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Fahrt und Fessel
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eBook393 Seiten5 Stunden

Fahrt und Fessel

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Über dieses E-Book

Als Gustav Stratil-Sauer 1924 mit seinem Wanderer-Motorrad nach Afghanistan aufbrach, konnte er noch nicht ahnen, in was für ein Abenteuer er sich bald verstricken würde: Die anfängliche Euphorie der lange geplanten und hart ersparten Forschungsreise verliert sich schnell in einer ernüchternden Realität. Das ungewohnte Reisen auf dem Motorrad über kaum passierbare Wege, fremde, oft feindselige Kulturen, Krankheiten, Stürze und Pannen lassen die Reise schnell zur Tortur werden.
Schließlich kommt es zum Extrem: Der Autor tötet in Notwehr einen Afghanen ... und landet zum Tode verurteilt im Gefängnis. Ein Justiz-Thriller beginnt.

Spannend, spannend, spannend - bis zur letzen Seite.

When Gustav Stratil-Sauer set out to explore Afghanistan with his Wanderer motorcycle in 1924, he could not imagine what a thrilling adventure his trip would soon become. After he had left Leipzig, Germany, he had to experience the challenge of travelling on pre-war roads and in countries which were rarely visited by foreign people at the time.
Falls, injuries, break-downs, diseases and hostile communities nearly cost him his life. In the end he shot a nomad in self-defence. Sentenced to death by the Afghan court, his voyage went beyond control ... and the book turns into a criminal justice thriller.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum8. Jan. 2014
ISBN9783942153201
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    Buchvorschau

    Fahrt und Fessel - Gustav Stratil-Sauer

    Karte

    Gustav Stratil-Sauer

    Geboren am 26. Mai 1894 in Fulnek (Nord-Mähren), österreichischer Staatsangehöriger, Verh. mit Dr. Lotte geb. Buchheim. Gestorben am 25. November 1975 in Klosterneuburg.

    Die Person Prof. Gustav Stratil-Sauer lässt sich kaum in das Schema eines durchschnittlichen Hochschulgelehrten zwängen: Als Geograph begab er sich mehrere Male auf abenteuerliche Reisen, wozu als besondere Leistung die Erstdurchquerung der Wüste Lut (Südostpersien), der heißesten Wüste der Erde, zu zählen ist. In Auswertung der Erfahrungen dieser Reisen verfasste er über 100 wissenschaftliche Arbeiten, deren Schwerpunkte in den Bereichen Wirtschafts-, Verkehrs- und Stadtgeographie liegen.

    Ein erstes Studium brach Gustav Stratil-Sauer bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges ab (Jura und Musikwissenschaft), war nach 1918 Mitbegründer des Hilfsvereins Deutschböhmen und Sudetenland und begann gleichzeitig das Studium der Geographie, Geologie, Mineralogie und Geschichte, vorerst an den Universitäten von Wien und Berlin, später an der Universität Breslau. Dort wirkte er in seinen letzten Studienjahren als Assistent am Geographischen Institut bei Prof. W. Volz und zog mit diesem nach seiner Promotion (1922) als Assistent an die Universität Leipzig (1923-1931). 1937 habilitierte er sich an der Universität Leipzig und 1939 an der Universität Wien, wo er einen Lehrauftrag erhielt. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er an die Universität Wien zurück, wurde 1954 zum Universitätsprofessor ernannt und lehrte dort bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1964. Mit der Absicht, der Wissenschaft und ihren Verbänden in seinem Land in ihrem Existenzkampf zu helfen, gründete Prof. Gustav Stratil-Sauer 1949 den Notring der wissenschaftlichen Verbände Österreichs und die Arbeitsgemeinschaft für Kunst und Wissenschaft, denen er bis 1967 als Generalsekretär vorstand und die heute nicht mehr aus dem kulturellen Leben Österreichs wegzudenken sind.

    Kernpunkte seiner Arbeit als Geograph waren aber die zahlreichen Reisen, die ihn in z. T. abgelegene Gebiete führten und ihm das Material zu seinen wissenschaftlichen Arbeiten lieferten: 1924-1926 über den Ostpontus (Türkei) und den Orient nach Kabul (Afghanistan), 1928 durch Polen nach Russland bis zur Wolga, 1929 durch Ungarn und Jugoslawien nach Albanien, 1931-1933 durch den Balkan und den Orient nach der Wüste Lut (Bericht in dem zusammen mit seiner Gattin verfassten Reisebericht »Kampf um die Wüste«), 1942 Türkei (Trapezunt), 1943 nach Makedonien und Albanien, 1956 nach Peking, Tschungking und Schanghai und 1957, 1958, 1959 und 1964 nach dem Ostpontus (Nordosttürkei).

    Das geographische Werk von Prof. Gustav Stratil-Sauer weist in sachlicher Beziehung geomorphologische, wirtschafts-, verkehrs-, siedlungs- und bevölkerungsgeographische Arbeiten auf und umfasst in räumlicher Hinsicht Gebiete des Donau- und Sudetenraums, Südosteuropas, in jüngster Zeit Chinas und vor allem des Vorderen Orients. Es umfasst über 100 wissenschaftliche Arbeiten und an die 800 Artikel in Fachzeitschriften; zu wissenschaftlichen Sammelwerken schrieb er 14 Beiträge, darunter für die Große Illustrierte Länderkunde des Bertelsmann-Verlags (1963, China).

    Neben zahlreichen Tapferkeitsmedaillen aus den beiden Weltkriegen (13) wurde Prof. Gustav Stratil-Sauer mit dem Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Kl. (1960), der Ehrenmedaille der Stadt Wien in Gold (1964), dem Großem Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich (1967) und dem Großen Verdienstkreuz der BRD (1964) ausgezeichnet.

    Seine liebste Freizeitbeschäftigung war das Komponieren, er schrieb einige Kompositionen, die zum Teil auch aufgeführt worden sind.

    »Vielfach haben Forscher die Schilderung ihrer Reise zusammen mit ihren wissenschaftlichen Resultaten veröffentlicht. Ich sehe davon ab, persönliche Erlebnisse mit wissenschaftlichen Ergebnissen zu verquicken. Während meine geographischen Beobachtungen an anderer Stelle erschienen sind und noch erscheinen werden, sind hier meine allgemeinen und menschlichen Ergebnisse niedergelegt, die sich an den Menschen und an die Allgemeinheit wenden.«

    Nüssen bei Leipzig, August 1927.

    G. Stratil-Sauer

    Wohin gehen wir denn?

    Immer nach Hause.

    (Novalis)

    Erster Teil.

    Eingang.

    Wünschen und Werden.

    - Reisevorbereitungen -

    Leipzig, am 1. Mai 1924.

    Hochverehrter Herr Graf!

    Im Herbst gedenke ich, ein dreißigjähriger Geograph, eine Reise von Leipzig nach Afghanistan anzutreten. Warum ich dies tue, und weshalb ich Ihnen davon schreibe, das lassen Sie mich im folgenden erklären:

    Vor kurzer Zeit hielt mein Lehrer, Geheimrat Volz, einen Vortrag über seine Forschungen im Urwald von Sumatra. Er sprach vom Dämmer des Rimba, der Mensch und Tier in seinen zwingenden Bann schlägt, von Urmenschen und Königstigern, vom Labyrinth der Riesenbäume und von dem Wunder der Farben, die der Tropenmorgen über den Horizont gießt. Kontraste und Harmonien, Bilder und Gestaltungen, alles war ihm frei aus der Fülle eines großen Erlebens zugeströmt. Noch weiß ich, wie ich an jenem Abend daheim versuchte, dem eben empfangenen Eindruck von neuem Gestalt zu verleihen, und wie vergeblich all mein Mühen war; denn die Bilder, die mir die Erinnerung wachrief, waren gleich starren Photographien ohne Schmelz und Farbe.

    Diese Stunde brachte mir eine bittere Erkenntnis, die weit mehr betraf als mein armes Eigenschicksal: die geistige Not der heranwachsenden Wissenschaftler. Fast alle unsere Lehrer konnten in ihrer Jugend in die Welt hinausziehen, um an der wachsenden Weite der Erfahrung ihr Wissen zu vertiefen; und wir? Wir kennen das Heulen der Granaten, wir kennen die müde Resignation von Abenden, da wir über den Büchern der Alten am Schreibtisch gesessen; aber wir kennen nur solche Entdeckungsreisen, die man mit dem Finger auf der Landkarte macht, und die einem nicht mehr geben können, als man in sie hineindeutelt. Unsere Lehrer schöpfen aus dem Grunde eines reichen Eigenerlebens, wir Jungen sind auf Erlernen allein angewiesen.

    Diese ganze Generation, die sich rüstet, die Kanzeln der Universität zu besteigen, kann gar keinen anderen Gesichtspunkt haben als den ihrer Schüler, da sie ihnen an Erleben nicht um einen Zoll voraus ist, und da doch lebendige Wissenschaft stets im Erleben verwurzelt ist. Die Angehörigen unserer Generation sind unterernährt an persönlichem Erleben, sind Gebetmühlen im Winde der Zeit, die das nachplappern, was andere empfunden und erschaffen haben.

    Die Wissenschaft ist wesenhaft bestimmt von ihrem Mittler, von der Generation, welche sie trägt. Doch die heutige Jugend muß in dem fruchtbarsten Entwicklungsstadium, wo die Seele noch proteisch neue Formen sucht, um darin ihrer Zeit und ihrem Wesen eigensten Ausdruck zu geben, im übernommenen Dogma der Alten erstarren. Und selbst im peinlichsten Übernehmen und Nachahmen kann es ihr nicht gelingen, das geistige Format ihrer Lehrer zu erreichen.

    So schließt sich der tragische Kreis, der in eiserner Umklammerung unsere Jugend gefangenhält. Spätere Generationen werden über uns hinwegschreiten, ohne vielleicht noch die Tragik zu ahnen, die uns den bittersten Kampf gab und doch jeglichen Sieg im Werke versagte.

    Der scholastische Geist, der sich aus den Exzerpten auf dem Schreibtische vor mir aufreckte, wuchs mir zum drohenden Gespenst. Eines sah ich mit schmerzender Klarheit: der umklammernde Ring mußte gesprengt werden. Damals nun faßte ich den Plan meiner Asienreise. Er ist nur die einfache Schlußfolgerung aus gegebenen Prämissen, ist mir nichts als das letzte Kapitel eines Entwicklungsromans, den unsere akademische Jugend heute erleben muß, ohne jedoch, ermüdet durch die Not der Konflikte, den Schluß nach eigenem Wollen wenden und aus eigener Kraft gestalten zu können.

    Dies ist die Vorgeschichte der Idee »Leipzig-Afghanistan«, die mir nicht als Expedition schlechthin, sondern als die gestaltgewinnende Sehnsucht einer ganzen Generation erscheint.

    Woher soll ich nun die Mittel zur Reise nehmen? Die wissenschaftlichen Gesellschaften, welche sonst die Auslandsreisen junger Gelehrter unterstützten, haben ihre Mittel der Inflation opfern müssen. Der Staat ist arm, Industrie und Handel müssen in dieser schweren Zeit genug für sich selbst kämpfen, so daß ich auch von dieser Seite nichts zu erwarten habe.

    Aber kann ich denn nicht wissenschaftliche Ziele mit wirtschaftlichen verbinden? Kann ich nicht der Industrie Dienste anbieten, deren Bezahlung mir die Reiseunkosten deckt? Ich faßte also den Plan, eine kleine »Mustermesse« aus den verschiedensten Erzeugnissen zusammenzustellen. Alles, was ich an und bei mir trage, soll ein Muster sein, und für jeden dieser Artikel will ich auf der Reise werben.

    Die Route der Reise ist mir eindeutig gegeben durch das Übereinstimmen kaufmännischer und wissenschaftlicher Erfordernisse: die Strecke Leipzig-Afghanistan erscheint mir besonders für kaufmännische Tätigkeit geeignet, weil sie durch Gebiete des Orients führt, die heute im wirtschaftlichen Erwachen stehen. Und die wissenschaftlichen Forschungen am Schwarzen Meer und im Hindukusch, die ich plane, schreiben mir den gleichen Weg vor.

    An Sie, hochverehrter Herr Graf, richte ich nun die Bitte: treten Sie in mein Reisekomitee ein! Ich will Ihnen dadurch weder große Mühen noch Verpflichtungen aufbürden; ich brauche ein Komitee nur zur Verwaltung der eingehenden Geldmittel, da ich mir selbst kein Verfügungsrecht darüber zugestehen möchte.

    Ich bin, Herr Graf,

    Ihr in vorzüglicher Hochachtung ganz ergebener

    Stratil-Sauer.

    Gereifte Pläne drängten zur Tat. Dieser Brief war der erste scheu tastende Schritt aus dem Reich der Träume in die Welt der Wirklichkeit. So töricht es an sich sein mag, stets wird man die Antwort des Schicksals auf den ersten Schritt, den man zu einem großen Unterfangen gewagt hat, symbolhaft für das Gelingen des Ganzen fassen und sich dadurch in der Gesamteinstellung zum Werk entscheidend beeinflussen lassen.

    Und ich bekam eine Zusage.

    Kühn gemacht durch diesen ersten Erfolg, suchte ich nun Unterstützung bei dem Meßamt für die Mustermessen in Leipzig. Ihm gegenüber wollte ich mich verpflichten, im Ausland Vorträge über die Leipziger Messe zu halten, Propagandaschriften zu verteilen, Persönlichkeiten zu suchen, die an wichtigen Orten das Meßamt vertreten könnten, und aus den einzelnen bereisten Gebieten Wirtschaftsberichte heimzusenden. Die Art, wie der Direktor Dr. Köhler mit lächelndem Schweigen meine Vorschläge entgegennahm, ließ mich immer eindringlicher reden und ihm die Vorteile meiner Angebote immer überzeugender entwickeln. Als ich geendet hatte, erklärte er sich bereit, dem Reisekomitee beizutreten. Seiner warmen Fürsprache habe ich es auch zu danken, daß der Verwaltungsrat der Mustermesse meinen Vorschlag annahm und mir eine Summe bewilligte, die etwa den fünfundzwanzigsten Teil der veranschlagten Reisekosten deckte.

    Noch fehlten freilich die übrigen vierundzwanzig Teile; allein bisher waren ja all meine Versuche erfolgreich gewesen: die Gesellschaft für Erdkunde zu Leipzig und prominente Persönlichkeiten gaben mir Empfehlungen, hatte ich nicht Grund, mit lachendem Optimismus in die Zukunft zu sehen? Geld und Aufträge mußten ja schnell zu beschaffen sein!

    So begann ich denn eine fieberhafte Tätigkeit. Eine große Schreibstube wurde bei mir aufgetan; Briefe wurden verfaßt, die den wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Zweck der Reise ausführten, meine Projekte über Auslandsreklame und Werbung für den Absatz wurden schriftlich dargelegt, Vertragsentwürfe und Empfehlungsschreiben wurden vervielfältigt, und endlich mußte jedem Schreiben noch eine bunte Karte von Asien mit eingezeichneter Route beigefügt werden. Hunderten von deutschen Firmen bot ich an, gegen Stellung eines Musters und eine kleine Bezahlung für sie arbeiten zu wollen.

    Wochenlang hatte ich an diesen Eingaben gearbeitet. Nun kam die große Stille. Aber ich hoffte, daß sie nur eine kurze Phase vor dem Sturm sei. Längst war die angesetzte Frist verstrichen, da liefen endlich und sehr spärlich die ersten Antworten ein. Und es waren Absagen.

    Ich wartete weiter, mit zäher Ausdauer und Hoffnung. Stöße von Briefen hatte ich ja versandt, und täglich brachte der Bote mir nur drei oder vier dünne Kuverts. In kühl sachlichem, in warm bedauerndem oder in überlegen abratendem Tone gab man mir Absagen. Endlich der erste Auftrag darunter: ein Muster von Zigarren. Ich atmete auf. Neue Adressen wurden gesammelt, neue Angebote verschickt. Wieder ließ mich die Mehrzahl ohne Antwort, wieder flatterten die dünnen Absagekuverts heran. Allmählich liefen jedoch ein paar Aufträge dazwischen ein. Nach vier Wochen zog ich die Bilanz aus den gesammelten Schreiben. Was hatte ich zur Vertretung bekommen? Zervelatwurst, Rasierapparate, Federhalter, Kragen, Schrauben, einen Anzug, eine Hängematte, Rasiermesser, einen Sprechapparat, Hosenträger und Krawatten. Mit manchen von diesen Artikeln würde freilich wenig im Orient zu machen sein, andere wieder versprachen selbst bei gutem Absatz wegen ihres geringen Wertes nur geringen Verdienst. Bar Geld im voraus hatte ich kaum bekommen. Einzig mit dem Photomaterial hatte ich überraschendes Glück: als erste versprachen mir die Mentorwerke eine Spiegelkamera, zu der die Firma Zeiß das Objektiv gab; dann folgte von der Dresdener Firma ein »Ica«-Apparat und Kinamo, und wenige Tage darauf schenkten mir die Agfawerke eine reiche Sendung an Films und Platten. So war ich mit deutschem Material von bester Qualität ausgerüstet, und immer wieder auf der Reise habe ich Freude an den guten Aufnahmen gehabt, die sich mit diesen Apparaten unter den meist ungünstigen Verhältnissen erzielen ließen.

    Wieder Tage des vergeblichen Wartens. Endlich zwischen Absagen nochmals ein Lichtblick: die Firma Schietrumpf-Iena schickte vorzügliche Maßstäbe, Rollbänder und Nivellierapparate als Muster, die ich zugleich für meine geographischen Arbeiten benutzen durfte, und die Lambrechtwerke in Göttingen überließen mir wertvolle meteorologische Instrumente, mit denen ich bis Afghanistan gearbeitet habe. Dann kam noch das Wertobjekt meiner Sammlung, ein Theodolit, den mir die Sartoriuswerke in Konsignation gaben, und dann wurde es still, beängstigend still. Ich war es müde geworden, neue Briefe nutzlos hinauszuschicken. Noch einmal hatte ich eine Freude, als mir eine Firma, die sich von der Vertretung ihrer Artikel nichts versprechen konnte, zwanzig Mark als unverbindliche Beihilfe schickte; doch dann war endgültig Schluß.

    Die Mittel, die ich bisher bekommen und die ich eventuell anhand meiner Muster noch verdienen konnte, reichten bei weitem noch nicht zu einer drei Jahre währenden Asienreise. Neue Versuche bei Kaufleuten zu machen, wagte ich nicht mehr. Von den erschöpften wissenschaftlichen Fonds war erst recht kein Geld zu erwarten. Ich mußte also trotz des verheißungsvollen ersten Anfanges die Vorbereitungen liegen lassen und von meiner Reise absehen.

    Aber ich wollte nicht. Es mußte ein neuer Weg gefunden werden!

    Kurz entschlossen machte ich eine Rundfrage bei den Zeitungen. Wieder legte ich meine Pläne ausführlich dar und bot mich an, Berichterstattungen zu übernehmen. Diesmal setzte wirklich ein wahrer Platzregen von Zuschriften ein. Leider kamen die ersten nicht von den Zeitungen selbst, sondern von ihrem Publikum, das durch Pressenotizen auf meine Pläne aufmerksam gemacht worden war. Einzelne Briefe enthielten Warnungen, andere gute Ratschläge, die meisten der Schreiber aber boten sich mir zur Begleitung an. Da waren Soldaten, Stenotypistinnen, Photographen, Künstler, abgebaute Beamte, Bardamen, Gepäckträger, selbst ein Nachtwächter mit »bissigem, aber gut abgerichtetem Hund«, sie alle baten darum, an der dreijährigen Forschungsreise teilnehmen zu dürfen. Freilich dachte ich nicht daran, die Bittsteller mitzunehmen; denn dann hätte ich einen Kreuzzug ausrüsten müssen. Ich wußte auch, daß bei den meisten leichtfertige Abenteuerlust das entscheidende Motiv zum Angebot gebildet hatte; doch zu oft nur mußte ich hinter diesen Worten spüren, aus welch drückender Raum- und Atemnot heraus da deutsche Jugend nach Weite für Auge und Seele schrie.

    Von den Zeitungen aber erhielt ich Absagen. Jedes Blatt hatte seine eigenen Berichterstatter im Ausland, und oft waren es Männer, deren rühmlichst bekannte Namen mein redliches Wollen nicht aufwiegen konnte. Es mußte also wieder ein neuer Weg gefunden werden!

    Aber ich wußte keinen mehr. Das stete Auf und Ab, das ewige Erwecken und Begraben von Hoffnungen hatten mich mutlos und müde gemacht. Traurig blätterte ich am Abend die Absagen durch, die jetzt schon Mappen füllten. Wie kannte ich all diese Tonarten, die kühl ablehnenden, die väterlich warnenden, die höflich bedauernden! Aber da war eine kleine Zeitung, die schrieb, daß das Angebot natürlich sofort annehmbar wäre, wenn die Reise dem Zeitungspublikum durch irgendeine Sensation schmackhaft gemacht würde, die den Zeittendenzen deutlich entspräche. Freilich, auf Sensationen war unsere Zeit gut eingespielt; allein was waren denn diese Tendenzen? Tanz, Radio, Sportmeisterschaften, was sollte mir das alles? Doch halt! Konnte ich nicht auf meiner Reise irgendeinen neuen Rekord aufstellen? Ich hatte bisher zwar gern Sport getrieben, doch ohne je daran zu denken, mich in begeisterter Hingabe um Preise und Meisterschaften zu bewerben. Gleichviel, jetzt war mir jedes Mittel recht. Wenn die sportliche Begeisterung Massen bisher kaum geübter Menschen ergreifen und zu wahren Leistungen bringen konnte, so würde auch ich einen Rekord schaffen; denn mich trug ja das Bewußtsein, durch dieses Mittel ein noch höheres Ziel zu erreichen: ich würde forschen und wissenschaftlich arbeiten können!

    Und so faßte ich den Entschluß, meine Reise mit einer Rekordfahrt zu verbinden. Ich wollte an eine deutsche Motorradfabrik mit der Bitte herantreten, daß sie mir eine Maschine für eine Reklamefahrt durch Vorderasien überlassen sollte. Ich informierte mich, ob sich die geplante Route überhaupt mit einem Kraftrad bewältigen ließe, und ich kam zu dem Ergebnis, daß der Plan zwar schwer, mit Ausdauer und Energie aber wirklich durchführbar wäre.

    Ich wandte mich also an die Wandererwerke in Chemnitz, deren Maschine mir am geeignetsten erschien, und legte einen Vertragsentwurf vor, worin ich mich verpflichtete, in bestimmten Zeitabschnitten die Route nach Afghanistan zurückzulegen, wogegen mir ein Motorrad und Fahrprämien gestellt werden sollten.

    Fast ohne noch daran geglaubt zu haben, erhielt ich eine Zusage. Am meisten bewunderte ich an meinen Helfern das eine, was ich schon an jenem Tage deutlich fühlte und auch heute noch weiß: daß sie nämlich auf meine Pläne eingingen ohne jeglichen Glauben an die Durchführbarkeit, lediglich aus Anerkennung meines guten Willens und hohen Zieles. Dieser Glaube erhöhte ihren Einsatz ja um ein Vielfaches. Jedes andere Werk wäre wie sie davon überzeugt gewesen, daß mein Versuch scheitern müßte, und hätte sich eben darum gehütet, unnütz ein so großes Opfer zu bringen.

    Welch ein Glück es war, daß gerade die Wandererwerke auf mein Gesuch eingingen, das habe ich freilich erst später in seiner vollen Größe ermessen können: vielleicht hätte ich nach Abweisung von dieser Seite noch ein anderes Motorrad bekommen können, unerschütterlich überzeugt bin ich jedoch heute noch davon, daß mein Versuch mit jedem anderen Rad unweigerlich gescheitert wäre. Das Wandererrad erwies sich während der Fahrt einerseits als leicht genug; jedes schwerere hätte ich nach irgendeinem der vielen tausend Stürze bestimmt nicht wieder aufrichten können. Andrerseits war es stark genug; jedes leichtere hätte die vielen steilen Pässe nicht bewältigen können. Und dann eben war das Wandererrad eine Qualitätsmaschine, die sich den ungeheuren Anforderungen jener Reise so weit gewachsen zeigte, daß sie selbst nach meinem schlimmsten Sturz bis zehn Meter unterhalb der Straße verbogen, aber nicht zerbrochen heraufgeholt werden konnte.

    In der Rekordfahrt »mit dem Motorrad nach Afghanistan« hatte ich nun die gewünschte Attraktion für die Zeitungen. Wieder also schickte ich meine Rundschreiben an die deutsche Presse, und diesmal bekam ich wirklich Aufträge. Wenn es auch nur sechs Blätter waren, die mich als Berichterstatter verpflichteten, so ließ sich dabei doch mit fleißiger Arbeit etwas verdienen. So war ich wieder ein gut Stück vorwärtsgekommen.

    Auch den Handelskammern legte ich meine Bitte um einen Auftrag als Berichterstatter vor, bekam jedoch nur von zweien eine Zusage: die von Leipzig unterstützte mich tatkräftig, und die von Essen gab mir Aufträge.

    Unterdessen neigte sich der Sommer zum Ende, und ich sah ein, daß ich nun keine Zeit mehr mit nutzlosen Geldgesuchen zu verlieren hatte. So rüstete ich zur Abfahrt. Einen Reisebegleiter, den ich als Helfer bei geographischen Arbeiten und als Dolmetscher in der Türkei brauchte, hatte ich bald in einem bulgarischen Studenten an der Universität Leipzig gefunden: Anastas Beschkow erklärte sich bereit, sich mir in Bulgarien anzuschließen und mit mir durch die Türkei bis zur russischen Grenze zu reisen. Und auch in dieser Wahl hat mich mein Glück nicht verlassen; denn Beschkow erwies sich mir auf der strapazenreichen Fahrt als uneigennütziger und stets gleich hilfsbereiter Kamerad.

    Während ich nun auf die Visa sämtlicher in der Route vorgesehenen Staaten vom Auswärtigen Amt, auf die Empfehlungen von Österreich und Ungarn und auf die Erlaubnis der türkischen und afghanischen Regierungen, in ihrem Lande arbeiten zu dürfen, wartete, nützte ich die Zeit, um noch das Rad einzufahren und mich in der Werkstatt zum Mechaniker auszubilden. In letzter Stunde noch äußerten die Wandererwerke: sie könnten mir die Maschine für eine solche Fahrt nur anvertrauen, wenn ich mit Seitenwagen führe. Sollte nun zuletzt alles wieder zusammenbrechen? Doch noch einmal hatte ich Glück, denn die Dessauer Anfawerke stellten mir einen guten Seitenwagen, den ich mir gleichfalls durch die Fahrt verdienen sollte.

    Dann bot sich meiner durch die notwendigen Anschaffungen schon wieder arg schmal gewordenen Börse eine letzte Sanierungsmöglichkeit: die Leipziger Herbstmesse setzte ein.

    Wenn ich heute die Reihen dichtgedrängter Meßstände sehe, denke ich jedesmal mit einem schwachen Lächeln und einem stärkeren Grauen an die Zeit zurück, wo ich unermüdlich von Stand zu Stand pilgerte, um immer wieder meine Empfehlungen, Routen und Vertragsentwürfe vorzulegen, indem ich Vertretung gegen Stellung eines Musters versprach. Es war aber eine böse Zeit: von Hunderten wurde ich abgewiesen, und die Aufstellung, die ich am letzten Messeabend daheim machte, füllte nicht einen Bogen. Diesmal bestand meine Sammlung aus Bürsten, zwei Brillen, einem Nähzeug, Stiefeln, zwei Laternen, einem Mantel, einer Geldkassette, einer Decke, einer Pistole, einer Uhr, drei Paar Sockenhaltern und einem Kleiderbügel.

    Die Meßgebäude hatten ihre Tore geschlossen, die Menge der Aussteller war nach allen Gegenden davongeflattert; nun war nichts mehr zu erreichen. Es wurde auch Zeit, daß ich mich auf meine wissenschaftliche Tätigkeit konzentrieren konnte. Viel gab es freilich nicht zu lernen, weil gerade im Ostpontus weiße Flecken auf den Karten gähnten; denn weite Gebiete waren dort bisher weder wissenschaftlich durchforscht noch überhaupt von Europäern betreten worden, und auch über den Hindukusch schwiegen die Bücher und Karten größtenteils.

    Darüber ging der September zu Ende. Die notwendigen Papiere waren eingetroffen, die Koffer waren gepackt und hatten das mit 400 Kilogramm belastete Rad bei einer Probefahrt schwer aufstöhnen lassen. An Geld waren mir nach Bezahlung der notwendigen Gebühren und der Ausrüstung noch ungefähr 3000 Mark geblieben, die ich zur Hälfte in der Komiteekasse zurückließ, während die andere Hälfte nebst Abrechnungsbuch in Gepäck und Kleidung verstaut wurde.

    Dann brach ein kühler Herbstmorgen an, der sechste Oktober, der Tag meiner Abfahrt.

    Ich hatte erreicht, was unsere arme Zeit nur wenigen noch gibt: eine Reise.

    Gewiß, dank der fortgeschrittenen Technik des Verkehrs reist man heute mehr als zuvor und oft auch weiter, als ich mich wagen wollte. Aber da diese Reisen nur Mittel sind, die weit anderen Zwecken dienen als dem Wandern und Schauen, meist nämlich dem Erwerb, so vermögen sie uns aus dem engen Kreise unseres Ich nicht hinauszuführen, weil sie uns den Weg über dem Ziel vergessen lassen.

    Die wahren Reisen aber sind reine Bewegung. Und da sie uns mehr geben, fordern sie auch mehr von uns: Vagantentum und Hingabe, die das Ziel über dem Weg vergessen lassen.

    Die Vagantenseele will nichts als schweifende Unrast, die immer zu neuen Bergen und Seen zieht, ohne ein Ende des Weges zu finden. Nimmermüde treibt es sie anderen Ufern, anderen Höhen zu, doch immer weicht der Horizont vor ihr, das dämmernde Blau ist ihr einziges Ziel. Damit sie nicht im Kristallisieren statisch wird, muß ihr die Sehnsucht stets mehr sein als die Erfüllung.

    Es ist ein weiter Weg, der um kein Ziel weiß, und reich wie die Welt ist der Wandel an Formen, die er vor dem Wandernden entfaltet. Will man nicht, gefangen im eigenen Ich, unbeschenkt vorüberziehen, so muß man wie jeder, der empfangen will, persönlichen Einsatz geben.

    Um eine fremde Welt voll zu verstehen, braucht man jene Art von Hingabe, die sich bis zur völligen Selbstaufgabe an das Andere verschenkt, ehe sie sich von ihm neu gestalten läßt. Und jede neue Landschaft verlangt wieder ein völliges Vergessen des Empfangenen, um sich voll im Betrachtenden entfalten zu können, so daß der Wandernde durch eine Kette von Metamorphosen schreitet, gegen alle Formen, die er am Wege trifft, die eigene eintauschend, bis alles, was die Außenwelt ihm geboten, ihm innerlich gleichsam organisch zu eigen geworden ist. Dann erst besitzt er jene Weite des Blickes, die ihm Jahre von bloßen Ziel-Reisen nicht zu geben vermögen, und führten sie ihn um die Erde. Dann nämlich sieht er erst hinter der Mannigfaltigkeit der Formen ihren ewigen, umfassenden Sinn, dann erkennt er in jedem fremden Besonderen die Verkörperung eines vertrauten Wesens, bis er alle Erscheinungen in ihren Übergängen und ihrem Vergänglichen als ein Gleichnis eines Ewigen verstehen kann.

    Dies alles mag hier wie blasse Selbstverständlichkeit erscheinen, wie eine Einstellung, die man kaum bewußt zu wollen braucht, um sie schon im Wandern zu leben. Und doch ist gerade diese Hingabe an das Fremde so schwer, daß nicht Wissen um sie und Willen zu ihr hinreichen, um sie zu verwirklichen. Heute, da ich äußeren Abstand gewonnen von meiner Reisezeit, weiß ich, daß es fruchtlos ist, sich um die innere Einstellung zu mühen, wenn man sich nicht zuvor bedingungslos bereit findet, auch die äußere Form des Fremden anzunehmen. Gerade der Orient zeigt sich uns ja in einem dichten Netz von Äußerlichkeiten, die uns als Höflichkeitsphrasen, als sinnlose Gebärden erscheinen. Aber gerade das, was wir als äußerlichste Form empfinden, ist so tief im Orientalen verwurzelt, daß man sich nur an ihm zum Innern seiner Seele herantasten kann.

    Und ohne seinen Blickpunkt vom Zentrum der fremden Seele aus zu nehmen, wird man weder Sitten noch Kultur noch Landschaft dieser Welt verstehen können, nicht einmal die Sprache ihrer Menschen. Was nützt das eifrige Studium aller grammatischen Regeln, was die Kenntnis sämtlicher Begriffe, wenn man nicht weiß, was sie meinen? Denn mit dem gleichen Begriff verknüpfen sich für den Orientalen andere Vorstellungen als für uns. Gewiß, den Sinn der Konkreta kann man durch Anschauung und Beobachtung erlernen; doch schwer wird es dem Außenstehenden schon, die Abstrakta und die Verben zu verstehen; denn was heißt dem Orientalen Wahrheit, was heißt ihm streben? Es hat mich viel bitteres Lehrgeld gekostet, dies alles zu lernen. Bei verwandten Völkern bieten ja, wenn einzelne Begriffe sich nicht decken, der Zusammenhang und die allgemeinen Gesetze der Verknüpfung ein Analogon, aus dem das Fehlende zu gewinnen ist. Hier aber fügt sich das Denken anderen Gesetzen, so daß logisch bündig erscheint, was wir nie als Schluß gelten lassen würden. Und so sieht sich der Fremde wieder vor die alte Forderung gestellt: willst du irgend etwas verstehen von dieser Welt, so mußt du sie aus ihrer eigenen Perspektive betrachten und nicht aus deiner, so mußt du an sie ihre eigenen Maßstäbe anlegen und nicht deine, die hier nur ein verzerrtes Bild geben.

    Ich war Geograph genug, um Sehnsucht nach fremden Ländern zu haben und nach ihrem geistigen und seelischen Besitz. Ich hatte mich lange genug gesehnt, um glauben zu dürfen, daß diese Sehnsucht allein reinste Erfüllung fordern dürfte.

    So begann ich meinen Weg. Wohin würde er mich führen?

    Hafen von Passau.

    Kasanenge im Donaudurchbruch durch das Banatergebirge.

    Stimmen des Stromes.

    - Der Bogen zum Orient. -

    Durch die vertrauten, noch morgendlich stillen Straßen von Leipzig fuhr ich in den Oktobermorgen hinaus, und die Stimmung eines Abschieds auf ungewisse Zeit ließ mir all dies leis verklärt erscheinen. In Chemnitz verabschiedete ich mich von den Herren der Wandererwerke; mit sorgenvollem Kopfschütteln prüften sie nochmals die überladene Maschine durch und entließen mich mit mehr Zweifeln als Zuversicht, mehr Wünschen als Erwartungen. In Regensburg erreichte ich die Donau, die den ersten Teil meiner Reise wesentlich bestimmen sollte. Und weiter ging es auf bekannten Wegen: Passau, Linz, die Wachau, Krems, der Kahlenberg und, o wie freudig ich es grüßte, Wien.

    Übrigens hatte ich all diese Tage gegen ein heftiges Fieber zu kämpfen gehabt, das ich einer bösen Erkältung auf der Herbstfahrt verdankte. Hier nun kam es so heftig zum Ausbruch, daß ich einige Tage das Hotelzimmer nicht verlassen konnte und das gerade in Wien, wo tausend Erinnerungen aus der Studentenzeit mich hinauslockten! Ich lag ruhelos und lauschte bis spät in die Nacht dem Singen der Geigen, den Donauwalzern und Wiener Liedern, die gedämpft von unten, vom Café, durch das Klirren

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