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Lotte Lenya und Bertolt Brecht: Das wilde Leben zweier Aufsteiger
Lotte Lenya und Bertolt Brecht: Das wilde Leben zweier Aufsteiger
Lotte Lenya und Bertolt Brecht: Das wilde Leben zweier Aufsteiger
eBook487 Seiten5 Stunden

Lotte Lenya und Bertolt Brecht: Das wilde Leben zweier Aufsteiger

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Über dieses E-Book

»Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral«: Doppelbiografie über Bertolt Brecht und Lotte Lenya
Der Welterfolg der Dreigroschenoper 1928 verband zwei eigenwillige Künstlerpersönlichkeiten miteinander: Bertolt Brecht als Schriftsteller und Dramatiker und Lotte Lenya als Interpretin seiner Songs. Ihre Karrieren weisen erstaunliche Gemeinsamkeiten auf - und grundlegende Unterschiede.
Der Brecht-Forscher Jürgen Hillesheim führt erstmals die Lebensgeschichten von Lotte Lenya und Bertolt Brecht zusammen. Die zupackende Sängerin und Schauspielerin und der Begründer des Epischen Theaters waren entschlossen, mit ihrer Kunst erfolgreich zu sein - koste es, was es wolle. Jenseits von bürgerlicher Moral gelang ihnen der Aufstieg.

- Zwei herausragende Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts im Doppelporträt
- Geschichte der »Seeräuber-Jenny« und anderer Balladen aus der »Dreigroschenoper«
- Ein neuer Blick auf die Kultur der Weimarer Republik
- Die turbulente Geschichte einer von Streit geprägten und mit Erfolg gekrönten Hassliebe
- Mit bisher unveröffentlichten Dokumenten und Fotografien 
Lebenswege einer berühmten Sängerin und eines bedeutenden Schriftstellers
Jürgen Hillesheim schildert Bert Brechts und Lotte Lenyas Biografien vom Aufwachsen in Augsburg und Wien bis ins Berlin der 1920er Jahre, wo sie den triumphalen Erfolg der Dreigroschenoper feierten. Weitere Stationen waren die Flucht aus Deutschland, das Exil und die Zeit danach, als ihre Wege sich trennten und immer wieder kreuzten. Zu ihren Wegbegleitern zählen Lotte Lenyas Ehemann, der Komponist Kurt Weill, und die mit Bertolt Brecht verheiratete Bühnenschauspielerin Helene Weigel.
Folgen Sie den Spuren Lotte Lenyas und Bertolt Brechts in der Literatur, Musik und dem Kulturleben einer aufregenden Epoche.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. Okt. 2022
ISBN9783806245370
Lotte Lenya und Bertolt Brecht: Das wilde Leben zweier Aufsteiger
Autor

Jürgen Hillesheim

Jürgen Hillesheim ist Leiter der Brecht-Forschungsstätte Augsburg, Professor der Universität Augsburg und Professor h.c. der Staatlichen Iwan-Franko-Universität Zhytomyr (Ukraine). Er ist Autor bzw. Herausgeber von über dreißig Büchern und weit über hundert Beiträgen zu Themen der Neueren Deutschen Literaturgeschichte, Herausgeber bzw. Mitherausgeber von acht Buchreihen und internationalen Zeitschriften und freier Autor der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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    Buchvorschau

    Lotte Lenya und Bertolt Brecht - Jürgen Hillesheim

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

    in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte

    bibliografische Daten sind im Internet über

    www.dnb.de abrufbar.

    Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.

    Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

    Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,

    Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung

    durch elektronische Systeme.

    wbg Theiss ist ein Imprint der wbg.

    © 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

    Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.

    Lektorat: Diana Napolitano, Augsburg

    Satz: Arnold & Domnick, Leipzig

    Umschlagabbildungen: Lotte Lenya, ca. 1930 © Lotte

    Jacobi Collection, University of New Hampshire, USA; Bertolt Brecht,

    1931 © ullstein bild – ullstein bild

    Umschlaggestaltung: Andreas Heilmann, Hamburg

    Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier

    Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

    ISBN 978-3-8062-4535-6

    Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

    eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-4536-3

    eBook (epub): ISBN 978-3-8062-4537-0

    Menü

    Buch lesen

    Innentitel

    Inhaltsverzeichnis

    Informationen zum Buch

    Informationen zum Autor

    Impressum

    Inhalt

    Einleitung

    Bertolt Brecht 1898–1922 – von Augsburg nach oben

    Ein falsches Familienidyll – Schreiben als Ersatzhandlung?

    Der werdende Genius

    Zwischen elitärer Clique und ergebener Anhängerschaft – der Augsburger Freundeskreis

    Erste Frauen – ein ziemliches Durcheinander

    Lehrer-, Bürgerschreck und Waffenverweigerer

    Unruhen in Augsburg – Brecht bleibt auf Distanz

    Die kommunistische Revolution als Fortsetzung des Krieges

    Der Durchbruch

    Lotte Lenya 1898–1921 – das »zweite Linnerl« findet seine Identität

    Proletarisches Elend

    Rabeneltern

    Gegenwelten: Schule und Kunst

    Befreiung und Selbstfindung

    Fort, nur fort nach Zürich: Aus dem Linnerl wird Lotte

    Zurück in neues Elend nach Penzing und zweite Flucht

    Karriere und Bohemeleben in Zürich

    Aufbruchstimmung

    Brecht und Lenyas Leben in Berlin

    Brecht vernetzt sich

    Und immer wieder die Frauen

    Eine anonyme Schmähung und die sehr spezielle Förderung Marieluise Fleißers

    »Ich komme herauf, ich bin unvermeidlich …« Programmatisches in Brechts Werk und Image

    »Ich war immer schon verrückt« – Lotte Lenya gibt nicht auf

    Sämtliche Wege führen zueinander

    Lotte Lenya und Kurt Weill im Liebesglück

    Fürsorglicher »Lustknabe« und freiheitsliebende Muse – ein ideales Paar

    Weill, Lenya und Brecht machen sich auf nach »Mahagonny«

    Brecht und Lenya spielen »Episches Theater«

    Lenyas scharfer Blick

    Premiere des Songspiels in Baden-Baden: Hinterher »15 Minuten Skandal«!

    Der größte Bühnenerfolg der Weimarer Republik: Die Dreigroschenoper

    Vorspiel

    »Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so …«

    Kreatives Chaos und Welterfolg

    Vermarktung, Erfolge, Misserfolge und der Untergang Weimars

    Der Lebensstandard steigt, die politische Instabilität auch

    Kein Happy End für Happy End

    Begegnungen mit dem Kommunismus: Brecht schreibt Die Maßnahme, Lenya fährt nach Moskau

    Lenya und Weill trennen sich – Brecht gewinnt eine Beziehung hinzu

    Im Exil

    Auf der Flucht

    Weltoffenes Paris

    Brecht macht sich auf nach Dänemark, Lotte Lenya tingelt umher

    Weill und Lenya finden wieder zusammen

    Brecht versucht, sich »einzurichten« in Dänemark

    Unterkühltes Wiedersehen in New York:Brechts Die Mutter fällt durch – Weill und Lenya tun sich schwer

    Weill wird zum Star, Lenya zur wenig beschäftigten Ehefrau

    »Öfter die Schuhe als die Länder wechselnd …«: Durch Skandinavien bis in die USA

    Brechts Vater und Margarete Steffin sterben

    Desillusionierendes in den USA

    Brecht in der Krise

    Neue Leben – neue Weltkarrieren

    Der »feindliche Ausländer« verlässt die USA

    Brechts Rückkehr nach Europa

    Weills Tod, Lenyas neue Identität

    Gratwanderung zwischen den Welten: Brecht in der DDR

    Die Verurteilung des Lukullus: Brecht gibt wieder nach, Neher »hat die Nase voll«

    Brecht bleibt seiner pazifistischen Grundhaltung treu

    Brecht als Lehrer des Epischen Theaters

    Brechts Frauen: Die einen werden älter – die anderen jünger

    Das Berliner Ensemble als Exportschlager

    Schon wieder in der Zwickmühle: der 17. Juni 1953

    Lenya und das »zwielichtige Intrigantenpaar«

    »Laßt mich in Ruhe …«: Brecht stirbt; Lenya nach und mit ihm

    Lenyas bizarre Männergeschichten

    Das »Doppelleben« eines Superstars

    »Madame Weigel aus der Ostzone …«

    »Können ihr ein Loch graben …« – Abschied ohne Glamour

    Dank

    Anmerkungen

    Literatur

    Personenregister

    Abbildungsnachweis

    Einleitung

    Bertolt Brecht, der vielleicht bedeutendste Dramatiker und Theatertheoretiker des 20. Jahrhunderts, Lotte Lenya, die außergewöhnliche Sängerin und Schauspielerin. Brecht, der Stücke- und Songschreiber, Lenya, seine bis heute unvergleichliche Interpretin. Beide wurden umschwärmt, lebten ihre sexuelle Libertinage aus, völlig ungeachtet ihrer jeweiligen Beziehungen, fanden aneinander jedoch keinen Gefallen. Waren sie trotzdem ein »ideales Paar«, das Vergnügen und Erfolg gleichermaßen maximierte? Das Gegenteil ist der Fall! Trotz gegenseitiger künstlerischer Wertschätzung hegte Lenya Brecht gegenüber zeitlebens beinahe eine Feindschaft. Frühzeitig nahm sie wahr, dass er in erster Linie sich selbst sah, zuallererst die eigene Karriere, den eigenen Mythos im Kopf hatte. Und: das eigene Geschäft.

    Das konkretisierte sich gerade am Beispiel des Welterfolgs beider, der Dreigroschenoper, der sie zusammenschweißte. Hier kommt mit dem genialen Komponisten Kurt Weill das wichtigste Bindeglied zwischen Brecht und Lenya ins Spiel: Er vertonte die Dreigroschenoper und heiratete Lotte Lenya. Doch – eigentlich ungewöhnlich für eine Oper – behielt Brecht, der Librettist, stets das Zepter in der Hand: Er übervorteilte den eher zurückhaltenden Künstler. Lotte Lenya warf das Brecht immer wieder vor. So sehr Brecht von Lenya und Weill profitierte, so bedeutsam war aber umgekehrt auch Brecht für sie: Ohne ihn wären die Künstlerpersönlichkeiten beider ärmer an Profil und weniger bedeutsam im Kulturleben des 20. Jahrhunderts.

    Trotz aller Animositäten: Es gibt eine Menge nie hinreichend zur Kenntnis genommener Gemeinsamkeiten. Gerade in ihren Gegensätzlichkeiten beleuchten die Lebensgeschichten Brechts und Lenya einander. Zunächst sticht jedoch eher Trennendes ins Auge. Auf der einen Seite der berühmte »Stückeschreiber« und Intellektuelle, der Mann der Worte; auf der anderen Seite die praktisch begabte, zupackende Lenya, die Worte in Tanz und Gesang verwandelte. Hier ein Spross aus einer bürgerlichen Familie, dort das Kind und das Opfer schlimmsten sozialen Milieus. Hier mit Augsburg bayerisch-schwäbische Provinz als sozio-kultureller Hintergrund, dort, mit Wien, eine der bedeutenden Künstlermetropolen Europas. Brecht, der im Umgang mit Frauen vermeintlich Kaltherzige, Brecht, der angebliche politische Ideologe und große Lehrer. Lotte Lenya, die, wenn auch sexuell unabhängige und forsche, so dennoch verletzliche Freidenkerin. Brecht, der »frühvollendete« Klassiker, Lenya, die bis ins Alter ihren Erfolg und das Erbe Weills in sehr eigener Weise verwalten konnte.

    Auch im vermeintlich Unterschiedlichen treten bei näherem Hinsehen Gemeinsamkeiten zutage, bis hin zur familiären Konstellation. Lenyas Mutter, Wäscherin, kam in die K.u.K.-Metropole, um Arbeit zu finden und lernte hier ihren Mann kennen, mit dem sie im Elend lebte. Bei Brechts Eltern war das ähnlich: Augsburg war eine begehrte Industrie- und Textilstadt. Der Vater fand hier Arbeit. Die Mutter war Näherin aus dem Württembergischen und suchte gleichfalls in Augsburg eine Anstellung. Nach der Heirat wohnte das Paar zunächst ebenso unter unguten Bedingungen. Schon rasch allerdings machte der alte Brecht eine erstaunliche berufliche Karriere. Das familiäre Umfeld Lenyas hingegen blieb dasjenige sozial deklassierter Leute, dem Lenya so früh wie möglich zu entfliehen versuchte – mit Erfolg.

    Lenya litt maßlos unter ihrem sadistischen und alkoholabhängigen Vater, konnte sich aber ihren Lebenswillen erhalten und ihren eigenen, ungewöhnlichen Weg gehen. Sie entwickelte eine gewisse Abgeklärtheit, auch materielle Klugheit und außerdem eine große sexuelle Freizügigkeit, vorgegeben bzw. »legitimiert« vielleicht auch durch das Wiener Künstlermilieu, von dem sie gehört hatte und in dem dergleichen nichts Besonderes war. Später konnte sie ihre Mitmenschen, auch Brecht, wesentlich schneller und besser durchschauen als etwa ihr gutgläubiger Ehemann Kurt Weill; vielleicht auch deshalb, weil Brecht ihr in gewisser Weise wesensverwandt war.

    Die Sucht nach der Zuwendung, die Lenya als Kind nie erhalten hatte, wurde für sie, neben dem materiellen Aspekt, zur beruflichen Antriebsfeder. Weiteres kommt hinzu: Sie hatte früh gelernt, dass mit ihrer besonderen erotischen Ausstrahlung Geld zu verdienen war. Gezielt weckte sie männliche Begehrlichkeiten und nutzte sie für ihren Erfolg. Damit einher ging eine zutiefst künstlerische Dimension. Sex und »Auftreten« waren miteinander verwoben, schon bei Lenyas ersten Vorstellungen als Halbwüchsige bei einem Wanderzirkus.

    Familie Brecht gehörte dank des väterlichen Erfolgs bald zur besseren Augsburger Gesellschaft. Doch war das Elternhaus alles andere als intakt, wie neuere Forschungsergebnisse zeigen. Die Geschichte, die Brechts jüngerer Bruder Walter später in seinen Erinnerungen zeichnet – der Vater als lebenszugewandter Erfolgsmensch und die musisch begabte Frau an seiner Seite, die sich um die Erziehung der Kinder kümmerte –, ist eine Mär. Die Mutter Brechts war depressiv und oft nicht in der Lage, sich um Kinder und Haushalt zu sorgen, was den Groll des Vaters auf sie zog. In einer solchen Situation permanenter Anspannung und permanenten Leides wuchs Brecht auf, und wie Lenya gelang es ihm, eine besondere Identität zu finden. Brecht litt unter Herzbeschwerden und fürchtete über Jahre, in der Schule ausgegrenzt zu werden. Diese Angst sublimierte er durch eine künstlerische Sensibilität, Talent und Disziplin. Bald war er unter seinen Freunden als Literaturfachmann bewundert und gefürchtet. Alle gesundheitlichen Mängel waren ausgeglichen, und Brecht drängte in die Öffentlichkeit, seine »Karriere« kühl kalkulierend.

    An diesem Punkt gleichen sich Brechts und Lenyas Lebensentwürfe wieder, denn er markiert die bedeutsamste Gemeinsamkeit. Beide wollten etwas aus sich machen, strebten eine künstlerische Karriere an, gleich, mit welchen Mitteln und unter allen Umständen. Beide wollten »hinauf«. »Man muß versuchen, sich einzurichten in Deutschland!«

    1

    Und: »Das Gescheiteste ist doch einfach: Lavieren«.

    2

    Dies sind Leitsätze aus Brechts autobiografischen Notaten der frühen Zwanziger, die jedoch auf beide zutreffen.

    Ihren Weg nach oben ebneten sich Brecht und Lenya jenseits bürgerlicher Ethik und Moral; Brecht geschult durch Nietzsches Amoralismus. Auch die marxistische Ideologie instrumentalisierte er, allen Lippenbekenntnissen zum Trotz. Lenya konnte dies aus sich selbst heraus, auf der Basis ihrer Erfahrungen und ihrer persönlichen Strahlkraft; im Spannungsfeld zwischen höchster Empfindsamkeit und einem hohen Maß an praktischer Intelligenz.

    1928, mit dem Welterfolg der Dreigroschenoper, der die Biografien beider endgültig zusammenführte, hatten sie es geschafft. Das Werk ist der Gipfelpunkt ihres Erfolgs, von dem alles Weitere ausging. Brecht und Lenya waren angekommen im höchsten Kulturleben einer Gesellschaft, die die Dreigroschenoper gerade zu kritisieren vorgibt. Diese Gesellschaft feierte sie nun. Trotz ihrer Ablehnung bzw. des scharfen Blicks, den Lenya bis zum Schluss auf Brecht hatte: Sie blieb ihm, trotz weiterer, anderer Erfolge, »treu« als bis heute wohl größte Interpretin seiner Songs.

    Nach den Jahren im Exil blieb Lenya in den USA. Sie wurde »Vorzeige-Amerikanerin« und vielbejubelter Broadway-Star. Brecht entschied sich für die DDR, die ihm ein eigenes Theater zur Verfügung stellte, und das Lavieren ging weiter. Offiziell bekannte er sich zum kommunistischen deutschen Staat. Er schuf jedoch immer wieder Werke mit doppeltem Boden, in denen er deutlich macht, dass er das Totalitäre dieses Staates sehr wohl wahrnahm, darunter litt und sich Distanz zu ihm verschaffte. Nach seinem Tod folgten weitere urheberrechtliche Streitereien, die Lenya mit den Brecht-Erben führte – über Jahrzehnte hinweg.

    Die Fülle überraschender Gemeinsamkeiten und grundlegender Unterschiede dieser beiden großen Künstlerpersönlichkeiten regt dazu an, deren Leben und »Beziehung« genauer unter die Lupe zu nehmen. Immer wieder kreuzten sich beider Lebenswege, immer wieder trafen sie – gewollt oder ungewollt – aufeinander. Ihre Biografien waren eng ineinander verwoben, wenngleich das bisher nicht hinreichend zur Kenntnis genommen wurde. Die Kulturwelt profitiert bis heute von dieser einzigartigen »Hassliebe« und erfreut sich ihrer Blüten.

    Bertolt Brecht 1898–1922 – von Augsburg nach oben

    Ein falsches Familienidyll – Schreiben als Ersatzhandlung?

    Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern.

    Meine Mutter trug mich in die Städte hinein

    Als ich in ihrem Leibe lag. Und die Kälte der Wälder

    Wird in mir bis zu meinem Absterben sein.

    3

    Dies ist der Anfang des 1922 geschriebenen, berühmten Gedichts Vom armen B.B., das später zu einem der Höhepunkte der Hauspostille, Brechts wohl bedeutendstem Lyrikzyklus, werden sollte. Auch in einem etwa gleichzeitig entstandenen Brief schreibt er lapidar: »Meine Eltern sind Schwarzwälder.«

    4

    Das ist nicht wörtlich zu nehmen. Autobiografisches und Fiktion, in Form von Selbststilisierung und -überhöhung, auch in Briefen oder Tagebuchaufzeichnungen, gehen ineinander über. Nie ließ Brecht sich vollends in die Karte schauen. Er legte Spuren, um sie dann zu »verwischen«, das heißt nicht, sie zu beseitigen, sondern sie unkenntlich zu machen. Dennoch sind sie da, obwohl sie vielfach in die Irre, zumindest nicht dorthin führen, wo sie hinzuführen vorgeben.

    So verweisen diese ersten Zeilen des Gedichts pathetisch auf Brechts Herkunft, die Fakten allerdings lesen sich nüchterner. Brechts Vater Berthold Friedrich kam aus dem badischen Achern im nördlichen Schwarzwald, den man hinter der Formulierung »schwarze Wälder« vermuten kann. Er stammte aus einer Familie, die einen eigenen Lithografiebetrieb besaß und verließ seine Heimat früh, um in Oberbayern eine Lehre als Kaufmann zu absolvieren. Er fokussierte seine berufliche Tätigkeit auf die Papierproduktion und arbeitete nach der Lehre zunächst in einer Papierfabrik, dann in einer Papiergroßhandlung in Stuttgart. Am 1. September 1893 begann Berthold Friedrich Brecht seine Tätigkeit als kleiner kaufmännischer Angestellter bei den Haindl’schen Papierfabriken in Augsburg, wohin er auch zog. Hier bewohnte er zunächst nur ein Zimmer und verkehrte häufig bei seinem Kollegen Hermann Reitter und seiner Familie. In dessen Wohnung begegnete Berthold Friedrich Brecht Ende des Jahres 1893 seiner späteren Frau Sophie Brezing.

    Sophie Brezing wurde in Roßberg bei Bad Waldsee geboren. Ihr Vater war dort Eisenbahner, genauer: »Königlich-Württembergischer Stationsvorsteher«. Die Familie zog von Roßberg ins württembergische Pfullingen, wo Sophies Schwester Amalia geboren wurde. Diese heiratete den aus Reutlingen stammenden Hermann Reitter, der seit 1890 bei den Haindl’schen Papierfabriken in Augsburg arbeitete. Sophie besuchte 1893 ihre Schwester und deren Familie und blieb längere Zeit, um in Augsburg Arbeit zu finden. So lernte sie ihren Mann kennen, den Kollegen ihres Schwagers.

    Geheiratet wurde deutlich später: im Mai 1897, bei den Eltern von Brechts Mutter in Pfullingen. Die Wohnung des jungen Paares befand sich seit der Hochzeit in einem alten Handwerkerhaus in Augsburgs Altstadt; heutige Adresse: Auf dem Rain 7. Während die wohlhabenden Geschäftsleute in der sogenannten »Oberstadt« ihrer Tätigkeit nachgingen und auch residierten, hatten die Handwerker ihre Betriebe in der tiefer liegenden Altstadt. Im Erdgeschoss war eine Feilenhauerei, deren mächtiger Hammer von einem der Lechkanäle, die am Haus entlangführen, angetrieben wurde. Insgesamt lebten elf Personen in dem kleinen Haus. Eugen Berthold Brecht wurde hier am 10. Februar 1898 geboren. Am 20. März wurde er in der nur ein paar Schritte entfernten evangelischen Barfüßerkirche getauft. Seinen Rufnamen Eugen sollte er bis etwa 1916 behalten.

    In der engen Wohnung blieb die Familie nicht lange; zumal der Schmiedehammer der Feilenhauerei unerträglichen Lärm verursachte. Zunächst nur ein unbedeutender kaufmännischer Angestellter bei den Haindl’schen Papierfabriken, strebte Brechts Vater zielorientiert nach oben. Er machte eine steile Karriere, wurde in den folgenden Jahren Prokurist und sogar Kaufmännischer Direktor der Firma. Schon wenige Monate nach der Geburt des ersten Sohnes war er finanziell so gut gestellt, dass er eine neue Wohnung suchen konnte, die er mit seiner Familie am 18. September 1898 bezog – da war Brecht gerade einmal ein halbes Jahr alt. Sein Bruder Walter wurde hier am 29. Juni 1900 geboren. Brechts Geburtshaus wurde 1981 von der Stadt Augsburg erworben. Heute befindet sich hier eine Dauerausstellung zu Leben und Werk des Dichters.

    Ein weiterer Umzug folgte bald und führte zu Brechts wichtigster Augsburger Adresse. Mit der Ernennung des Vaters zum Prokuristen der Haindl­’schen Papierfabriken war die Funktion des Verwalters der Stiftungshäuser der Firma verbunden. Es bestand Residenzpflicht, der Verwalter sollte für die Mieter ansprechbar ein, sodass die Familie in eines dieser Häuser in der Vorstadt, Adresse: »Bleichstraße 2«, zog. Die äußere Situation war merkwürdig bis abstrus: Denn mitten im Arbeiterviertel ging es bei Brechts gehoben bürgerlich zu. Zwei komplette Wohnungen, ein gesamtes Stockwerk, standen der Familie zur Verfügung. Auch hatte sie Hauspersonal, Dienstmädchen, die der Mutter zur Seite standen und den kleinen Brecht im Winter gelegentlich mit einem Schlitten zur Schule brachten. Die Dienstmädchen wohnten in der Dachmansarde, die später Brechts Reich werden sollte.

    Die Stiftungshäuser waren nicht weit außerhalb der Innenstadt und trotz des Arbeitermilieus idyllisch gelegen. 1953 erwies Brecht rückblickend und nicht ohne Pathos der Umgebung seiner Kindheit und Jugend eine Reminiszenz:

    »Vorbei an meinem väterlichen Haus führte eine Kastanienallee entlang dem alten Stadtgraben; auf der anderen Seite lief der Wall mit Resten der einstigen Stadtmauer. Schwäne schwammen in dem teichartigen Wasser. Die Kastanien warfen ihr gelbes Laub ab.«

    5

    Eine weitere Besonderheit war, dass Verwandte der Familie in unmittelbarer Nähe wohnten. Da sind zunächst einmal die Reitters zu nennen, also die Schwester der Mutter Brechts und deren Mann, die zwei Kinder hatten, Fritz und Richard. Sie waren einige Jahre jünger als Brecht. In seiner Kindheit verbrachte Brecht viel Zeit mit den Cousins. Dann, Brecht war ungefähr fünfzehn Jahre alt, verlief sich dies ein wenig; später verlor man sich komplett aus den Augen. Auch zogen die Großeltern mütterlicherseits in die unmittelbare Nähe, um den beiden Töchtern nahe zu sein. Die Großmutter las Brecht und dessen Bruder Walter bisweilen Gleichnisse und Perikopen aus der Bibel vor; möglicherweise ist dies in Zusammenhang zu bringen mit Brechts außerordentlich guten Kenntnissen der Bibel, die in seinem Werk durchgehend wahrnehmbar sind.

    Im Januar 1903 kam Brecht in den nicht weit entfernt gelegenen Kindergarten der Barfüßergemeinde. Im selben Gebäudekomplex befand sich die Volksschule dieser Gemeinde, in der Brecht seine ersten beiden Schuljahre verbrachte. Weiter entfernt, fast in der Stadtmitte, war die damalige Schule am Stadtpflegeranger, die Brecht in seinen beiden letzten Volksschuljahren besuchte. Kindergarten und Volksschule der Barfüßergemeinde sind nicht erhalten, wohingegen sich die Schule am Stadtpflegeranger noch nahezu im Originalzustand befindet. Sie heißt nun St.-Anna-Volksschule. Mit dem 14. Juli 1908 endete Brechts Volksschulzeit. Wieder deutlich näher an der Wohnung der Familie in der Bleichstraße lag das Königliche Realgymnasium, das er seit dem 18. September 1908 besuchte; etwa zehn Minuten Fußweg waren hinter sich zu bringen. Brechts Bruder Walter besuchte ein anderes Gymnasium in der Stadt.

    Brecht mit Eltern und Bruder Walter, 1908.

    Mit dem Übertritt ans Gymnasium änderte sich Brechts Sozialisation schlagartig. Seine schulischen Leistungen waren gut, aber nicht herausragend. Doch es sind Auffälligkeiten zu verzeichnen. Zwei seien hervorgehoben: Brecht schloss Freundschaften, man könnte auch sagen, er ging »Arbeitsbeziehungen« ein, von denen manche weit über seine Augsburger Zeit hinaus bestand haben sollten. Und: Ihm sollte der neu gewonnene Kreis von Kameraden, Freunden, aber auch Lehrern schon bald sein erstes literarisches Publikum werden. In einem Brief an den Literaturkritiker Herbert Jhering äußert Brecht sich Mitte/Ende Oktober 1922 nicht gerade schmeichelhaft über seine Schulzeit:

    »Die Volksschule langweilte mich vier Jahre. Während meines neunjährigen Eingewecktseins an einem Augsburger Realgymnasium gelang es mir nicht, meine Lehrer wesentlich zu fördern. Mein Sinn für Muße und Unabhängigkeit wurde von ihnen unermüdlich hervorgehoben (…) In der Gymnasiumzeit hatte ich mir durch allerlei Sport einen Herzschock geholt, der mich mit den Geheimnissen der Metaphysik bekannt machte.«

    6

    Dieser Brief ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Brecht deutet auf Konflikte, die es in seiner Zeit am Realgymnasium gegeben hat, und macht auf eine Erkrankung aufmerksam. Über den Begriff »Herzschock« hinaus konkretisiert er das nicht weiter. Er berührt jedoch einen Bereich, der maßgeblichen Einfluss hatte auf seine Kindheit und Jugend, seine gesamte Sozialisation und wohl auch auf die Entstehung seines Interesses für Literatur; einen Bereich, der in der Forschung lange nicht zur Kenntnis genommen wurde.

    Lange glaubte man den Erinnerungen von Brechts Bruder Walter, dass die beiden Brecht-Söhne ihre Kindheit in einem wohlbehüteten und intakten Elternhaus verbracht haben. Der Vater sei ein lebensfroher Mensch gewesen, der aufgrund seiner Karriere rasch zum angesehenen Augsburger Bürger wurde. Die Mutter hingegen beschreibt Walter Brecht als sensibel. Sie habe eine künstlerisch-musische Neigung gehabt und sich hingebungsvoll der Erziehung ihrer beiden Söhne gewidmet – das ist ein idealisiertes Elternbild, das man schon bei Goethe findet. Brecht, so war oft zu lesen, sei dem dann irgendwann einmal entwachsen, erst ein anarchischer Autor, dann ein kommunistischer Vorzeigedichter geworden. Er habe also eine allmähliche Wandlung vom wohlbehüteten Bürgersohn zum sozialistischen Klassiker vollzogen. Eingetrübt seien seine Jugend und Kindheit nur wegen der langjährigen Krebserkrankung der Mutter gewesen, an der sie dann am 1. Mai 1920 verstarb. Dies ist ein Bild, das besonders in der DDR-Literatur zu Brecht verbreitet wurde. Es entspricht allerdings nicht den Tatsachen, sondern ist eher Propaganda als ernsthafte Literaturgeschichtsschreibung.

    Über die Mutter Brechts wusste man nicht allzu viel, bis vor etwa fünfzehn Jahren ein Notizheft auftauchte, das sie sporadisch in den Jahren zwischen 1888 und 1910 führte. Dies ist ein sehr früher Berichtszeitraum, der lange vor der Geburt Brechts beginnt und auch lange, bevor sich die ersten Symptome der Krebserkrankung bemerkbar machten. Neben Alltagsnotizen enthält das Heft auch Autobiografisches. Brecht selbst gedenkt seiner Mutter eher schlaglichtartig-kurz in Gedichten und autobiografischen Notaten.

    Die Mutter Brechts wird als »seit jeher kränklich und verträumt« beschrieben. Das deckt sich mit ihren Notizen, die eine offenbar melancholische, wenn nicht gar depressive Grundstimmung Sophie Brechts verraten, die zu anhaltender Lethargie führte. Von »schweigendem Leiden« schreibt sie und vom »dunklen Lebenspfad«, der abzuschreiten sei, um nur diese beiden Beispiele zu nennen. Den Haushalt ohne Hilfe zu führen, war sie nicht imstande; ebenso wenig, wie sich um ihre Kinder zu kümmern. Um es auf einen Nenner zu bringen: Sie war, krankheitsbedingt, schlicht nicht alltagstauglich. Es scheint eine gewisse Bereitschaft Sophie Brechts, sich mit ihren Krankheiten abzufinden und in ihnen zu verharren, gegeben zu haben.

    Man findet im Erinnerungsbuch des Bruders Brechts und seinen Werken Entsprechendes. So etwa den Unwillen des Vaters, der die Krankheitssymptome seiner Frau nicht deuten konnte. Er selbst war inzwischen nicht nur ein hochangesehener, sondern auch äußerst beliebter Augsburger Bürger, der gern am gesellschaftlichen Leben teilnahm, zum Beispiel Mitglied in einem Gesangsverein war. Seine Frau, schon seit 1903 oft nicht in der Lage, das Bett zu verlassen, vernachlässigte in seiner Sichtweise ihre Pflichten. Beherrschen habe er sich seiner Frau gegenüber müssen, wie Walter Brecht mitteilt. Er verachtete sie wegen ihrer psychischen Erkrankung, die er für seine Familie zunehmend als bedrohlich empfand.

    Brecht selbst konstatiert im Alter von etwa fünfzehn Jahren abschätzig, dass »Mama immer über die viele Arbeit jammert«.

    7

    1907 und 1909 konnte Sophie Brecht noch mit ihrem Mann zur Erholung an die Nordsee reisen. Dann war auch das nicht mehr möglich. Walter Brecht schildert ein außergewöhnliches Ereignis. Die Mutter litt schon unter ihrer Krebserkrankung. Dennoch ist das, was passierte, nicht unbedingt mit dieser in Einklang zu bringen.

    »Als ich ein anderes Mal allein mit Mama auf dem Sofa saß, seufzte sie leicht, und als ich zu ihr aufsah, gewahrte ich, daß ihr Gesicht plötzlich blaß war und sie mit zur Lehne geneigtem Kopf zu meinem Entsetzen die Pupillen so nach oben verdrehte, daß ich nur mehr das fahle Weiß der Augäpfel wahrnahm. Vielleicht war es mein jammerndes Geschrei, das sie nach wenigen Minuten wieder ins Bewußtsein zurückrief. Sie konnte sich an nichts mehr erinnern und tat alles, um mich zu beruhigen.«

    8

    Diese Art von Anfall ist im Nachhinein schwer einzuordnen. Aber auch er deutet auf eine grundsätzliche Leidensdisposition der Sophie Brecht hin, die nicht von der Hand zu weisen ist. Nicht ganz ohne Spott und Bitternis schreibt Brecht 1919, also ein Jahr vor dem Tod der Mutter, in einem Gedicht:

    »Meine Mutter zählt bald 50 Jahr

    Von denen dreißig sie am Sterben war.«

    9

    Es finden sich autobiografische Aufzeichnungen, die dem Inhalt des Gedichts entsprechen. Nähme man es wörtlich, so wäre die Mutter schon lange vor ihrer organischen Erkrankung und zehn Jahre vor der Geburt ihres ersten Sohnes leidend gewesen; und dies als Dauerzustand.

    Der Tod der Mutter war dann allerdings ein derart einschneidendes Ereignis, dass Brecht jeglichen Zynismus verlor, obwohl sein Bruder Walter dies leise bezweifelte. Eine gewisse, immer wieder in den Vordergrund tretende Scheinheiligkeit in seinen Memoiren ist allerdings nur schwer zu übersehen. Er begründete seine Zweifel damit, dass Brecht am Abend des Todes der Mutter wie immer ausgelassen in seiner Mansarde gefeiert habe. Auch war er bei ihrer Beisetzung auf dem Protestantischen Friedhof in Augsburg nicht einmal zugegen. Zuvor besuchte er sogar eine literarische Veranstaltung. War das Trauerverweigerung oder einfach eine andere, unkonventionelle Art von Trauer? Wie dem auch sei: wohlfeilen Bewertungen sollte man sich bei diesem sensiblen Thema enthalten.

    Man deutete dies alles als Widerstand der Doppelmoral gegenüber, die in der Familie geherrscht habe. Denn: Berthold Friedrich Brecht, der Vater, wusste sich zu trösten, schon vor dem Tod seiner Frau.

    »Um Sophie Brecht im Haushalt zu entlasten, wurde im April 1910 die Hausdame Marie Röcker eingestellt. Da die Mutter zwischen ihr und ihrem Mann prompt ein intimes Verhältnis vermutete, musste sie im Mai schon wieder gehen. Röcker kehrte zunächst in ihre Heimatstadt Ulm zurück, wohnte aber ab 1914 wieder in Augsburg, diesmal in der Rosenaustraße, wo sie häufig Besuch von Brechts Vater erhalten haben soll. Im Juni 1918 kehrte sie in den brechtschen Haushalt zurück, um die zunehmend von ihrer Krankheit gezeichnete Mutter zu pflegen, die sich der nun permanenten Anwesenheit Röckers wohl nicht mehr erwehren konnte. Diese verblieb bis zum Tod des Vaters 1939 im Hause Brecht und wurde in dessen Testament mit 12000 Mark bedacht.«

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    Entgegen dem äußeren Anschein war Brecht zutiefst getroffen vom Tod der Mutter. Er hielt seine Gedanken in seinen Notaten fest und flieht dabei in die Rolle der »dritten Person« – nur um Abstand zu gewinnen und Trauer und Leid so besser ertragen zu können: »Einer sieht eine gemeine Person und sagt: Meine Mutter zum Beispiel war niemals, keine Minute ihres Lebens, so gesund wie diese.«

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    Nimmt man diese Aufzeichnungen ernst, heißt das nichts anderes, als dass Brecht seine Mutter niemals gesund und unbelastet erlebt hatte. Er kannte sie nur als still leidende Frau, missverstanden und offenbar nicht immer gut behandelt vom Vater. Brecht unterstellt sogar, dass die Mutter schon vor seiner Geburt, also quasi schon immer, krank gewesen war. Es bleibt ungeklärt, ob er irgendwann einmal die Depression und die Krebserkrankung auseinanderhalten konnte oder ob beide nicht zu einem einzigen schlimmen Leidenszustand verschmolzen, ein allumfassender Zustand der Bedrückung, der in der Familie herrschte und der zwangsläufig seine Spuren hinterließ. Selbst wenn Walter Brecht die gemeinsam verbrachte Kindheit und Jugend eher als Idyll zeichnet: Eine intakte Familie als sozio-kulturellen Hintergrund des großen Autors Bertolt Brecht gab es nicht.

    Dass Brecht dies möglicherweise bewusst im Dunkeln beließ, bei diesem Thema nicht gern länger verweilte, wird man ihm kaum verdenken können. Tatsächlich aber gibt es eine dichte Indizienkette, die ihren Anfang schon in der Kindheit nimmt und die den Schluss nahelegt, dass die eigene früh ausgebildete Wehleidigkeit und die Entwicklung seines künstlerischen Potenzials in irgendeiner Weise in Verbindung stehen. Denn offenbar war es wirklich so: Ähnlich wie Brecht seine Mutter niemals als gesund wahrgenommen hatte, war es in seiner Familie umgekehrt auch mit ihm. Er galt als schwieriges Kind und zwar von Geburt an. Mutter und Sohn mussten frühzeitig regelmäßig zur Kur, 1905 erkrankte Brecht schlimmer, und dies war keineswegs das erste Mal. Wiederholt litt er unter Halsschmerzen, und gleich nach seiner Zeit in der Schule am Stadtpflegeranger, im Juli 1908, musste er »wegen Nervosität« abermals mit seiner Mutter zur Kur. Stand diese »Nervosität« in Verbindung mit dem bevorstehenden Schulübertritt? Hatte der Zehnjährige Angst davor, in ein neues soziales Umfeld zu gelangen und sollte dazu eigens vorbereitet, psychisch »ins Lot gebracht« werden?

    Es gibt nicht viele Schriftsteller des Ranges Brechts, bei denen bezüglich ihrer Jugend die Quellenlage so gut ist. Früh führte der junge Autor Tagebücher. Eines von ihnen, das inzwischen berühmte Tagebuch No. 10, ist erhalten. Es berichtet über die zweite Hälfte des Jahres 1913: Die Zählung, die von Brecht selbst stammt, mag möglicherweise der Selbststilisierung dienen. Denn sie unterstellt, dass es zu dieser Zeit schon etliche frühere Tagebücher gegeben habe. Wie dem auch sei: Sie weist darauf hin, wie früh er mit autobiografischen Aufzeichnungen dieser Art, anders ausgedrückt: mit einer intensiven Beschäftigung mit sich selbst, dem eigenen Ego, begonnen haben muss.

    Das überlieferte Tagebuch gibt dann auch Auskunft über Dinge, die im zweiten Halbjahr 1913 schon nichts Neues mehr, bereits ein gewohnter Aspekt der Vita des Schülers waren und die sich wie ein roter Faden durch die Aufzeichnungen ziehen: Immer wieder schreibt er von der Herzkrankheit oder den Beklemmungen, die er auf das Herz zurückführt. Das erfährt der Leser fast unvermittelt und gleich zu Beginn der Berichtszeit seines Tagebuchs: »Habe wieder Herzbeschwerden!«

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    Es liegt nahe, dass Brecht schon in den vorangegangenen, nicht erhaltenen Aufzeichnungen über Dergleichen schrieb. Phasenweise klagt er nun täglich wegen seiner Gesundheit: »Jetzt, mittags, Rückfall. – Stechen im Rücken.«

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    Diese Beschwerden konnten so arg werden, dass sie einhergingen mit schlimmen Angstzuständen. Zwei Vorfälle kurz hintereinander, die Brecht in seinem Tagebuch festhält, seien zitiert:

    »Abends heim. Die folgende

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