf Spruce Head Island? Der Parkplatz vor ihrem Cottage war leer, vielleicht stand ihr Saab in der Garage. Sie suchte die Wiese gründlich ab und lief dann, weil sie weder Spuren von Schuhen noch von Reifen fand, zur Garage der Nyströms und spähte durch das Fenster im Tor: An der Rückwand stapelten sich Reifen, eingeschlagen in Plastikbahnen; an der Stelle, an der sonst der Wagen stand, hatte sich ein Ölfleck auf dem Beton ausgebreitet. Robert Nyström war offenbar damit beschäftigt, den Vorplatz mit Kies auszulegen; auf dem Stück, das er noch nicht geschafft hatte, fand sie den Abdruck einer Schuhsohle mit ausgeprägten Rillen in der Erde, daneben ein sauber ausgestochenes Loch, dick wie ein Finger, bestimmt vom Ständer eines Motorrades, und die kurze, aber tiefe Spur eines Reifens mit grobem Stollenprofil.

    Corinna lief an den Rand des Abgrundes zurück und schaute im selben Moment auf das Werksgelände hinunter, in dem bei Norwood mit leisem Ploppen die Natriumdampflampen ansprangen; der telefonierende Mann riss die freie linke Hand vor die Augen und wandte sich schnell ab. Die Lampen tauchten nicht nur das Gelände nachts in ein kaltes, taghelles Licht, sondern auch die Häuser am Rand des Steinbruches und brachten ihre Bewohner um den Schlaf. Die Lichtverschmutzung war Bestandteil der Beschwerde ans Selectboard gewesen, die von ihren Nachbarn David Byrd und seinem Lebenspartner Jeff angeregt und von nahezu allen Bewohnern der Insel unterschrieben worden war, ohne dass sich etwas geändert hatte.

    Die Frau kam aus dem Gebäude von Norwood Lobster gerannt, wobei sie beide Hände in die Höhe streckte, als wolle sie etwas aufhalten, über das sie keinerlei Macht besaß; der Mann schob das Handy in die Brusttasche seines Hemdes, ging auf sie zu, nahm sie in den Arm und führte sie vom Angeschossenen weg. Corinna kannte das Heulen, in das die Frau nach wenigen Sekunden ausbrach. Die diffizilen und belastenden Besuche bei Angehörigen von Mord- und Unfallopfern hatte sie jeweils so lange wie möglich hinausgezögert, um ihnen, wie sie sich einredete, noch einige Minuten des Friedens und der Ruhe zu schenken und sie noch etwas im Glauben zu lassen, alles sei wie vorher, nichts sei geschehen. Dabei hatte sie sich nur Zeit gelassen, um sich selbst zu schützen, weil sie sich vor den Reaktionen fürchtete. Sie war absichtlich Umwege gefahren und um jedes Rotlicht dankbar gewesen. Einige Eindrücke dieser Besuche mussten sich ihr unbewusst eingeprägt haben, jedenfalls erschienen sie immer wieder vor ihr, zum Beispiel wenn sie nachts im Bett lag und nicht einschlafen konnte: ein Windspiel aus Papierengeln, das sich friedlich drehte; ein Lederhut auf der Ablage einer Garderobe, in dessen Band eine zerzauste Vogelfeder steckte; ein leuchtend blaues Dreirad am Ende eines dämmrigen Flures; ein Poster von Sarajevo an einer Wand. Bevor sie an einer Tür klingelte, hatte sie sich jeweils bemüht, ein Gesicht aufzusetzen, das signalisierte, ich bin auch ein Mensch, nicht nur eine Kriminalpolizistin, ein Mensch, der mitfühlt und weiß, was Trauer bedeutet. »Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass …« Hoffnungsvolle Fragen, angsterfüllte Blicke oder Tränen durften sie so wenig aus der Fassung bringen wie die Geräusche, die nur Menschen in äußerster Not von sich gaben. Sie musste sachlich bleiben, Kompetenz und Ruhe ausstrahlen, ohne dabei kalt, distanziert zu wirken. Das Wort, das sie in diesen Momenten zu fürchten lernte und bald regelrecht hasste, lautete aber. »Aber sie hat doch grade angerufen!« »Aber ich hab doch das Gulasch gekocht, das er liebt!« »Aber wir fahren doch übernächste Woche in die Toskana!«

    Die Frau auf dem Werkareal befreite sich entschieden aus dem Arm des Mannes, schimpfte theatralisch und ging dann hinter dem Kühllaster auf und ab. Auch das kannte Corinna: Manche Angehörige hatten sie für das, was ihren Liebsten widerfahren war, verantwortlich gemacht. Sie war angeschrien, beschimpft und einmal gar angespuckt worden. Sie war die Botin der Zerstörung und zerstörte damit selbst.

    In der rasch fortschreitenden Dämmerung wurde der Wald jenseits der Rockledge Road zum undurchdringlichen Raum, in dem die Blätter der Laubbäume, die nach den ersten Frostnächten gelb und rot entflammt waren, matt leuchteten. Hier im mittleren Maine würde die Intensität der Laubverfärbung etwa in zwei Wochen am stärksten, der Höhepunkt des Indian Summer erreicht sein.

    Corinna ging ins Haus zurück, schloss die Glastür zum Deck und folgte der Katze, die um ihre Beine strich und ihr aufgeregt miauend in die Küche vorauslief. Es war verblüffend einfach gewesen, sie an Trockenfutter zu gewöhnen, wie ihr ihre Freundin Maggie geraten hatte, deren Mutter seit vielen Jahren Maine-Coon-Katzen hielt. Sie schüttete eine Handvoll Futter in ein Schälchen und sah zu, wie sich die Katze gierig darüber hermachte. Dann ging sie in den Flur hinüber, hob das Dach vom Katzenklo und suchte mit dem Plastikschäufelchen die vom Urin verklumpten Streubrocken und die Kotwürste heraus, trug sie ins Gästebad, kippte sie in die Toilette und spülte. Die Katze saß auf der Schwelle der Küchentür und sah ihr neugierig zu. Obwohl Corinna den Atem anhielt und durch den Mund atmete, stieg ihr der Gestank des Katzenklos in die Nase und schlug eine Brücke in die Vergangenheit, der sie in letzter Zeit erfolgreich aus dem Weg gegangen war. Sie hatte lange nicht mehr an den Vierfachmord und den Moment gedacht, in dem sie sich über die in der Hitze verkrümmten, verbrannten Leichen beugte, hatte den Geruch, den sie so lange nicht wieder losgeworden war, endlich nicht mehr in der Nase gehabt. Stattdessen hatte sie gelegentlich an die Situationen gedacht, in denen sie im Dienst Fehler begangen hatte. Den Vorfall mit dem Mann, der zum wiederholten Mal wegen häuslicher Gewalt gegen seine Frau verhaftet worden war und den sie außerhalb ihrer Dienstzeit in der Altstadt Aaraus mit einem Faustschlag niedergestreckt hatte, betrachtete sie mittlerweile nicht mehr als Fehler, obwohl sie deswegen letztlich ihre Stelle verloren hatte. Seine Beleidigungen und die verächtlichen Blicke, mit denen er sie vor seinen Freunden taxierte, hatten sie dazu verleitet, ihm sein Bier über den Kopf zu schütten und ihn mit der Faust niederzuschlagen. Einen Schläger durfte man nicht herausfordern und nicht mit sich selbst konfrontieren, das wusste sie. Trotzdem hatte sie es getan, und er hatte bekommen, was er verdiente. Sie hatte richtig gehandelt.

    Im Haus war es mittlerweile so dunkel, dass sie in die Küche trat und das Licht über dem Herd anmachte. Dabei sah sie auf die Uhr an der Wand: 18:09 Uhr. Wo blieben Ambulanz und Streifenwagen? Der Schuss war vor sechzehn Minuten gefallen. Sie war um 19 Uhr mit Jake zum Abendessen in seinem Haus in Bayside verabredet, sie musste sich beeilen. Sie lief ins Wohnzimmer hinüber, um dort die Rouleaus vor zwei bestimmten Fenstern ganz und vor einem anderen drei Viertel nach unten zu ziehen. Gewohnheiten oder vielmehr Rituale, die sie vor Jake verbarg, weil ihr verstorbener Mann Michael sie als zwanghaft, manchmal gar als krankhaft bezeichnet hatte. Sie war im Begriff, die beiden Nachtlichter wie üblich beim Einnachten im Wohnzimmer einzustecken, als sie zwei Sirenen hörte. Gleichzeitig fing ihr Handy an zu klingeln. Sie schob die Glastür zur Veranda auf, sah, wie die Katze ins Freie witschte und im Garten verschwand, trat hinaus und hob ab, erstaunt, wie kühl es in wenigen Minuten geworden war.

    »Muscheln sind dein Lieblingsessen, nicht?«

    Am Telefon klang Jake Blakes Stimme noch ruhiger und gelassener als sonst.

    »Wolltest du mich nicht überraschen, Jake?«

    »Hast du zufällig Zitronen im Haus?«

    »Aber die Muscheln muss ich nicht auch mitbringen?«

    »Wer sagt, ich koche Muscheln? Bringst du Zitronen?«

    »Stets zu Ihren Diensten, Sir!«

    »Wann fährst du los, Co?«

    »In ein paar Minuten.«

    »Was ist denn für ein Heidenlärm bei dir?«

    Um das Gellen der Sirenen auszusperren, trat sie ins Cottage zurück und schloss die Glastür hinter sich.

    »Die Idioten von Norwood sind mal wieder besonders fleißig.«

    Weshalb erzählte sie Jake nicht vom Schuss und vom Mann am Boden? Log man, wenn man etwas verschwieg?

    »Fahr vorsichtig, ja? Und denkst du bitte an die Zitronen?«

    »Mach ich, Jake. Ich freu mich.«

    »Ich freu mich auch. Bis gleich. Co.«

    Der Satz »Liebe hat oft etwas Zerstörerisches«, den Jake ganz am Anfang ihrer Beziehung gesagt hatte, beiläufig und leichthin, als besitze er kein Gewicht, fiel ihr ein. Bis jetzt hatte sie es nicht übers Herz gebracht, ihn zu fragen, was er damit eigentlich meinte, obwohl er ihr häufig durch den Kopf ging und eine Angst einjagte, die sie nicht verstand. Außer als Warnung.

    Sie lief in ihr Schlafzimmer in der oberen Etage; sie wollte die schwarze Jeans anziehen, die Jake gefiel und den Pulli, den er ihr bei Josephine an der Elm Street in Camden gekauft hatte. Und sie musste ihre Reisetasche holen, die gepackt im Schrank stand. Noch war sie nicht bereit, ihre Sachen in seinem Haus zu lassen, nicht einmal die Schminksachen oder ihre Zahnbürste.

    2

    Silberfeuerzeug

    Der Sheriff stand mit gezogener Waffe im Schutz seines Streifenwagens links der Straße, während zwei Officer der Rockland Police die Fahrer überprüften, die Spruce Head Island verlassen wollten. Ihr Streifenwagen stand auf der rechten Fahrspur unmittelbar vor der Brücke aufs Festland; wie Corinna aus der Courier Gazette wusste, hatte die Stadt den Chevy Tahoe letztes Jahr angeschafft. Sie hielt hinter einem Laster, aus dessen Ladekabine Wasser tropfte. Der ältere Officer trug eine Sonnenbrille, der jüngere hieß Coor, sie hatte ihn im Juli zur Leiche von Norman Dunbar geführt, die in der Bucht der Shofestallers angetrieben worden war. Sie fasste ihre Haare im Nacken und band sie zusammen, da setzte sich der Lastwagen vor ihr in Bewegung, und sie fuhr langsam vorwärts, bis Coor sie mit einer unwirschen Handbewegung aufforderte anzuhalten. Sie ließ das Fenster nach unten gleiten und schaltete den Motor aus.

    »Ihre Papiere, Ma’am.«

    Sie öffnete das Handschuhfach und nahm die Wagenpapiere heraus; ihr Führerschein lag in der Handtasche auf dem Beifahrersitz.

    »Den Führerschein auch?«

    Er nickte, sie nahm den Ausweis aus der Handtasche, reichte ihm alle Dokumente durchs Fenster und begriff im selben Moment, dass sie auch den älteren Officer kannte: Im Sommer war ihr Auto gestohlen worden und nach einigen Tagen am Ufer des China Lake etwa fünfzig Meilen im Landesinnern aufgefunden worden; er hatte ihr damals den Schlüssel ausgehändigt. An seinen Namen konnte sie sich nicht erinnern. Erkannte er sie ebenfalls?

    »Leben Sie auf der Insel?«, fragte Officer Coor, während er ihre Papiere studierte.

    »An der Rockledge Road.«

    »Nummer?«

    »15. Das Cottage mit …«

    »Bin gleich zurück, Ma’am«, unterbrach er sie, »legen Sie die Hände aufs Steuerrad und steigen Sie nicht aus.«

    Coor ging zum anderen Officer hinüber, reichte ihm wortlos ihre Papiere und kam dann sofort wieder zu ihr zurück. Er ging wie ein Mann, der sie beeindrucken wollte: breitbeinig und mit wiegenden Hüften. Die rechte Hand am Hüftholster, die linke auf dem Dach ihres Wagens, beugte er sich lächelnd zu ihr hinab; die Spuren eines Kammes in seinen nach hinten gegelten, offensichtlich schwarz gefärbten Haaren erinnerten sie an Ackerfurchen.

    »Ist Ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

    »Heute?«, fragte sie scheinheilig.

    Wie jeder Polizist wusste er bestimmt, dass man jemanden am ehesten zum Reden brachte, indem man abwartete und

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