Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Ein Riss in der Schöpfung: oder Was die Welt im Innersten zusammenhält
Ein Riss in der Schöpfung: oder Was die Welt im Innersten zusammenhält
Ein Riss in der Schöpfung: oder Was die Welt im Innersten zusammenhält
eBook508 Seiten7 Stunden

Ein Riss in der Schöpfung: oder Was die Welt im Innersten zusammenhält

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

In seinem neuen Roman geht Hugo Schultz einer Doppelfrage nach, die sich heute kaum mehr jemand stellt: Was hat es mit diesem Riss auf sich, der sich durch die Schöpfung zieht? Und was hält diese Welt im Innersten zusammen? Auf einer Zeit- und Raumreise befragt der Autor Büchner, Goethe, Lenz, Hugo Ball und, zum Schluss, eine Nonne, eine unbekannte Heilige - seine Tante. Neugierige Novizen ebenso wie Kenner der Literaturgeschichte erfahren allerhand Unerhörtes über die großen Dichter, die für eine mehr oder minder lange Zeit in der legendären Zürcher Spiegelgasse lebten. Schultz inszeniert dialogisch atmosphärisch dichte Bilder, die sich einprägen - und die auf der eigenen Suche weiterhelfen können. Mit Nachdruck stellt er eine unserer Grundfragen: Gibt es Gott und wenn ja, warum hilft er nicht?
SpracheDeutsch
HerausgeberLindemanns
Erscheinungsdatum28. Juli 2016
ISBN9783881909297
Ein Riss in der Schöpfung: oder Was die Welt im Innersten zusammenhält

Ähnlich wie Ein Riss in der Schöpfung

Titel in dieser Serie (56)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Biografien / Autofiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Ein Riss in der Schöpfung

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Ein Riss in der Schöpfung - Hugo Schultz

    93911.png

    Hugo Schultz

    Ein Riss in der Schöpfung

    oder

    Was die Welt im Innersten zusammenhält

    Annäherung an Goethe, Lenz, Büchner, Ball und eine Nonne

    92966.png

    Die Personen

    AUS VERGANGENER ZEIT

    Johann Wolfgang Göthe: die Schreibweise Göthe wird

    für den jungen Dichter benutzt, Goethe für den älteren.

    Jakob Michael Reinhold Lenz, sein Freund.

    Ihn hielten viele für ähnlich begabt wie Göthe.

    Später, in der Weimarer Zeit, ließ ihn Goethe verbannen

    und trieb ihn damit wohl in den Wahnsinn.

    In Straßburg verkehrten in der „Koststube" der Geschwister Lauth

    neben diesen beiden der Dichter Heinrich Leopold Wagner,

    Tischpräsident Christian Gotthilf Salzmann sowie Medizinstudent

    Leopold Weyland, der Göthe auf seiner Lothringen-Reise begleitete.

    Göthe lernte in Sesenheim, nahe Straßburg,

    die Pfarrerstochter Friederike Brion kennen, er verliebte sich in sie, verließ sie aber schon bald und empfahl sie weiter an Lenz.

    Gemeinsam besuchten Lenz und Göthe in Emmendingen dessen Schwester Cornelia und ihren Ehemann Schlosser.

    Auf der Reise zum Gotthard wurde Göthe von Jakob Passavant

    begleitet. Göthes Verlobte Lili Schönemann war da noch

    in seinen Gedanken mit dabei.

    In Weimar stand Goethe im Dienste von Karl August,

    dem Prinzen und späteren Großherzog. Zur Hofgesellschaft

    gehörten auch die Herzogin Anna Amalia, die Freifrau von Stein, Goethes langjährige enge Vertraute, sowie Martin Wieland

    und Gottfried Herder. Auch der Dichter Maximilian Klinger

    kam nach Weimar, wurde aber vergrault.

    Georg Forster, dem Reiseschriftsteller und Revolutionär,

    stand Goethe bei der Belagerung von Mainz gegenüber.

    Goethe hat im Alter junge Frauen geschätzt und bedichtet:

    Sylvie von Ziegesar, mehr noch Minna Herzlieb, am meisten Ulrike von Levetzow, die in diesem Buch wenig beachtet wird.

    Georg Büchner hat in seiner Erzählung „Lenz" den Aufenthalt des kranken Dichters in Waldersbach geschildert.

    Der „Genieapostel" Christoph Kaufmann hatte den kranken

    Lenz betreut, ihn weitervermittelt an den Pfarrer Oberlin, der sich

    um ihn kümmerte, ihn aber ob seines desolaten Zustandes abschob.

    Auf einer gefährlichen Harzreise im Winter besuchte Goethe

    einen Mann namens Plessing, der Lenz ähnlich war.

    Personen aus Büchners privatem Umkreis: Seine Mutter

    und sein Vater, seine Schwester Luise und aus deren Erzählung

    „Ein Dichter" eine Charlotte Namenlos. Wilhelmine Jaeglé,

    genannt Minna, Büchners Verlobte, Minnas Vater, Pfarrer Johann

    Jakob Jaeglé und Freunde Büchners: August und Eugène Boeckel

    sowie Adolphe und August Stoeber und deren Vater Ehrenfried.

    Politische Gesinnungsgenossen v.a. aus der Gießener Zeit:

    Karl Minnigerode, Friedrich Weidig, Hermann Trapp, Harro Harring.

    Wilhelm und Caroline Schulz waren in seiner letzten Zeit,

    in Zürich, seine besten und wohl einzigen Freunde.

    Hugo Ball und Emmy Hennings tingelten mit „Flametti",

    dem Leiter eines Varieté-Ensembles durchs Land. Ball und

    seine spätere Frau eröffneten in der Spiegelgasse das

    „Cabaret Voltaire"; mit dabei waren Tristan Tzara, Hans Arp,

    Marcel Janco, bald kam Richard Huelsenbeck hinzu. In Bern an

    der „Freien Zeitung" arbeitete Ball mit Ernst Bloch zusammen.

    Susanne Schultz, Ordensname M. Anastasia, war eine fromme,

    kluge, hypersensible Nonne, die sich ein Bild von Gott gemacht hat, das von dem der Kirche abwich. Sie wurde, obwohl bei klarem

    Verstand, ins Irrenhaus geschickt und in Grafeneck vergast.

    AUS NEUESTER ZEIT

    Rainer und Elvira sind ein Paar, auch wenn beide mit anderen Partnern verheiratet sind: Rainer lebt mit seiner Frau Martina in der Zürcher Spiegelgasse, Elvira mit ihrem Mann in Stuttgart. Mit im Bunde ist Julie, eine junge Französin aus dem Elsass, die gut deutsch spricht. Sie ist Assistentin an einer Straßburger Hochschule für Design. Ihr Interesse für Büchner bringt sie Rainer näher, Intimitäten versucht sie jedoch auszuklammern. Auch der Autor bringt sich mit ins Spiel, mischt sich in die Gespräche seiner Protagonisten ein, versucht aber trotz seines Umgangs mit diesen fiktiven Gestalten nahe an der Wirklichkeit zu bleiben.

    Vorweg

    Es ist das alte Lied: Wer gegen den Strom schwimmt, dem gehen schließlich die Kräfte aus, er wird untergehen, es sei denn er kehrt um. Gegen den Strom schwammen der junge Göthe, Jakob Lenz, Georg Büchner und Hugo Ball. Sie kämpften an gegen eine konservativ ausgerichtete öffentliche Meinung und gegen die Macht der Adelsgesellschaft. Nur einer, Goethe, akzeptierte schließlich das traditionelle Herrschaftssystem, die andern waren Ausgestoßene, Verfolgte. Sie starben früh.

    Die vier Dichter, die für eine mehr oder minder lange Zeit in der Zürcher Spiegelgasse wohnten, haben geahnt, wohin der Strom, gegen den sie ankämpften, führen würde, ebenfalls in den Untergang. Büchner sagt es in einem metaphorischen Bild: Ein Riß geht durch die Schöpfung von oben bis unten. In seinen Werken, am eindringlichsten in Dantons Tod, stellt er dar, wie dieser Riss sich zu einer Kluft ausweitet, in die der Gang der Geschichte die Menschen unausweichlich hineinstößt. Die Dichter haben sich diesem Schicksal nicht widerspruchslos ausgeliefert. Recht zuversichtlich zeigt sich der junge Goethe, der seinen Faust danach fragen lässt, was die Welt im Innersten zusammenhält. Ob dieser Zusammenhalt im Untergrund besteht oder ob der Riss in der Schöpfung, diese Kluft in der Welt, zu überbrücken, aufzufüllen oder zu umgehen ist, auch dazu werden in diesem Buch die Dichter befragt. In die Beantwortung dieser Fragen, die alle Menschen in existenzieller Weise betreffen, wird eine Nonne, die Tante des Autors, einbezogen. Die Antworten, die sie gefunden hat, brachten sie um ihre reale Existenz. Sie wurde von den Nazis vergast.

    Die angedeuteten Fragen werden aber nicht in der Form einer philosophisch-theologischen Abhandlung erörtert, sondern in einem Roman, in dem Menschen aus unserer Zeit in kontrovers geführten Gesprächen Leben und Werke der Dichter nach sinnstiftenden Antworten durchsuchen.

    Das Buch hebt heraus und führt weiter, was in der Spiegelgasse-Trilogie schon angelegt ist, in: Goethes Mord, Bruder Lenz und Ein Büchnerspiel. Einige Textteile sind unverändert dieser Trilogie entnommen. Der Großteil ist neu oder neu gestaltet.

    Die Einzelnen und was sie eint

    Sie sei im Winter mal auf den Bastberg gestiegen, bemerkte Julie wie nebenbei. Ein äußerst kalter Tag sei es gewesen, obwohl es geschneit habe; sehr groß die Flocken, in ihrer kristallinen Beschaffenheit klar, transparent. Göthe hat damals, als auch er oben war, nur die Verzauberung der Welt, kaum den Zauber der Kristalle gesehen. Vielleicht hat er auch nur gefroren. Rainer, der neben ihr durch die Spiegelgasse ging, sagte: „Mit dem Schnee will er als Dichterfürst später nichts zu tun haben. Das sei erlogene Reinheit, meint er. Dabei sind Schneeflocken schön, finde ich, auch wenn man sie als geometrische Konstrukte sieht. Ihr Weiß ist rein, gerade wenn man es nicht mit seinen Vorstellungen belädt oder belastet oder gar beschmutzt. Und wenn sie sich auflösen? Eher, wenn wir uns auflösen? Dann heißt es: Schlafe ein. Dann bleibt nichts mehr von ihrer, von unserer äußeren Gestalt, von unserer inneren schon gar nichts. Auch das ist besser als all das, was man den Toten aufgeladen hat: Fege- und Höllenfeuer, Schuldzuweisungen über den Tod hinaus. Und was man im Leben hat in Kauf nehmen müssen, was einem das Leben an Last auferlegt hat, es ist abgeworfen, vergessen. Die Ruhe, von der man im Leben nur in kleinsten Teilen etwas fand, hat sich zur Ewigkeit ausgeweitet."

    „Schwester Anastasia, die Nonne, hat das anders gesehen, sagte ich. „Niedergeschrieben hat sie: Unter all den Schneeflocken hat jede eine andere Gestalt. Wenn das schon für tote Materie gilt, dann doch auch für uns: Wir sind Unikate. Wir sind da, auch wenn wir zertreten, verschmutzt werden. Gott sieht alle. Aber er lenkt sie nicht. Sie fallen wie sie müssen. Sie lösen sich zwar auf, aber ihre Gestalt war da, und so wie sie da war sonst nirgendwo auf der Erde, und sie bleibt als immaterielle Gestalt weiter bestehen, da wo der Geist die Materie beerbt, bei Gott. So sah es diese Nonne, die meine Tante war.

    Wir gingen durch die Spiegelgasse. Es schneite, die Flocken fielen dicht, bedeckten den Boden. Oberhalb des Leuenplatzes blieben wir vor der Fassade eines sechsgeschossigen Hauses stehen. Wir sahen einzelne Passanten, alle gingen in Richtung Kunsthalle, Theater, Universität, vielleicht waren es Leute, die man für wichtig hält, vielleicht arme Schlucker. Ihretwegen waren wir nicht hierhergekommen.

    „In dem Haus vor uns wohnte Büchner, und hier starb er, sagte ich. „Es war Winter und es war kalt. Er und andere, die früher mal durch diese Gasse gekommen waren, waren Vertriebene, auf der Flucht: Lenz, von Goethe verbannt, Lenin verfolgt, Ball auf der Flucht. Hier fanden sie Zuflucht. Aber so fein wie Schneeflocken waren sie nicht, ohnmächtig auch nicht, zumindest Lenin nicht, er hat die reale Welt bewegt, Ball nicht nur die literarische. Mit Lenz und Büchner war es früh schon vorbei. Ihnen hatte man, was die Qualität der Wirkung angeht, Besseres zugetraut als Goethe. Der war auch für eine kurze Zeit hier in dieser Gasse, aber er lebte länger als die anderen. Er wird heute mehr geschätzt als sie. Sie alle hatten versucht herauszufinden, was die Welt zusammenhält oder sie hatten sich darum bemüht beieinanderzuhalten, was auseinanderzufallen droht.

    „Fest steht, auch wir lösen uns auf, aber wir sind keine Schneeflocken, sagte Julie. „Wir kommen allein auf eine fremde Welt, allein gehen wir aus ihr hinaus. Und immer, solange wir auf ihr verweilen, bleiben wir vor allem bei uns selbst. Wir sind Individuen, wir sind nicht die, aber wir sind eine Welt.

    „Göthes Faust fragt, was die Welt im Innersten zusammenhält, und er weiß, er wird es nicht ergründen können", begann Rainer. „Heute kennen wir die Naturgesetze und glauben zu wissen, welche physikalischen Vorgänge die materielle Welt steuern. Den jungen Göthe interessierte die pure Materie noch wenig. Er war der große Individualist. Er machte seine subjektiven Gefühle zum Maßstab für alles. So hat er viel dazu beigetragen, dass die Menschen – zumal in Deutschland – deutlicher sich ihrer selbst bewusst wurden.

    Bei all den Beeinträchtigungen, denen wir auf dieser steinigen Welt ausgesetzt sind, eines stand für den jungen Göthe fest, und das demonstrierte er wie damals kein anderer in Deutschland: Die Gedanken sind frei! Sie dürfen nicht von außen kanalisiert, nicht gesteuert werden. Sie brauchen freien Raum, freie Zeit. So kann nicht nur er, so kann der Mensch zu sich selbst kommen."

    Rainer blieb stehen. Er sah in die Flocken. Dann wandte er sich zu Julie um: „Das Individuum, das das Licht der Welt erblickt, ist zunächst einmal, das liegt in der Natur der Sache, auf sich gestellt. Das ist ein Hinweis auf das Verborgensein der Herkunft oder auf die Absicht des Schöpfers. Es bringt eine Empfindungswelt mit, aber sie hat nichts mit der Welt da draußen zu tun, in die es hineingeworfen ist. Da ist ein Missverhältnis, das das Ich in seinem Allmachtswahn zunächst gar nicht bemerkt. Es meint, die Welt draußen sei so geartet wie es selbst, sie gehöre ihm oder zu ihm. Da haben wir gleich zu Beginn unserer Existenz einen Riss, eine Kluft."

    Sie gingen weiter. Julie führte den Gedanken fort: „Als Babys kennen wir nur uns selbst und die Mutter, die ein Teil von uns ist. Wir sind von Beginn an Egos, Individuen. Später werden wir auf verschiedene Arten domestiziert. Wie das vor sich geht, das haben Pädagogen ausführlich beschrieben. Was uns interessiert: Es bleibt etwas von diesem egoistischen Kern immer in uns erhalten, und das ist gut so. Es bleibt auch etwas von dieser kindlichen Ausschließlichkeit in uns zurück, die sich in einem Größenwahn ausdrücken kann. Wir halten uns für ein Nonplusultra, wir sind alles, wir sind die Welt. Jeder Mensch ist in seiner Welt naturgemäß auch der Größte. Wir sind alle davon überzeugt, dass wir der Mittelpunkt der Welt sein sollten, dass wir weit mehr beachtet sein sollten, als wir es wirklich sind. Wir fühlen uns permanent zurückgesetzt, wenn dieser unser Anspruch sich in der Realität nicht oder nur zu kleinsten Teilen bestätigt, wenn wir nur kleine Würstchen sind. Auch wenn uns vieles ausgetrieben, auch ausgeprügelt wird, bleibt dennoch ein Rest. Wir wissen immer, und diese Wahrheit bleibt in uns hängen: Wir sind das, was wir sein müssen, eine eigene Welt, die mit uns entsteht und mit uns zugrunde geht. Das Selbstgefühl ist ein Tatbestand, es ist in allem da, was lebt. Es ist der Grundstoff des Lebens, seine Ursubstanz. Dieses existentielle Gefühl setzt sich bei Göthe viel stärker durch als bei anderen, und das gefällt mir, denn es zeigt sich, dass das Individuum es aus sich selbst heraus weit bringen kann, auch hoch hinauf! Zudem auch weit zu anderen hinüber."

    Woher komme ich, wer bin ich, wohin gehe ich?

    Verdankt das Universum dem Zufall oder einer Ordnungskraft seine Entstehung? Diese Frage können wir uns stellen, seit wir ein Bewusstsein haben. Eine Antwort ist kaum zu finden. Und wenn es um den Menschen geht? Da lauten die Fragen: Woher kommen wir, wer sind wir, wohin gehen wir?

    Ich füge hier einen Diskurs ein, in dem sich ein Dozent, ein Student und eine Nonne mit dieser Frage kontrovers auseinandersetzen.

    In einem längeren Monolog meldet sich der Dozent zu Wort: „Die Welt existiert – das ist unbestritten. Aber sie lebt erst als Abbild in einem lebendigen Ich. Was wäre das auch, eine Welt, die niemals wahrgenommen wurde, auch nie wahrgenommen werden wird? Gas, Feuer, Gestein, Eis, in Bewegung, dennoch tot, zwar da, ein Etwas, aber eines, das ans Nichts grenzt.

    Insofern ist das Ich die Seele der Welt. Die Welt, das Universum ist von ihm, wenn auch nicht erschaffen, so doch zum Leben erweckt. Auf den Einzelnen spezifiziert, heißt das: Ist er nicht mehr, dann ist auch seine Welt nicht mehr. Die Welt lebt in den Augenblicken, da Individuen leben. Die Welt erwacht erst durch uns zum Leben – und eine Welt, bestehend nur aus unbeseelter Materie, wäre auch Gott gleichgültig, da bin ich mir sicher.

    Menschen nehmen das sie Umgebende wahr, benennen es, lassen es so in einer anderen Sphäre erst erstehen, heben es zum Leben empor und geben es Gott, von dem es herkommt, in veränderter, in belebter Form zurück.

    Doch schon vor den Menschen begann unsere Welt aus ihrem Todesschlaf zu erwachen. Was andere Lebewesen wahrnahmen, wurde zu einer Funktion in ihrem Inneren, in ihrem Ich. Ichbewusstsein kann man das noch nicht nennen."

    Schwester Anastasia setzte sich triumphierend auf: „Zumindest darin bleiben wir uns einig: Das Ich ist die Seele der Welt! Die Schöpfung erwacht aus ihrem Todesschlaf, sie wird lebendig. Ich denke, sie wird zu dem, was sie werden sollte. Gott hat nämlich seine Welt so angelegt, dass es so weit mit ihr kommen musste, wie es gekommen ist. Und er hat uns die Seele eingehaucht."

    „Wir reden von einem Ich, sagte der Dozent weiter. „Was ist dieses Ich? Psychologen haben dazu zahllose Bücher geschrieben, aber die erklären immer nur Teilaspekte. Ich möchte sagen: Das Ich ist das, was uns immer eigen ist. Es ist das Einzige, was uns bleibt, vielleicht über den Tod hinaus. Alles kann von uns weggenommen werden, die Gliedmaßen, der Verstand, das Bewusstsein. Das, worauf bei uns bis dahin alles zusammenlief, es ist immer noch da. Unser Ich ist das blanke Skelett, das, was die Natur uns mitgegeben hat. Es ist schon in dem da, was Herr Zahn das ,Samen-Ich‘ nennt, alles andere ist darum herum gehängt und fällt auch wieder ab.

    „Der Kleiderständer Gottes, sagte Schwester Anastasia. „Auf ihm hat er später aufgehängt, was uns ausmacht, unser Bewusstsein, unsere Seele.

    Herr Zahn, ein Student, meldete sich zu Wort: „Ehe Sie das biologische Ich kleinzureden versuchen, will ich eine Lanze dafür brechen: Gerade weil es klein ist, hat es die Chance zu wachsen, und gerade in seiner Vielzahl ist es alles andere als ein Nichts: Die Individuen trugen die Evolution weiter, sie machten uns zu dem, was wir sind. Zwar traten sie massenhaft auf und wurden ebenso massenhaft vernichtet – das sagt aber nicht, dass sie nichts wert sind, sondern nur, dass die Natur einen Riesenaufwand betreibt, um wenigstens einigen von ihnen den Fortbestand zu ermöglichen. Wir sind auf einem Schlachtfeld: Es müssen ungeheuere Opfer gebracht werden, um ein großes Ziel durchzusetzen.

    Die lebendige Welt besteht immer nur in Form von vergänglichen Einzelwesen, die zwar etwas sind und schaffen und auch weitergeben, aber selbst vergehen. Da ist eine Walze aus Körpern, die im Innern ständig neu entsteht und außen abstirbt. Leichen bleiben auf ihrem Weg zurück."

    Der Dozent knüpfte an diese Gedanken an: „Herr Zahn argumentiert auf Basis naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, die unsere Herkunft bereits sehr genau beschreiben und die nicht zu bestreiten sind. Wir Christen fragen uns freilich: Hat Gott einen solch verwirrenden Weg gewählt, um uns auf die Erde zu befördern? Die Bibel macht es sich da einfach, indem sie eine Genealogie unserer Vorväter auflistet. Schwester Anastasia ist der Ansicht, dass Gott uns unser Menschsein, nennen wir es Seele, erst im Mutterleibe mitgegeben hat. Fragen wir aber auch unseren Advocatus Diaboli, wie er die Ich-Werdung sieht."

    Dieser hob an: „Ich wiederhole: Dass gerade wir, vorbei an Trillionen von Abgründen, ans Tageslicht befördert wurden, war mehr als nur unwahrscheinlich, es war nahezu unmöglich. Und wenn Gott so verschwenderisch mit Ichs, mit Individuen umgeht, wie uns das die Natur vor Augen führt, dann müssen doch auch Sie eher annehmen, dass es ihm völlig gleichgültig ist, ob wir es sind oder andere, die da das Licht der Welt erblicken. Wir als Person mit unserem Ichbewusstsein und unserer Seele existierten für ihn nicht. ,Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘, das würde dieser seiner Einstellung entsprechen. Der Nächste ist wie du, ob er oder du, das läuft auf das Gleiche hinaus."

    Schwester Anastasia entgegnete: „Wie gesagt, ich gehe – anders als Sie – davon aus, dass Gott uns erst im Mutterleib eine Seele eingehaucht hat. Dass für mich damit Seele und Körper zwar verbunden, aber nicht dasselbe sind, das versteht sich von selbst.

    Darüber hinaus gehe ich davon aus, dass das Ich, wie Sie es nennen, die eigentliche Substanz dieser unserer irdischen Welt ist. Wäre das nicht der Fall, dann wäre sie ein zufälliges Produkt materieller Vorgänge, ein Akzidens. Dann wäre auch das Universum ein Zufallsprodukt. All die chemischen, physikalischen und biologischen Phänomene wären also in ihren Ordnungen und Zusammenhängen Zufälle. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie hätten eintreten können, läge im Bereich der Unmöglichkeit. Aber es gibt sie, unsere Welt. Gott hat sie konzipiert, und er hat vorgesehen, dass in ihr Wesen existieren, die sie beachten. Er hat uns die Seele eingehaucht."

    Zahn insistierte: „Und wie wollen Sie die vielen Ichs nun zusammenbringen?"

    „Was sie zusammenbindet, möchte ich das Ich-Prinzip nennen, ich finde kein besseres Wort", sagte die Nonne.

    Der Dozent entgegnete: „Ich-Prinzip, ein schreckliches Wort, das die Individuen vereinigt, indem es sie zu einem Brei zusammenrührt oder in einer wässerigen Tinktur auflöst. Für alle wichtigen Begriffe stehen solche Tinkturen bereit, man erkennt sie an Suffixen wie -mus oder -heit. Meine These, die wohl nicht bei allen Zustimmung finden wird: Die Menschheit als Ganzes zählt für Gott nicht viel. Äpfel kann man zusammenzählen, dann zählt der eine nicht mehr als der andere. Das wird auch bei Soldaten besonders deutlich, die man nur in ihrer Funktion sieht. Wir müssen oft vereinfachen, wir sind Menschen. Gott, der Allwissende, hat das nicht nötig. Wenn er sich den Menschen zuwenden will, dann nicht der abstrakten Menschheit, sondern jedem Einzelnen.

    Das Ich ist die Seele der Welt. Heißt das nicht auch: Die Welt und ihre Seele ist in jedem einzelnen Ich vorhanden? Zumindest ist jedes Ich eine eigene Welt. Und genau darauf hat Gott sein Augenmerk gerichtet. Diese einzelnen Welten sind verschieden und oft neu – auch für ihn."

    Ich versuchte zu einem Ergebnis zu kommen: „Bisher haben wir uns vor allem mit uns und unserem Ich beschäftigt und haben nicht unbescheiden festgestellt, dass es die Seele der Welt ist: Da haben wir schon eine erste Antwort auf die Frage, ob etwas die Welt im Innersten zusammenhält."

    Elvira war damit nicht einverstanden, sie rief mir zu: „Genug von Theologie und von Nonnen! Wir wollen nicht im Kloster enden. Uns steht der junge Göthe näher. Der ist auf der Flucht vor pietistischer Frömmigkeit, für den fängt das Leben erst an. Anders als bei dir, Alter."

    Göthe kommt nach Straßburg

    Der junge Göthe: Der Dichter bricht aus; er entdeckt seine persönliche, individuelle Eigenart und streicht sie heraus. Göthe hat den Individualismus nicht etwa entdeckt, Menschen sind schon seit Langem sich ihrer selbst bewusst. So etwa Seneca, der vindica te tibi fordert. Aber Göthe fordert die Selbständigkeit nicht nur, er lebt sie und er setzt sie wie bisher niemand in Dichtung um. Die Frage: Sieht er den Weg, der in eine bessere Zukunft führt, und findet er einen Sinn in dem Treiben hier auf dieser Erde? Göthe ist stark. Man traut es ihm zu, dass er dazu beitragen kann, die Menschenwelt zusammenzuhalten.

    Göthe ist in Straßburg angekommen. Jetzt taucht das neue Leben aus versteinerter, eingefrorener Tradition auf. Man denkt an den Osterspaziergang, den er erst später, in Frankfurt, schreiben wird. Von seiner Krankheit, einer Tuberkulose, hat er sich gerade erst erholt, das helle Leben umgibt ihn wieder, steht ihm von Neuem offen. Losgeworden ist er auch die ständige Präsenz des strengen Vaters, der einschränkte, wo er sich entfalten wollte, antrieb, wo er Ruhe brauchte. Die Schwester, die sich an ihn klammerte und er sich an sie, die Mutter, deren Liebe ihn tröstete, aber auch beengte, hat er hinter sich gelassen, auch Frankfurt, die Heimatstadt, seine durch Gewohnheit abgenutzte, stumpf gewordene Umgebung.

    Göthe braucht Raum. Er hat ihn jetzt und kann ihn nutzen. Straßburg ist damals größer als Frankfurt, nicht so provinziell, hier leben in großer Zahl Franzosen aus dem Stammland, Menschen aus vielen anderen Ländern. Die Stadt belebt ihn. Die Universität hat einen guten Namen. Hier sind Menschen, die alle Erwartungen zu übertreffen scheinen. Er lernt Herder kennen. Eine literarische Gesellschaft hat sich um Salzmann gruppiert. Göthe ist gebildet und reich. Mehr noch, nach einer Wartezeit, hungrig, mit all der Gier der jungen Jahre jetzt bald auch wieder Liebe.

    Was wir heute in Straßburg noch besichtigen können, sind die Orte, die Gebäude, wo er sich aufgehalten hat. Da ist etwa das Haus, in dem er täglich seine Freunde traf, in der Koststube der Jungfern Lauth. In schmutzigem Mattbraun, von Rissen durchzogen der Verputz, unten breit und geduckt die Sandsteinbogen, immer noch, nur einige Fenster oben sind zugemauert. Im schmalen, teils überbauten Schiffergässchen war von der Fassade damals nur wenig zu sehen. Man hat es zur breiten Rue de la Division Leclerc ausgeweitet; hier ist heute die Hauptfassade, ich gehe an ihr entlang. Wenige Schritte weiter stand man damals schon vor dem Haus, in dem ein halbes Jahrhundert später Büchner wohnen sollte, in dem er versuchen würde, einen Abschnitt von Lenz’ Leben schreibend erstehen zu lassen und etwas von sich selbst in ihm zu finden.

    Man könnte sagen: In diesem Haus nahm sie ihren Anfang, die Bewegung, die man später Sturm und Drang nannte und die den erstarrten Geist der Zeit in neue Bahnen lenkte. Sicher, der Anstoß kam auch von außen. Herder hat seine Gedanken Goethe mitgeteilt, auch viel von dem berichtet, was Hamann in seinem Kopfe zusammengebraut hatte; doch die Umsetzung des Denkens in Gestalten und Bilder begann hier.

    Da saßen Studenten beisammen, vorne der Tischpräsident Salzmann. Mit dabei der Mediziner Weyland aus Buchsweiler. Er wollte seine Verwandten dort besuchen. Göthe überredete ihn, weiter, hinüber nach Lothringen zu reiten. Später behauptete Goethe, die Reise habe sie nach Sesenheim geführt. Das trifft nicht zu. Weyland hatte zwar von Friederike erzählt. Aber man hatte nicht vor, sie zu besuchen.

    Das Münster, das damals höchste Gebäude des Abendlandes, ist eine Herausforderung für Göthe. Er besteigt den Turm. Er stellt das Schicksal auf die Probe, bietet dem Tod die Stirn. Später, im Werther, in den Wahlverwandtschaften, obsiegt der Tod. Vor den Misshelligkeiten der Liebe ist das für seine Protagonisten der letzte Ausweg. Jetzt blickt er mutig nach unten, überwindet seinen Schwindel, findet Freude daran, ferne Dächer zu sehen, er meint jetzt frei zu sein, fliegen zu können, vielleicht zu den blauen Bergen weit dahinten.

    „Nein, dahin wird er reiten."

    Elvira beugte sich nach vorn: „Schau da unten, da zappeln die Menschen, huschen, wuseln durcheinander. Warum? Weil sie nicht in sich selbst eingesperrt sein wollen, am allerwenigsten in Krankheit und Tod. Sie fürchten nichts mehr als das."

    Rainer stand ein Stück hinter ihr: „Da sind wir wieder bei dem alten Dilemma, dem Bruch, dem Riss, der uns zweiteilt: Wir stecken nun mal in unserem Körper drin, sind seine Gefangenen. Unser Geist möchte fliegen, der Körper kann das nicht. Schön, wenn wir noch jung sind: Unser Geist eilt selbstverständlich voraus, unser Körper folgt ihm noch im Vertrauen darauf, sich selbst zu übertreffen, ihn einzuholen. Er meint die Glückserwartungen einlösen zu können: Göthe entdeckt in sich auch hier oben eine unerschöpfliche Schatzkammer des Glücks; sie verströmt sich immer wieder und füllt sich neu auf. Daher die Galoppade bei seinem späteren Ritt nach Sesenheim."

    Göthes Ritt nach Lothringen

    Kaum in Straßburg angekommen, tritt Göthe eine Reise an. Er weiß nicht, warum, er spürt nur, dass er etwas suchen muss, was er noch nicht gefunden hat, nicht einmal hier in Straßburg. Diese Reise hat kein bestimmtes Ziel und führt nicht, wie Goethe später behauptet, nach Sesenheim. Es ist eine Reise, auf der viele Wege offen stehen – insofern gleicht sie einem Spiel. Die Reise, die Goethe später in Dichtung und Wahrheit ausführlich beschreibt, hat mit der realen Reise wenig zu tun. Was Göthe uns von ihr hinterlässt, sind nur ein Brief und ein Gedicht.

    Zabern und Pfalzburg

    Nicht reitend, sondern mit dem Auto folgten die Drei Göthes Weg. In Zabern besichtigten sie den Schlosspark. Göthe dürfte sich hier nicht wohlgefühlt haben; dieser Park repräsentierte die starre Ordnung, aus der er gerade auszubrechen bestrebt war. Beim Rohan-Schloss dachte man freilich noch nicht an die Halsbandaffaire, die später den Hochadel in Misskredit brachte. Göthe wählte den Weg weiter nach Westen, nach Pfalzburg. In dieser Festungsstadt hielt er sich nur kurz auf, ritt wieder zurück nach Zabern.

    Julie brachte der Ort auf ganz andere Gedanken: „Die Gelegenheit ist günstig. Geben wir ihm einen Tritt! Nicht umkehren soll er, sondern vorwärtsreiten! Im Westen, über dem Gebirgssattel führt die Straße unmittelbar nach Paris, da findet er keine Landpomeranzen wie diese Friederike, mit Laub-, um nicht zu sagen Stallgeruch behaftet, sondern elegante Frauen, von Pomeranzenduft umweht ..."

    Elvira erhob Einspruch: „Lassen wir doch diese sinnliche Sphäre eine Weile zurückstehen. Dort hätte er Leute kennengelernt, die den Schwerpunkt seiner Aufmerksamkeit vom Bauch zum Kopf hin hätten verlagern können. Dort lebten Diderot, Rousseau, Voltaire und auch dieser Holbach, den er leider verachtete, in dessen Salon aber viele Aufklärer zu Hause waren.Die Vernunft bringt die Wahrheit ans Licht war ihre Devise."

    Rainer stellte seine eigenen Überlegungen an: „Während man in Deutschland das Wort Wahrheit kaum noch in den Mund zu nehmen wagt, sehen es hier zumindest einige anders: Die Wahrheit ist nicht nur relativ, sie hat immer auch ihre objektive Seite. Wenn man sie nur als relativ ansieht, dann deshalb, weil man nur kleine Teilwahrheiten sieht. Man kann die Einzelwahrnehmungen nicht zusammenfügen. Es ist, als säße man auf einem Karussell. Die Welt scheint zu huschen, manchmal sich zu drehen, dabei steht sie fest. Man sollte sich selbst nicht zu wichtig nehmen, dann kann man der Wahrheit doch recht nahekommen."

    Elvira lächelte: „Gut gemeint, was du dem jungen Mann und damit auch seinen deutschen Landsleuten da nahelegst. Sicher ist es auch die Bindekraft des Verstandes, die die menschliche Welt zusammenhält; aber ohne die Gefühlstiefe von Menschen wie Göthe würde sie zerbröseln."

    Oben in Pfalzburg, wo Vauban die befestigte Stadt erbauen ließ, kehrten sie um.

    In Buchsweiler erinnerte Rainer daran, dass Weyland, der Reisegenosse Göthes, von dort herstammte: „Hier lebten seine Verwandten, die sie selbstverständlich besuchten. Sie durchstreiften sicher die engen Gassen, bewunderten das Schloss, das heute nicht mehr besteht. Der ältere Goethe schildert das ausführlich, aber wir können sicher sein, dass es mit dem, was der junge Göthe hier wirklich sah und erlebte, so gut wie nichts zu tun hat. Immerhin erfahren wir, dass Göthe auf den Bastberg wanderte. Wenn wir ihm dahin folgen, sind wir auf die Begleitung des älteren Herrn nicht mehr angewiesen. Wir können unseren eigenen Vorstellungen folgen."

    Der Bastberg

    Der Bastberg ist eine wichtige Station auf seiner Reise. Er erlebt sich hier schon als Zauberer, als einer, der sich ausdehnt und sich das einverleibt, was er sieht. Findet er auf diesem Hügel nicht nur sich selbst, sondern auch etwas von der Welt, und auch etwas von dem, was sie zusammenhält?

    Für Elvira reichte die Aussicht nicht so weit. Aber immerhin sind da das Vorgebirgsland, im Hintergrund das bewaldete Vogesenmassiv, an den Hängen im Spaltenbereich der Kastanienwald, die linearen und von einer parallel zum Waldrand verlaufenden Straße durchquerten Dörfer, auf den Hängen um die Dörfer Obstgärten und manchmal auch einige Reihen Rebstöcke, im Vordergrund Wiesen und Felder.

    „Vom Bastberg aus sieht Göthe weite Flächen, Felder, es gibt unglaublich viel zu entdecken, zu erschließen, die Welt ist eine einzige riesengroße Herausforderung, aber auch eine große Hoffnung."

    Rainer, mit großer Geste: „Das weite Land da unten, schaut euch an! Göthes Augen durchforschen die unendlichen Flächen des Elsass, die sich in immer mehr abduftenden Landschaftsgründen dem Gesicht entziehen."

    Elvira wandte sich zu Rainer um: „Sprechen wir von der Landschaft oder vom Leben?"

    Für Julie stellte sich die Frage nicht. „Göthe ist selbstbewusst, er weiß um sich, um seinen Wert und bleibt dennoch nicht bei sich selbst stehen, es drängt ihn nach draußen, er sucht Verbindung, Bestätigung. Wie kann er sich in der Landschaft zu Hause fühlen? Wie kann er Entsprechungen zu seinen Liebes- und Freiheitsgefühlen draußen vorgeprägt finden? Es zeichnet sich hier schon ab: Es kann eine Balance entstehen zwischen dem, was in ihm ist, und dem, was er da draußen vor sich sieht. Da sind: Bergketten der Vogesen in fast nebeldichtem Dunst verschleiert, eine dunkle, graugrüne Masse scheint das zu sein, aber doch mit Farbabstufungen, die hinteren Ketten etwas blasser, keine Details sind zu erkennen. Aber weiter vorne scheint doch etwas durch: Häuser, Dörfer, Steinbrüche, matt nur, sie deuten ihre Existenz an, ohne sich aber in ihrer Gänze zu präsentieren. Freilich, er wird das alles zu gegebener Zeit schon dicht vor sich sehen. Was sich für Göthe in der Ferne abzeichnet, was er anstrebt, er wird dahin kommen. Auch was er nur ahnt, es wird bei ihm sein."

    Julie war hingerissen. Sie begann zu schwärmen: „Göthe, da steht er auf dem Gipfel! Viel weiter nach oben hat er es bisher nicht geschafft. Ja, da steht es, unser Genie, das Wunder ... Er steht oben, mit nackter Haut, er weitet sich aus, wird groß, seine Seele umfasst nicht nur das Land bis zum Horizont, sie umspannt die ganze Erde. Er hat das Individuum herausgelöst aus der philosophischen Kruste, er gewinnt Gestalt, nichts engt ihn mehr ein, bedrängt ihn, er umfasst alles."

    Elvira lächelte nachsichtig: „Geduld, liebe Julie, so rasch kommt er denn doch nicht los von dem, was noch an ihm haftet. Ihm bleibt noch Zeit, Ihnen ja auch."

    Göthe ist auf dem Weg, er wird freier, aber der Weg ist noch nicht das Ziel. Er kann eines finden.

    An der Saar: Göthe entdeckt sich als Dichter

    Hier entdeckte Göthe sich selbst als Dichter und zudem noch die Liebe zu einer Frau, die er noch gar nicht kennt. Das behaupten unsere Drei. Sehen sie das richtig?

    Von Buchsweiler ritten die Reisegefährten über Obersulzbach, Weitersweiler, Lützelstein nach Saarwerden.

    Mit halb geschlossenen Augen folgte Rainer einem Pfad, der nach Neusaarwerden hinaufführte. Julie hielt sich an seiner Schulter fest. Sie sah dasselbe, sagte: „Gewunden, dieser Weg. Jetzt reitet der junge Mann zum Fluss hinunter."

    Rainer sprach halblaut vor sich hin: „Statt dem jungen Genie dort vorne weiter zu folgen, sehe ich neben mir die junge Frau, die ich führe. Ich kann mich nicht beklagen. Ich bin im Vorteil. Bin ich es wirklich?"

    Damit wandte er sich Julie zu: „Später, in Saarbrücken, schreibt Göthe in einem Brief nieder, was er an dieser Stelle sah und erlebte. In diesem Brief an Katharina Fabricius, einer Freundin seiner Schwester Cornelia, ist die Natur sehr konkret und dennoch sehr poetisch dargestellt. Der Weg, den er reitet, und die Landschaft, die er schildert, sind heute noch genau zu lokalisieren. Wir können sie mit Göthes Augen sehen, lebendig, gefühlsbeladen, wir können auch etwas von dem sehen, was ihn bewegte, von seiner unbestimmten Liebe, die sich einen Gegenstand erst sucht, die noch nicht gebunden ist. Wir sind jetzt an diesem Ort." Rainer zitierte aus dem Gedächtnis: Gestern waren wir den ganzen Tag geritten, die Nacht kam herbei und wir kamen eben aufs Lothringische Gebirg, da die Saar im lieblichen Thale unten vorbeifließt. Wie ich so rechter Hand über die grüne Tiefe hinaussah und der Fluß in der Dämmerung so graulich und still floß, und linker Hand die schwere Finsternis des Buchenwaldes vom Berg über mich herabhing, wie um die dunkeln Felsen durchs Gebüsch die leuchtenden Vögelgen still und geheimnisvoll zögernd wurds in meinem Herzen so still wie in der Gegend und die ganze Beschwerlichkeit des Tages war vergessen wie ein Traum.

    In diesem Text gelingt es, die Landschaft, die er gerade durchstreift hat, in Übereinstimmung zu bringen mit seiner inneren, seiner Seelenlandschaft. Damals finden wir das in dieser Weise nirgendwo sonst. Auch nicht in in seinem Sesenheim-Gedicht, das Ihr kennt. Da schreibt er später:

    Es schlug mein Herz. Geschwind, zu Pferde!

    Und fort, wild wie ein Held zur Schlacht.

    Der Abend wiegte schon die Erde,

    Und an den Bergen hing die Nacht.

    Schon stund im Nebelkleid die Eiche

    Wie ein getürmter Riese da,

    Wo Finsternis aus dem Gesträuche

    Mit hundert schwarzen Augen sah.

    Der Mond von einem Wolkenhügel

    Sah schläfrig aus dem Duft hervor,

    Die Winde schwangen leise Flügel,

    Umsausten schauerlich mein Ohr.

    Die Nacht schuf tausend Ungeheuer,

    Doch tausendfacher war mein Mut,

    Mein Geist war ein verzehrend Feuer,

    Mein ganzes Herz zerfloß in Glut.

    Rainer war sich sicher: „Da drängen seine Gefühle sich in den Vordergrund, von der realen Landschaft, die er bei diesem Ritt nach Sesenheim vor sich sah, erkennen wir nichts wieder. Deshalb ist er in diesem Brief vielleicht ein noch bedeutenderer Dichter. Er hatte sich zwar zuvor schon im Dichten versucht, war aber nie so nah bei sich selbst und bei dem, was ihn umgab. Er hat sich selbst als den Dichter entdeckt, der er werden sollte, und ihn zugleich auch übertroffen. – Er hat gefunden, was die Welt im Innersten zusammenhält!"

    Elvira fasste ihn am Arm: „Jetzt halt mal ein. Steck dir nicht Göthes große Worte wie Federn an den Hut. Und bedenke: Was ihm hier, an der Saar, gelungen ist, bezieht sich auf eine ganz bestimmte, eine einmalige Situation. In Duttweiler am brennenden Berg sieht es schon wieder anders aus."

    Julie beschäftigte etwas ganz anderes: „In dem gleichen Brief an Katharina Fabricius geht es ihm auch um die Liebe, aber er befürchtet, dass sie ihn schwach macht und bindet. Frei möchte er sein, den Sprung nach oben schaffen. Genau diese Einstellung zeigt sich auch in Sesenheim."

    Rainer entgegnete: „Aber was er in diesem Brief sagt, sind allgemeine Betrachtungen, sie haben mit der konkreten Friederike nichts zu tun."

    Julie schaute Rainer direkt in die Augen: „Man kann das so sehen. Aber in den Rahmen, den er da absteckt, tritt tatsächlich nur Friederike ein und findet darin einen Platz. Ob das für Göthe förderlicher ist als für sie, das steht auf einem anderen Blatt."

    Aber Rainer schüttelte den Kopf: „Er kommt nicht zu ihr, findet nicht zu ihr, er kommt nur zu sich selbst. Er spricht ja schon im Brief recht abfällig vom Hängenbleiben."

    Für Julie stellte sich die Sache anders dar: „Ich finde eher, dass das Allgemeine ... oder die Allgemeinheiten, die Göthe da von sich gibt, sehr viel Raum bieten. In ihnen ist für viele Frauen Platz, nur dass sie schattenhaft, traumverloren bleiben. Sie gewinnen erst an Attraktion, als sie in Friederike Gestalt annehmen. Gerade Sie werden die Macht des Körperlichen doch nicht unterschätzen, lieber Herr Riger!"

    Von Saarwerden aus ritt Göthe nach Norden, folgte dem Lauf der Saar. Julie, Elvira und Rainer blieben ihm auf der Spur.

    Julie sagte: „Dunkel ist es geworden. Die Büsche und Bäume, die die Saar begleiten, werden oben von einer langen, geschwungenen, gezackten Linie begrenzt, den ganzen Weg über. Die möchte ich nachzeichnen. Aber wohin soll sie führen, diese Linie? Nach Straßburg oder – wie Goethe es sieht – unmittelbar zu Friederike. Und Sie, wandte sie sich Rainer zu, „was hätten Sie dargestellt, um zu ihr zu kommen?

    Rainer musste nicht lange nachdenken: „Das, was ich mir gerade zu sehen einbilde: die Körper der Bäume, die Augen der Sonne im Fluss, die Stimmen der im Gehölz brodelnden Vögel. Für mich ist es eine lange Linie, die lange Linie, auf der meine Gefühle ruhen können. Longue haleine ... Wir haben beide den langen Atem, etwas durchzuhalten und nicht auf die nächstbeste Gelegenheit hereinzufallen. Das ist doch ganz in Ihrem Sinne."

    Die Antwort auf die oben gestellte Frage wird sich noch ergeben.

    Duttweiler, der brennende Berg

    Der brennende Berg. Göthe erlebte noch die Glut. Wir erleben auch noch etwas von ihr; sie ist gedämpft, aber sie ist noch nicht erloschen.

    Goethe schreibt später: Ein starker Schwefelgeruch umzog uns; die eine Seite der Hohle war nahezu glühend, mit rötlichem weißgebranntem Stein bedeckt; ein dicker Dampf stieg aus den Klunsen hervor, und man fühlte die Hitze des Bodens auch durch die starken Sohlen.

    Auch Julie und Rainer standen in der felsigen Kluft. Aber von Hitze konnte keine Rede mehr sein und aus den Klunsen kam nur noch schwefeliger Gestank.

    „Aber immerhin, die Kohle glimmt weit unten immer noch. An der Oberfläche wäre sie längst ausgebrannt. Mit der Liebe ist es ähnlich", sagte Julie. „Weltgleichnis hätte Goethe in Dichtung und Wahrheit schreiben können. Bei Göthe ist es ein anderes Feuer als das da unten, aber er sieht, dass es tief unten in seiner Seele brennt und dauern wird." Rainer führte das Spiel auf seine Weise

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1