Wege zu Brecht: Wie Kathrina Thalbach, Benno Besson, Sabine Thalbach, Regine Lutz, Manfred Wekwerth, Käthe Reichel, Egon Monk und Barbara Brecht Schall zum Berliner Ensemble fanden
Von Monika Buschey
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Wege zu Brecht - Monika Buschey
Buschey
MANFRED WEKWERTH
Von links: Manfred Wekwerth, Bertolt Brecht, Ernst Busch, Isot Kilian, Paris 1955
Er kam als Regisseur einer Laiengruppe aus der Provinz. Als er ging, war er viele Jahre Intendant des Berliner Ensembles gewesen. Manfred Wekwerth ist in Köthen, in Sachsen-Anhalt aufgewachsen - quasi hinter der Theke einer Kneipe, in der seine Mutter in der Küche arbeitete.
Tatsächlich ein Mensch, der vor Energie birst. Mit immerhin 76 Jahren. Gezwungen still zu sitzen, wippt der Fuß am übergeschlagenen Bein, überschlagen sich die Worte, stockt die Sprache. Nicht, weil etwa ein Wort fehlte, nein: Es drängen so viele Formulierungen heran, dass der Koordinationsassistent im Kopf nicht entscheiden kann, welche er den anderen vorziehen soll. So entsteht ein kleiner Stau. Dann kommt der Satz: elegant und korrekt.
Manfred Wekwerth liebt es, über Brecht zu sprechen. Es ist ihm Pflicht und Lust. Wer soll es tun, wenn nicht er. Eine schönere, eine sinnvollere Aufgabe kann es nicht geben. Sie macht ihn zur Instanz: Er, der Statthalter Brechts auf Erden. Seine biographischen Aufzeichnungen fangen mit der Zeit an, in der er Brecht getroffen hat. Als habe sein Leben erst in dem Moment begonnen.
2006 ist ein Brecht-Jahr – 1956, vor 50 Jahren also, ist der Meister gestorben – und es stürzen sich Fernsehteams von überall her auf die verbliebenen Jünger. Manfred Wekwerth sieht sich seiner Aufgabe gewachsen. Mehr als das, er wächst noch an ihr: Mögen sie kommen, die Kameras und die Mikrofone, er ist gerüstet. Er hat Kopien von ausführlichen Interviews, die er Fachzeitungen gegeben hat, bereitliegen. Falls einer um die richtigen Fragen verlegen sein sollte. Falls einer vergisst, sie zu stellen.
Er führt die Besucher in sein Arbeitszimmer, wo Fotos hängen aus der großen Zeit, Zeichnungen, Karikaturen, eine Maske. Auch ein Porzellanteller von 1914, Brecht hat ihm den verehrt. Ein markiger Spruch steht darauf, ein Soldat mit Bajonett ist zu sehen. Er liebte solche Sachen, sagt Wekwerth. Man müsse Ganghofer kennen, habe er gesagt, damit man Dostojewski zu schätzen wisse.
Seit langem wohnt er mit seiner Frau nicht mehr in Berlin. Nach Grünau hat es sie gezogen – oder sollte man sagen: verschlagen? An den südöstlichen Rand der großen Stadt, Richtung Köpenick. Hier war einmal die Feine-Leute-Ausflugsgegend, heute ist in Grünau der Hund begraben, auch wenn der See im Sonnenlicht schön schimmert. Die guten Restaurants haben dichtgemacht, oder es ist ein Billigmarkt an ihre Stelle getreten. Eine Bürgerinitiative hat sich gebildet, um zu verhindern, dass die Straßenbahnlinie, die um den See herumführt, eingestellt wird.
Beschreibungen der ganz frühen Jahre, betont der Hausherr und ist gleich wieder beim Thema, finde er langweilig und er zitiert Tolstoi: »Vom Jüngling bis zu mir ist es nur ein Schritt, vom Neugeborenen bis zum Jüngling eine schreckliche Entfernung.« Wenn es denn aber sein muss – bitte sehr –, lässt er sich darauf ein. Auch das gehört dazu, und es soll doch nur ja keiner glauben, er könne sich nicht erinnern. Was immer er erzählt, er präsentiert es wie ein Möbelschreiner den fertigen Schrank: Da schließt jede Tür, da klemmt nicht eine Schublade und die Kanten sind sorgfältig abgerundet, dass sich bloß keiner daran stößt. Schon so oft hat er erzählt, was immer gewünscht wurde. Und als guter Schauspieler weiß er, wie man es hinbekommt, dass es frisch klingt und wie gerade erst hervorerinnert.
Fangen wir also hinter dem Tresen an. Dort, wo er als Junge gestanden und auf seine Mutter gewartet hat. Ohne Vater ist er aufgewachsen und Lokomotivführer hat er werden wollen. Das Speiselokal, in dem seine Mutter in der Küche geholfen hat, gehörte seiner Tante Leni. Der Lohn, den die Mutter bezog, war gering, aber es gab zu essen für sie beide. Eine Wohnung gab es auch, es war die der Großmutter, und es musste so hart gespart werden, dass das Wohnzimmer im Winter meistens nur durch den Ofen beleuchtet war: durch das wenige Licht, das das Feuer durch die schmalen Ritzen rund um die Ofentür schickte.
Nicht ohne Stolz erzählt Manfred Wekwerth, er sei mit Bier getauft worden. Er weiß auch die Sorte: »Siechenbräu« – so hieß auch das Lokal seiner Tante –, eine bayerische Biersorte. Es spricht wohl für die Qualität des Restaurants, dass dort bayerisches Bier zu bekommen war, denn Köthen liegt nicht in Bayern. Köthen liegt in Sachsen-Anhalt, und dort ist Manfred Wekwerth am 3. Dezember 1929 geboren.
Sein Vater liebte die Mutter weit weniger als sie ihn. Er war Matrose gewesen und konnte sich seinen vorläufigen Landgang nicht anders vorstellen als mit vielen Frauen. »Wenn das Kind ohne Kopf geboren wird, ist es mir auch egal«, schrieb er seiner Frau kurz vor der Geburt. Da war er schon nicht mehr an dem Ort, wo die Vaterpflichten ihn erwarteten. Der Sohn hat den Vater erst beim Scheidungstermin seiner Eltern zum ersten Mal gesehen: durch einen Türspalt. Die Tür führte in den Gerichtssaal, es war im Jahr 1939.
Mit 20 Mark Unterhalt durfte die Mutter laut Gerichtsbeschluss künftig rechnen. Doch mit Beginn des Krieges ließ der Vater verlauten, er brauche sein Geld nunmehr für »vaterländische Zwecke«. Wie sehr er sie auch demütigte – die Mutter liebte ihn trotzdem, und weil er nicht greifbar war, ergoss sich alle Liebe über den einzigen Sohn. Für ihn lohnte es sich, zu leben und zu arbeiten, seine Entwicklung war ihre einzige Freude.
Er, der Biergetaufte, der sie regelmäßig an ihren Arbeitsplatz in der Kneipe begleiten durfte, macht an diesem Ort erste Erfahrungen, die ihm im späteren Berufsleben zugutekamen. Unter dem milden Blick seiner Mutter – der auf ihm ruhte, sooft sie einen Augenblick Zeit hatte – beobachtete er die Gäste. Menschen sind für einen Schauspieler, einen Regisseur, immer Lehrmeister. Ganz egal, wie sie sich verhalten. Von dem Jungen beobachtet zu werden, irritierte niemanden so leicht und im »Siechenbräu« bemerkte den Kleinen kaum noch einer: Er gehörte dazu, und man vergaß ihn, sobald man am Tisch saß. Der Junge seinerseits vergaß niemanden. Die meisten Gäste waren Stammkunden, man konnte die Studien, die man trieb, also regelmäßig fortsetzen. Auf der Straße erkannte er die Gäste schon von weitem an ihrem Gang. Von der Theke aus nutzte er die Gelegenheit, ihnen beim Essen, beim Reden, beim Rauchen, beim Aufhängen des Mantels, beim Bezahlen zuzusehen. Aus ihren Worten, Gesten und Gewohnheiten setzte er sich eine Figur zusammen: das Lachen, der Gang, der Blick. Manchmal stellte er sich vor, wie es wäre, wenn Figur A die Stimme von Figur B hätte. Oder wie es sich anfühlen würde, wenn C lispelte wie D und D so heftig auftreten würde wie E.
Vorsichtig und ganz für sich allein fing er an, die Gäste nachzuahmen. Die Selbstgefälligkeit, mit der sich der Mann mit der Glatze den Mantel aufknöpfte. Wie er sich in Positur stellte, breitbeinig, als gelte es, etwas Wichtiges zu verkünden. Manfred Wekwerth probte diese Geste regelrecht und wartete dann gespannt auf die Wiederkehr des Glatzköpfigen, damit er noch mal ganz genau hinsehen könnte: Was machte die linke Hand, während die rechte an der Knopfleiste entlangglitt, worauf richtete sich der Blick? Und was mochte der Mann wohl denken, während er sich den Stuhl zurechtrückte?
Auf diese Weise war der Junge immer beschäftigt, immer in einer gewissen Spannung. Hingerissen vom »Jahrmarkt der Realität«, wie er heute sagt. Und natürlich kombinierte er das Beobachtete, formte sich Mosaiksteine daraus, losgelöst von der Person, setzte dem Gang einer Frau mit hohen Hacken ein Lachen auf, das eigentlich gar nicht zu ihr gehörte, sondern einem Wesen, das seiner Phantasie entsprang. Oder er ließ den Mann mit der Glatze versuchsweise so sprechen wie sein Onkel sprach. Doch so viel Spaß er auch hatte an seinem Spiel, er hielt mit seinen darstellerischen Künsten hinter dem Berg. Machte nicht den Clown, verzichtete darauf, sich den Beifall der anderen abzuholen. In frühen Jahren war er zu wenig selbstbewusst, zu scheu, zu ängstlich.
Die Schulzeit holte dann bald ganz andere Eigenschaften aus ihm heraus. So musste seine Mutter der Landesregierung eine Petition einreichen, damit ihr Sohn 1948 zum Abitur zugelassen wurde. Seine Lehrer hielten ihn für »moralisch unreif«. Was war geschehen? Er sei einfach unverschämt gewesen, erzählt Manfred Wekwerth, herausfordernd, demonstrativ faul. Nach dem Krieg, so sieht er es heute, nach der Nazizeit, nach der fortwährenden Unterordnung musste man einfach auf die Pauke hauen. Eine schwierige Zeit, vom Materiellen einmal ganz abgesehen. Die Freiheit, die die Befreier gebracht hatten, erwies sich als schwer genießbar. An die Stelle der aufgeblähten Ideale und ehernen Gesetze von Vaterlandstreue und deutschem Wesen war das Nichts getreten. Und was gestern noch mit Macht unter die Haut gefahren war, das war heute ein hohles Gefühl im Magen und ein weiches in den Knien.
Vergnügungssüchtig sei er gewesen, sagt Wekwerth, wie alle damals. Man war davongekommen, der Krieg war vorbei, man ging tanzen. Weiße Jacken, aus Bettlaken geschneidert, und weite Mäntel aus Decken – das war die Kostümierung, die Jugenduniform von Köthen. Damit hob man sich ab von den Erwachsenen. In überfüllten Schuppen, die ›Sankt Hubertus‹ hießen oder ›Osterköthen‹ – und wo es Amizigaretten das Stück für acht Mark gab –, schwofte man bis in den Morgen. In die Schule zu gehen hatte man danach keine Lust und keine Kraft.
Manfred Wekwerth half sich mit einem Entschuldigungsschreiben seiner Mutter. Sie hatte einmal einen entsprechenden Brief geschrieben, als er krank war. Nun verwendete er den Brief immer wieder. Er klaute ihn aus dem Klassenbuch und änderte das Datum. Lange ging das gut. Dann denunzierte ihn ein Mitschüler, dem er beim Tanzen das Mädchen ausgespannt hatte. Vor dem gesamten Lehrerkollegium musste er sich verantworten.
Was wollen Sie denn mal werden, war die erste Frage.
Theologe, antwortete der Schüler Wekwerth wahrheitsgemäß, denn der Pfarrer der Gemeinde war aus vielen Gründen sein Vorbild.
Mit der zweiten Frage zielten sie direkt aufs Herz: Gehören Sie zu denen, die am Sonntag tanzen waren bis in den Morgen?
Ein Ja hätte zum sofortigen Rausschmiss führen können, eine Lüge wäre leicht zu widerlegen gewesen.
Ich kann mich nicht erinnern, sagte also der Schüler Wekwerth.
Daraufhin wurde er mit dem Bannstrahl der sittlichen Unreife belegt, gegen den seine Mutter erfolgreich ankämpfte.
Eine einzige Grauzone war die Schulzeit dennoch nicht. Sie brachte sogar Gelegenheit, die frühen Talente wieder aufleben zu lassen. Der Deutschlehrer, Doktor Schreyer, hasste den Krieg nicht weniger als einen für seinen Geschmack zu lauten Frieden, der ihm abverlangte, seinen geliebten Kleist eindimensional im Sinne von Völkerverständigung und Weltfrieden interpretieren zu müssen. Also interpretierte er gar nicht, sondern spielte mit der Abiturklasse den »Zerbrochenen Krug«. Wekwerth war der Ruprecht.
Vorher – wir springen ein paar Jahre zurück – galt es noch, der Kriegsmaschinerie zu entgehen, die mit dem Vorangehen der Kampfhandlungen auch die Jüngsten zu erfassen drohte. Wiederum eine echte Herausforderung.
Eine schauspielerische Einlage von großer Durchschlagskraft hat ihn gerettet. Felix Krull, Vorbild aller jungen Männer, die den Gang zu den Waffen verweigern, kannte er nicht. Thomas Mann gehörte ja zu den Geächteten. Manfred Wekwerth holte die Kraft zum großen Nein ganz aus sich selbst. Er ging systematisch vor: Er studierte die Symptome, die ein Magengeschwür verursacht. Es kam die nötige Intuition hinzu und er legte bei den entsprechenden ärztlichen Untersuchungen eine Leistung hin, die seinen Einberufungsbefehl immerhin hinauszuzögern half. Am 8. Mai 1945, so lautete der Beschluss, hätte er einrücken müssen. Bis dahin hatte sich die Sache dann erledigt.
Ja, und dann natürlich Pfarrer Karl Hüllweck. Auf den kommt er gern zu sprechen. Sankt Jakob war seine Kirche. Mit ihm lasen die jungen Leute Kierkegaards »Krankheit zum Tode«, denn der Kirchenmann war ganz auf der Höhe der Zeit und also Existentialist. Zur seelischen Reinigung hatte er ein Stück geschrieben: »Der todesmüde Tod«. Darin verweigert der übersättigte Tod dem lieben Gott den Dienst. Wekwerth spielte einen Aussätzigen. Aufführungsort war die St. Jakobs-Kirche, wo es eine Silbermann-Orgel gab. Vom Orgelklang umrauscht vollzog sich ein erschütterndes Spiel. Nach der Vorstellung gingen Zuschauer und Schauspieler tief bewegt nach Hause.
Einen richtig guten Freund hatte Manfred Wekwerth während der Schulzeit: Gerhard Neumann. Ein schöngeistig interessierter Mensch, der Gedichte auswendig kannte, sogar selber welche schrieb. So sehr sie sich mochten, es gab reichlich Reibungspunkte, weil Wekwerth wesentlich mathematisch-naturwissenschaftlich interessiert war und Neumann ausschließlich an der Kunst. Gegenseitig beschimpften sie sich als Idioten und waren doch fasziniert vom Wesen und vom Interesse des anderen. Außerdem machten sie gemeinsam Front gegen diejenigen unter den Lehrern, denen die Prinzipien von deutscher Ordnung und Sauberkeit über alles gingen. Beide brachten die besten Leistungen, wenn sie gefordert waren. Wekwerth gründete in der Oberstufe einen Kreis für höhere Mathematik. Die wenigen Schüler, die ihm angehörten, beschäftigten sich mit Dingen, die weit über das Wissen der Lehrer hinausgingen.
Nach dem Abitur wollte er Mathematik studieren. Es fehlte ihm das Vokabular, seine Freude am Theaterspielen auf einen Berufswunsch hin zu formulieren. Schauspielerei war nichts, was er für sich als etwas angesehen hätte, das man lebenslang betreiben könnte. Außerdem waren die Naturwissenschaften seine Leidenschaft.
Die Universität Leipzig lehnte ihn ab. Was gebraucht wurde, waren Lehrer. Neulehrer hießen die, die nach dem Rausschmiss der Nazilehrer den Schüler-Laden schmeißen sollten. Die Ausbildung dauerte nicht länger als eine