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Om mani padme hum: Meine China- und Tibetexpedition
Om mani padme hum: Meine China- und Tibetexpedition
Om mani padme hum: Meine China- und Tibetexpedition
eBook578 Seiten6 Stunden

Om mani padme hum: Meine China- und Tibetexpedition

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Über dieses E-Book

Finanzielle Schwierigkeiten halten Filchner nicht davon ab, sich nach seiner Antarktis-Erfahrung wieder dem Inneren Asiens zuzuwenden. Auf eigene Kosten unternimmt er 1926 seine zweite Tibetexpedition. Auf seiner zweijährigen Reise durch Zentralasien durchquert Filchner die Wüste Gobi und Tibet. Dabei legt er 6000 km zurück und 160 Stationen an, auf denen er geophysikalische Messungen unternimmt. Präzise beschreibt er seine Erfahrungen und Schwierigkeiten bei der Fahrt durch Sumpf, Steppe, Treibsand, Fels und beim Kontakt mit anderen Kulturen – dabei immer auf eins bedacht: die "Verständigung und Freundschaft unter den Völkern und Frieden in der Welt" aufzubauen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum20. Sept. 2013
ISBN9783843803960
Om mani padme hum: Meine China- und Tibetexpedition

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    Buchvorschau

    Om mani padme hum - Wilhelm Filchner

    unberechenbar.«

    1.

    VON MOSKAU BIS CHORGOS

    Eine höchst unerwartete Wirkung hatte meine Unternehmung, noch ehe sie wirklich begonnen. In Moskau hielt man mich für einen Sowjetkommissar! Diese Ehre verdankte ich meiner Reisetracht, die ich auf früheren Expeditionen erprobt hatte und im moskowitischen Winter auch bewährt fand: dunkelbrauner Lederanzug, Gamaschen, Pelzmütze. Nichts lag mir, weiß Gott, ferner, als den russischen Machthabern ins Handwerk zu pfuschen. Aber überall – nicht nur auf den Straßen, auch in den amtlichen Departements – wurde ich wieder und wieder als Kommissar der Sowjets angesprochen.

    Manche wollten es mir gar nicht glauben, dass ich Deutscher sei; sie schienen diese meine Versicherung eher für irgendeine List zu halten und lächelten vielsagend. Ich sähe gar zu waschecht aus »wie ein Volkskommissar von 1917«.

    Im Übrigen hat man mich in Moskau, sobald meine Person und meine Ziele bekannt wurden, viel zu häufig – entschieden über meinen Bedarf hinaus – photographiert, namentlich für Arbeiterzeitungen; auch an Interviewern fehlte es nicht.

    Schließlich hatte ich nicht übel Lust, mich selbst einmal zu fragen, wer und was ich eigentlich sei? Wie ich hierher in diese russische Welt kam? Und was ich denn noch weiter, viel weiter draußen im Herzen Asiens suchte?

    Meine wissenschaftlichen Aufgaben standen mir freilich klar genug vor Augen. Und im Besonderen lockte und lockt mich zeitlebens die Sphinx, als die das innere Asien noch immer anzusehen ist, trotz allem, was von Forschern verschiedenster Nationalität bereits zur Ergründung dieser Länderstrecken und ihres bunten Völkergemischs geleistet worden ist.

    In unseren Tagen kommt wohl für jeden reiferen Deutschen, der aufs Ganze blickt, noch etwas anderes hinzu: der Wunsch, seinem schwer heimgesuchten Land zu nützen, soweit ein Einzelner es irgend vermag. Ein Gedanke, der in dem deutschen Forschungsreisenden den Drang nach Wirken in der Ferne – und hoffentlich auch ein wenig in die Ferne – jedenfalls höchst lebendig erhalten muss.

    In mehr als einem Sinn kann es für das heutige Deutschland nur dienlich sein, außer seinen Kaufleuten, Technikern, Diplomaten, Künstlern usw. auch ganz unabhängige, besonnene, weltkundige und wissenschaftlich gut gerüstete Männer »draußen« zu haben, deren einzige Aufgabe das Suchen und Sehen, das Forschen ist.

    Einmal darf im edlen Wettbewerb der Völker um den Fortschritt der menschlichen Erkenntnis der Deutsche vielleicht am wenigsten fehlen. Dann aber ist der zivilisatorische, kulturelle und weltpolitische Zusammenhang der Nationen auf der Erde so eng, dass kaum noch etwas von dem, was auf diesem Planeten von einem Volk irgendwie Bemerkenswertes gewollt oder unternommen wird, für ein anderes Volk ganz gleichgültig sein könnte.

    Nach alledem hat der deutsche Forschungsreisende in den exotischen Gebieten mindestens eine dreifache Aufgabe: Er ist wissenschaftlicher Arbeiter, Repräsentant seiner Heimat und friedlich schaffender Beobachter fremdvölkischen Lebens und Trachtens. Diese drei Ziele sind so innig miteinander verknüpft, dass sie sich praktisch gar nicht trennen lassen.

    Während der kaum zwei Wochen meines Aufenthalts im großen osteuropäischen Reich hatte sich mein Verlangen nach dem asiatischen Osten zu drängender Ungeduld gesteigert. Ich atmete auf, als ich endlich, am 15. Januar 1926, Moskau verlassen konnte, um mit der Bahn über Orenburg nach Taschkent zu fahren.

    Aber auch ein angeborener Trieb stieß mich wieder hinaus in die Fremde, eine schicksalsmäßige, also nicht weiter zu erklärende Bestimmung, die den einen zum Forscher werden lässt wie etwa den anderen zum Maler oder Musiker. Die Suche nach dem Unbekannten lastet als eine innere Verpflichtung auf jedem zur Forschung Berufenen.

    Am 19. Januar abends erreichte ich Taschkent, die Hauptstadt des asiatisch-russischen Syr-Darja-Gebiets.

    Ich begab mich nach dem Hotel Regina. Die Herren vom »Mittelasiatischen Meteorologischen Institut« waren liebenswürdigerweise wiederholt nach dem Bahnhof gegangen, um mich zu empfangen. Durch die erhebliche Zugverspätung hatten wir uns verfehlt. So machte ich erst am nächsten Tag die Bekanntschaft dieser ausgezeichneten Männer, die mir meine Arbeiten in Taschkent auf jede Weise erleichterten.

    Der Vertreter des Auswärtigen Amts der Sowjetunion, Herr Snamenski, war mir bei der Regelung der Zoll- und Passangelegenheiten behilflich. Auch schoss er mir einige Mittel zur Weiterreise vor. Denn bereits hier, am Anfang der Reise, war mir der Nervus Rerum knapp geworden. Ich hatte mein ganzes Geld der Firma Fausts & Cie. in Tientsin übermitteln lassen, die mich in China akkreditierte, und durch die ich also auch in der chinesischen Provinz Sinkiang, und zwar in der Hauptstadt Tihwa (Urumtschi), sofort Geldmittel erhalten konnte. Herr Snamenski ließ daher nach Sinkiang Weisung gelangen, dass die Firma Faust & Cie. mir weitere Mittel entgegensende.

    Nach dem turkestanischen Gebiet der Sowjetunion aber hatte ich nur das Allernötigste an Geld mitgenommen, da mir in Leningrad gesagt worden war, die Grenzgebiete seien ganz unsicher und dauernd von Räuberbanden heimgesucht, die namentlich auf Bargeld Jagd machten. Allein die Kosten für den Transport meines Instrumentariums waren viel größer, als ich ursprünglich gedacht hatte.

    Am 21. Januar vormittags stellte ich bei meinen Messungen fest, dass das Schleifengalvanometer, ein sehr empfindliches Instrument zur Bestimmung der Inklination¹ nicht funktionierte. Ich erbat sofort telegraphisch aus Berlin von der Notgemeinschaft Deutscher Wissenschaft ein Ersatzinstrument, das mir auch nachgesandt werden sollte. Es hat mich nie erreicht, und ich habe es schmerzlich vermisst.

    Dankbar nahm ich die zahlreichen Anregungen des Professors Gultjajew an, eines alten Forschers mit jungem Herzen, der früher viel in Turkestan und im Pamir magnetisch vermessen hatte.

    Allmählich musste ich mich nun wieder zum Asiaten umstellen und meine ganze Denkart danach einrichten. Wer in diesem Erdteil vorwärtskommen will, muss sich zu ganz anderen Ansichten bequemen, als sie dem Europäer geläufig sind. In Asien heißt die Parole sonderbar genug: »Schnell, aber langsam!«

    Am 23. Januar händigte mir das »Mittelasiatische Meteorologische Institut« ein Schreiben aus, das von Professor J. Gultjajew unterzeichnet war und in dem auf die ungeheuren Schwierigkeiten und die jammervollen Wegeverhältnisse hingewiesen wurde, die ich auf der begonnenen Expedition zu überwinden haben würde.

    Die nächsten Tage vergingen mit unterhaltsamen Beschäftigungen, Abstempelung meines Passes und Verhandlungen auf dem »Hauptzollamt für Außenhandel in Mittelasien«; mein Gepäck wurde plombiert, sodass ich von Zollschwierigkeiten an der Grenze verschont blieb. Man kam mir auf jede Weise und höflich entgegen.

    Nach einem Abkommen mit dem »Zentralobservatorium« in Leningrad gingen alle meine wissenschaftlichen Beobachtungen in zwei Exemplaren nach Leningrad zurück. Von dort sollte das Original nach Potsdam an das »Meteorologisch-Magnetische Observatorium« weitergeschickt werden, während die Kopie beim »Zentralobservatorium« in Leningrad bleiben sollte. Am 27. Januar, abends um acht Uhr, verabschiedete ich mich von meinen Taschkenter Freunden und trat die Reise in der Richtung auf Westchina an.

    Ich verließ die Hauptbahnlinie und fuhr auf einer Zweigbahn nordwärts über Tschak-pak, Aulie-ata, Merke nach Pischpek, wo mich früh am 29. Januar Dr. Woßkressenski empfing und gastfreundlich aufnahm.

    Die Arbeiten in Pischpek waren nicht vom Glück begünstigt, da schlechtes Wetter einsetzte. Meine Pischpeker Freunde halfen mir bei den Vorbereitungen für meinen Gepäcktransport und bei der Platzbelegung auf dem Autobus, der mich von hier aus nach Wjernyi bringen sollte.

    Für den Lasttransport kamen 30 Pud – ein Pud gleich 32 deutsche Pfund – infrage, wofür 50 Rubel verlangt wurden. Ich hatte Glück. Es ging gerade ein Transport ab nach Dscharkent, an die russisch-chinesische Grenze, der mein Gepäck aufnehmen konnte.

    Es gelang mir auch, einen Platz im Autobus und ferner die Erlaubnis zu erhalten, die nötigsten wissenschaftlichen Instrumente mitzuführen, da man bei dem schlechten Wetter statt der üblichen zehn nur fünf Fahrgäste zuließ.

    Am 2. Februar in der Frühe waren die Reisenden versammelt: zwei Kirgisen in guten Kleidern und dicken Pelzen, ein kräftiger Hebräer aus Kasalinsk mit großem Schnauzbart, zusammengewachsenen, buschigen Augenbrauen und ein Mechaniker der Autostation, ehemaliger Deutscher. Besonders der Hebräer nahm sich meines empfindlichen magnetischen Instruments freundlich an, das, um Erschütterungen zu vermeiden, während der ganzen Fahrt im federnden Wagen auf einem Bündel aus Pelzmänteln in der Schwebe gehalten werden musste.

    Am Pass Kurdai überschreitet wir die Wasserscheide zwischen den Flussgebieten des Tschu und des Ili, und nach 50 Stunden rattern wir bei herrlichem Sonnenschein in Wjernyi ein, wo die schöne Spazierfahrt ihr Ende findet.

    Ich begebe mich zum »Meteorologischen Observatorium«, das im äußersten Süden der Stadt am Fuß des Sailjiski-Ala-tau erbaut ist. Bei der Transportgesellschaft miete ich einen Pferdewagen zur Reise nach Dscharkent. Kostenpunkt: 65 Rubel.

    Bei Dr. Nikolai Wassiljewitsch Bespaltschew und seiner Frau, einer Polin, fand ich gastfreundlichste Aufnahme und jede nur denkbare Unterstützung. Man hatte sich hier schon um mich gesorgt. Mit gemischten Gefühlen erfuhr ich, dass ein Student verschwunden war, der wahrscheinlich auf dem Marsch von Pischpek hierher von Räubern überfallen, beraubt und erschlagen wurde.

    Wjernyi heißt kirgisisch recht klangvoll Alma-ata, auf Deutsch: »Apfel-Vater«. Dieser Name ist jetzt gebräuchlicher als der russische. Alma-ata hat ungefähr sechs Werst im Durchmesser und liegt an der blauen Alma-tinka.

    Meine Gastfreunde wurden mir außerordentlich nützlich beim Einkauf von Ausrüstungsgegenständen für die Weiterfahrt nach der chinesischen Grenze. Auch bei der Beladung meines Reisewagens, der eine Plane aus Matten und starken Holzreifen aufgesetzt hatte, half mir das Ehepaar.

    An Seilen und Netzen, die von der Decke des gewölbehaften Gerippes herabhingen, wurden im Hohlraum die empfindlichen wissenschaftlichen Instrumente aufgehängt, sodass sie vor Erschütterungen bewahrt blieben.

    So sehr mir Regierung und Bevölkerung in der Sowjetunion meine Tätigkeit erleichterten, so schwierig gestaltete sie sich in der Zone um Pischpek und Wjernyi. Ich kam dort in das berüchtigte Erdbebengebiet, das bis zum Issyk-kul hinüberreicht, einer mächtigen Wasseransammlung zwischen dem Tarimbecken und der Balkaschniederung. Noch kurz vor meinem Eintreffen, in der Nacht vom 12. zum 13. Januar, waren die Einwohner durch einen gewaltigen Erdstoß, den ein ungeheures Getöse begleitete, in Angst und Schrecken geraten. Nahezu alle Fensterscheiben waren zersprungen.

    Was werden die nächsten Stunden bringen? Diese bange Frage las ich auf allen Mienen. Auch die liebe junge Frau Bespaltschew – sie war trotz zarter Gesundheit als Lehrerin tätig – lebte in ständiger Furcht vor neuen Erdstößen.

    Der Reisewagen, in dem das empfindliche magnetische Instrument K, an der Wagendecke aufgehängt, frei schwebend transportiert wurde.

    Seit dem schweren Erdbeben von 1887, bei dem viele Häuser samt der Kathedrale zerstört wurden und mehr als vierhundert Menschen den Tod fanden, pflegen die Einwohner von Wjernyi beim geringsten Anzeichen von Erdbewegungen ihre Häuser zu verlassen und im Freien zu kampieren.

    Während meiner Anwesenheit in dieser Stadt, in einer sogenannten »ruhigen Zwischenpause«, konnte ich meine astronomisch-erdmagnetischen Beobachtungen mit den sehr empfindlichen Instrumenten ausführen, die noch immer leichte Erschütterungen anzeigten.

    Die Erdbeben setzen so plötzlich ein, dass die Einwohner oft nicht Zeit finden, sich ins Freie zu retten. Chinesen, mit denen ich später jenseits der Grenze zusammentraf, alte, erfahrene Söhne des Reichs der Mitte, wunderten sich nicht wenig über den »Leichtsinn« der Russen, an dieser berüchtigten Stelle eine Stadt zu bauen.

    Im Altertum stand hier eine blühende Chinesenstadt. Bei einem gewaltigen Erdbeben verschwand sie von der Bildfläche. Die ganze Erdbebenzone, in alten Zeiten rein chinesisches Gebiet, wird seitdem von den Chinesen gemieden.

    Nahe dem Ostende des Issyk-kul, wo man das Epizentrum des ganzen Erdbebengebiets vermutet, und zwar westlich der Stadt Prschewalsk – nach dem unsterblichen Asienforscher Prschewalski benannt – ist übrigens noch eine andere alte Chinesenstadt versunken.

    Die Erinnerung an diese Katastrophe lebt eigenartigerweise fast ausschließlich bei den Mohammedanern fort. Heute noch bringen kirgisische Taucher oder schwere Stürme allerlei Gegenstände ans Licht, wie chinesische Siegel, Mühlsteine, Silbergerät in vielfarbiger feiner Emaillearbeit byzantinischer Richtung.

    Am 9. Februar verlasse ich Wjernyi und erreiche über Saizewka (Tschilik) und nach Überquerung des Ili bei Golubewskaja die Hauptstraße nach Dscharkent, das ich am 14. Februar betrete. In der Meteorologischen Station finde ich bei der Leiterin, Elisaweta Iwanowna Propalowa, gastliche Aufnahme.

    Ich besitze noch 17 Rubel ...

    Die nächsten Tage vergehen mit der Durchführung umfangreicher magnetischer Messungen. Höhenlage 540 Meter.²

    Die russische Transportgesellschaft »Dobroflot«, die den Wagenverkehr mit China besorgt, ist glücklicherweise erbötig, meinen Gepäcktransport, sobald er hier eintrifft, nach Kuldscha in der westlichen chinesischen Provinz Sinkiang weiterzuleiten. Für mich die Rettung, da ich erst in Kuldscha zu bezahlen brauche. Ich kann also wider Erwarten mit dem schäbigen Rest meines Reisegeldes auskommen.

    Im nahen Hospital herrschen die schwarzen Pocken und Flecktyphus. Gut, dass ich hier nicht lange zu verweilen brauche!

    Ich miete einen Wagen zur Fahrt nach Chorgos, dem russischen Grenzort gegen China. Er kostet mich zehn Rubel. Das ist noch zu machen.

    Am 19. Februar lege ich die 37 Werst bis Chorgos (1 Werst = 1,066 km) in viereinhalb Stunden zurück. Es ist heute »Roter Tag«, also Feiertag der Sowjetunion. Die Arbeit ruht, überall Trubel und Feststimmung!

    Wir passieren verfallene und verlassene Kirgisenstädte, müssen eisführende, tiefe Bergbäche durchqueren, wobei der Proviant verdirbt. Dann ist die Zweigstelle des »Dobroflot« in Chorgos erreicht, wo ich schon angemeldet bin.

    Ich habe die Ehre, im Amtsgebäude untergebracht zu werden. Ein Russe, der als Kriegsgefangener in Berlin war, wird mir zugewiesen. In seiner dreijährigen Gefangenschaft in Deutschland hat er tatsächlich einige Sätze Deutsch gelernt, die er voller Stolz immer wieder ableiert.

    Abends besucht mich ein russischer Kosak, der eben von Kuldscha kommt. Er bringt mir Grüße von der Firma Faust & Cie. aber kein Geld.

    Leider kann ich nicht gleich nach Kuldscha weiterfahren, da nur Wagen nach China durchgelassen werden, die einen Erlaubnisschein des chinesischen Konsuls in Alma-ata besitzen. Ich muss also hübsch warten, bis ein solcher Wagen von dort zufällig eintrifft oder mir aus Kuldscha herübergesandt wird.

    In den paar Tagen Wartezeit trifft aus Dscharkent ein russischer Kurier ein, pockennarbig, mit helmartiger Tuchmütze und dem roten Sowjetstern, Aktentasche, Säbel und Revolver. Er ist sehr freundlich zu mir, stinkt wie die Pest und säuft mir den Tee weg. Damit ich ihn besser verstehe, brüllt er aus Leibeskräften.

    Er erbietet sich, auf seinem Weg nach Kuldscha drüben im Chinesischen für mich einen Wagen zu besorgen und mir hierher zu senden. Ich bin aber noch nicht sicher, ob es klappt. Meine Lage ist nicht ohne Spannung. Ich besitze noch ganze sechs Rubel.

    Auch der Natschalnik der Tscheka kommt zu mir und kündigt mir baldige Hilfe an.

    Wie bin ich froh, als am Vormittag des 22. Februar sich tatsächlich ein Mohammedaner bei mir meldet, der mit seiner Telega von der chinesischen Seite gekommen ist und sich erbietet, mich für 35 Rubel nach Kuldscha zu befördern!

    Vorerst sind aber noch allerhand Formalitäten zu erledigen. Der Oberbeamte der Zollstation, ein Pole mit Fliegerabzeichen, erledigt die Zeremonien, die Tscheka untersucht meinen Pass. Von meinen Instrumenten werden die Plomben abgenommen. Dann kreuzt noch ein hübsches junges Mädchen aus dem Büro der Tscheka meinen Weg und wünscht mir mit freundlichen Worten viel Glück. Ich nehme das als gutes Zeichen.

    Um vier Uhr nachmittags rollt mein Wagen aus dem mit der Sowjetfahne geschmückten Zollhaus hinab zum gewaltigen Schotterbett des Chorgos-Flusses, dessen Geröll sich in einer Breite von sechs bis sieben Kilometern ausdehnt.

    Ein richtiger Weg besteht nicht. Das Geröllfeld selbst bildet den Weg. Für meine Sorgenkinder, die Instrumente, ist’s eine heikle Sache, diese Hindernisbahn gewaltiger Geröllblöcke heil zu überwinden.

    1 Unter Inklination oder Neigung der frei schwebenden Magnetnadel ist die Abweichung von der waagerechten Richtung zu verstehen.

    2 Sämtliche in diesem Buch angeführten Höhen sind vom Verfasser bestimmt worden, und zwar in China mittels Siedethermometer und Aneroiden, in Tibet dagegen ausschließlich mithilfe des Siedethermometers.

    2.

    NACH KULDSCHA

    Es war nicht gerade ein Einzug mit fliegenden Fahnen. Man kommt von Russland aus nicht einfach nach China hinein, indem man seinen Pass an der Grenze vorweist und den Kopf schüttelt, wenn die schlitzäugigen Zöllner, die Hand an der Mütze, fragen: »Haben Sie nichts zu verzollen?«

    Der Übergang ist unangenehm, selbst auf den Hauptrouten, weil Chinesen und Sowjets gerade in der Gegend um Chorgos wie Hund und Katze einander gegenüberstehen. Jeder wird argwöhnisch untersucht und keiner durchgelassen, der irgendwie verdächtig scheint.

    Die Grenzwächter sind mit der Waffe schnell bei der Hand. Der Schmuggel blüht hier wie kaum anderswo.

    Meine Expedition begann noch mit besonderem Pech. Zwar besaß ich ein Visum von der Chinesischen Gesandtschaft in Berlin, zwar hatte diese für mich einen großen Pass in Peking angefordert, zwar war auch durch die Sowjetbehörden alles musterhaft vorbereitet – aber der Hauptpass, der mir von Peking aus quer durch China entgegengeschickt wurde, erreichte mich viel zu spät.

    Gerade da, wo man dieses Dokument am nötigsten braucht, an der chinesischen Grenze, saß ich fest!

    Ich säße heute noch dort, wäre ich nicht den Zollwächtern in längeren Aussprachen als völlig »harmlos und ungefährlich« erschienen.

    Dann nochmals Kontrolle an einem chinesischen Fort in Rechteckform mit acht Meter hohen Mauern. Militärisches Trompetensignal. Die Tore werden geschlossen. Die Sonne geht unter. Wir aber fahren weiter nach dem nahen Ort Schin-pan-dsi, wo wir die Nacht im Hof eines Sarten verbringen. Nachts werde ich drei Mal geweckt – durch die Polizei.

    Tags darauf fahren wir weiter. Mein mohammedanischer Wagenführer leiert fast ununterbrochen singende Gebete herunter, dazwischen schiebt er gelegentlich einen Fluch ein oder eine Aufmunterung an die Pferde.

    Auf schlechten Wegen, die durch den Nachtfrost steinhart geworden sind, kommen wir über sumpfige Stellen, die glücklicherweise gleichfalls gefroren sind, und fahren ansteigend am Rand vereister Wasserrinnen zwischen mannshohen gelben Schilfwäldern hindurch. Manchmal glaubt man sich in den Dschungel versetzt.

    Hinter Tata-chan hört der Sumpf auf. Wir meiden größere Orte, um schneller vorwärtszukommen. Dann passieren wir die chinesische Festung Kure im Südwesten der Stadt Suidun und schlagen unser Quartier in der östlichen Vorstadt von Kure auf, im Mohammedanerviertel. An den starken Mauern der Festung finde ich Sprengspuren und höre von einem heroischen Vorgang aus jüngster Zeit.

    Der Kommandant der Festung war während der Revolution ein Mandschu, der die neue Regierung nicht anerkennen wollte. Übergeben wollte er die Festung nicht. Er sprengte sie mit dem Pulvermagazin in die Luft und kam dabei samt seiner ganzen Familie ums Leben.

    Am nächsten Tag wird der Weg besser. Es geht auf die 18 Meter hohe Terrasse des Ili-Tals, dann wieder hinab in die Ebene, und von Neuem hinauf über Lößboden.

    In der Ferne eine breite Baumfront und ein Fabrikschornstein. Es wird warm, die vereisten Schneewege verwandeln sich in Schmutzbrei, und ich bin heilfroh, endlich Kuldscha mit seinen hübschen Wohnhäusern und Gärten zu erreichen.

    Die Ringmauer dieser viel umkämpften Stadt ist nicht annähernd so gut erhalten wie die von Kure. Ich begebe mich nach dem Gebäude der Firma Faust & Cie., wo ich gutes Unterkommen finde.

    Kuldscha ist billig. Hier kosten acht Pfund Brot oder zwei Pfund Fleisch nur 40 Pfennig.

    Ein russischer Rubel gilt fünf chinesische Rubel. Scheußliches Papiergeld ist hier in Kurs. Die Vierrubelscheine werden z. B. in vier Teile zerrissen, von denen jeder dann einen Rubel wert ist. Dieser wird nochmals auseinandergerissen, dann haben wir 50 Kopeken. Auch die Wohnungen sind sehr billig.

    Der Konsul der Sowjetunion empfängt mich liebenswürdig.

    Pater Hufnagel von der Steyler Mission bemüht sich freundlichst um mich und nimmt mich später sogar ganz in sein Haus auf, wo ich einen Teil meiner Messungen durchführen kann. Er macht mich auch mit einem bei ihm wohnenden Emigranten, dem Esten Beick, bekannt, der vor der Revolution Direktor des Zoologischen Museums in Wjernyi war und jetzt hauptsächlich ornithologisch für das Berliner Museum für Naturkunde arbeitet.

    Es ist recht warm geworden. Der Schnee schmilzt, und auf den Straßen steht der Morast so hoch, dass die Räder der Wagen zur Hälfte darin versinken. Die Oberfläche des Schmutzbreis sieht aus wie glänzender Asphalt. An einigen Stellen sind überdeckte Löcher von solcher Tiefe, dass die Pferde bis über den Bauch einbrechen.

    Gerade ist ein Einspänner samt Insassen und Kutscher in ein solches Loch gefallen. Die Menschen konnten sich retten, das Pferd ist ertrunken, der Wagen konnte erst nach Wochen herausgezogen werden. So geschehen im Mittelpunkt der verkehrsreichsten Straße von Kuldscha!

    Auf Anraten Pater Hufnagels verpflichte ich Herrn Beick als Begleiter, damit er mich neben seinen zoologischen Arbeiten bei meinen Messungen unterstütze und mir die meteorologischen Arbeiten abnehme. Beick bringt mehrere Ausrüstungsgegenstände mit, u. a. ein Zelt, einen Schlafsack, Spaten, Beile, Laternen und ein Gewehr. Als Diener und Pferdewärter miete ich Iwan Amanatschikow und später Joseph, einen chinesischen Katholiken, den mir Pater Hufnagel empfahl. Joseph ist zwar faul, versteht aber mit Pferden umzugehen und zu kutschieren. Iwan behauptete, das auch zu können; er hatte aber, wie sich bald herausstellte, weder von Pferdepflege noch vom Lenken eine Ahnung.

    Auch hier in Kuldscha herrschen die Pocken. Die Europäer lassen sich impfen.

    In Kuldscha und Umgebung gibt es eine Kreuzspinne, die Karakurt. Der Biss des Weibchens ist zu gewissen Zeiten unfehlbar tödlich. Um die Spinne abzuwehren, hilft nach Aussage der Eingeborenen nur Schafpelz, dessen Geruch sie nicht verträgt. Die Eingeborenen behaupten, eine Karakurt könne 100 Kamele töten.

    Kuldscha wimmelt gegenwärtig von Emigranten, teilweise herrscht Wohnungsnot, da immer noch mehr zuwandern. Unter diesen Umständen ist inzwischen ganz gewiss auch in Sinkiang eine starke Teuerung eingetreten, wie sie ja damals bereits in Kansu eingesetzt hatte.

    Jenseits des südlichen Ili-Ufers haben sich Mandschus angesiedelt, die dann verarmt sind.

    Die hiesigen Tarantschi – Sarten – und ihre mohammedanischen Brüder hoffen auch heute noch, dass es ihnen mithilfe der Russen gelingt, die Chinesen eines Tags aus Kuldscha zu vertreiben. Ist Kuldscha aber einmal fest in russischen Händen, dann besitzt Russland zugleich den Schlüssel für Sinkiang.

    Die Chinesen wissen das sehr wohl. Deshalb sind sie außerordentlich misstrauisch gegen alles, was aus Russland kommt. Von britischer Seite wird der Argwohn sicher nicht gedämpft werden, denn Großbritannien mit seinem indischen Besitz hat das größte Interesse daran, dass Sinkiang chinesisch bleibt. Im Besitz von Sinkiang würde der Russe am Nordfuß des Glacis von Indien stehen, am Nordrand des tibetischen Hochplateaus!

    Für die Reise nach Tihwa (Urumtschi), der Hauptstadt von Sinkiang, werden neu angeschafft: Büchsen mit Brot, Zucker, Würsten, Salz, Nadeln, Kerzen, Tee; ein Schlafsack aus schwarzem chinesischem Filz, Decken, Wagenschmiere, Salpeter, Hufeisen, Hufnägel, kurz, ungefähr der vereinigte Bedarf einer Haus- und einer Fuhrhalterei. Dazu kamen: zwei Leiterwagen mit Plandecken und fünf Rosse.

    Aus Chorgos das durch »Dobroflot« beförderte Gepäck nach Kuldscha zu bekommen, ist wieder eine sehr problematische Angelegenheit. Zum Glück helfen mir der Direktor der Sowjetbank in Kuldscha, früher Auskunfteivertreter in Berlin, sowie prächtige deutsche Landsleute, die in Kuldscha industriell tätig sind, die Herren Unger und Haeberlein mit ihren Familien.

    Endlich sehe ich meine fahrende Habe wieder.

    Heute, am 8. März, geht in Kuldscha das Gerücht, die Stadt werde bald durch ein Erdbeben versinken. Diese unheimliche Prophezeiung wird durch Mongolen verbreitet.

    Von Chorgos bis Kuldscha war seinerzeit durch die Russen eine telegraphische Verbindung geschaffen worden. Jetzt ist die Leitung vollständig verwahrlost. Und wo der jeder Entfernung spottende Zauber des Meldedrahts fehlt, ist Raum für eine uralte, dunkle Macht: das Gerücht. So wird jetzt hier u. a. erzählt, der Gouverneur von Sinkiang beschlagnahme alle Wagen für Kriegstransporte nach dem Osten! – Das wären ja verlockende Aussichten für mich ...

    Am 13. März erhalte ich Nachricht, dass die zweite Rohfilmsendung in Deutschland finanziell gesichert ist und dass sie, über Tientsin, im Dezember in Kansu sein kann.

    Eine anmutige Abwechslung harrt meiner noch für die Weiterreise. Der Zustand der Landstraßen in diesen Gegenden erlaubt ein Fahren nur in den Rinnen der Radspuren. Auf der Strecke Kuldscha–Tihwa–Lantschou wechselt nun die Radspurweite zu wiederholten Malen, und den Karren müssen deshalb auf dieser Linie, auf der ich doch vorwärtskommen möchte, jedes Mal andere Holzachsen eingesetzt werden. Von Kuldscha bis Tihwa mittlere Spurweite, bis Su-tschou breite, bis Lantschou ganz breite! Später hingegen, von Lantschou bis Sian-fu, muss die Spurweite immer wieder verengert werden! Das gibt Beschäftigung, wenn auch keine sinnreiche ...

    Ich kann eine gute Telega, d. h. einen kurzen Planwagen, und drei Pferde für 2400 Ili-Rubel (entspricht ungefähr 900 Mark) kaufen. Die Wagen, von denen einer ein richtiger, ehemaliger deutscher Leiterwagen ist, werden in Ordnung gebracht. Der Letztere wird mit einem Plandach aus Matten überdeckt. Er soll die Instrumente aufnehmen, die an Seilen im Inneren aufgehängt werden.

    Während der Vorbereitungen erleben wir eine ungewöhnliche Episode aus dem Dasein der Haustiere. Fünf Kühe attackieren einen Hund, der sich mit einem Kalb zu schaffen macht, stoßen ihn mit den Hörnern und trampeln ihn tot, ehe jemand eingreifen kann.

    Am 27. März stehen die wohlbepackten Wagen fahrbereit. Die Lasten sind gleichmäßig verteilt; an Instrumenten stoßfrei aufgehängt: der magnetische Theodolit, der Hildebrand-Theodolit, der Filmapparat und zwei Kassettenkoffer. Der Leiterwagen, auf dem ich persönlich reise und den Iwan kutschiert, enthält: drei Filmkisten, eine Kiste mit photographischen und Filmreserveteilen, zwei Kassettenkoffer, den Filmapparat, die Theodolite, drei Stative, die botanische Presse, ein Zelt, eine Gebrauchskiste mit Kochgeschirr und Iwans Kiste. Der zweite Wagen, den Joseph lenkt und auf dem Beick sitzt, enthält: zwei Filmkisten, eine schwere Kiste mit Berechnungsformularen, Baro- und Thermograph, Erdinduktor, Meta-Brennstoff, zoologische Kiste, zoologischen Koffer, einen Ruhesack, Spiritusbehälter, einen zweiten Wagensack, einen Sack mit Reis und dergleichen mehr. Auf beide Wagen ist ferner gleichmäßig verteilt mein chinesisches Silbergeld, die sogenannten »silbernen Schuhe« – halbnussgroße Silberbrocken.

    Ja, diese Instrumente! Sie haben mir viele Sorgen bereitet! Aber ohne sie wäre mein ganzer »Ausflug« zum Scheitern verurteilt gewesen. Und dabei wären sie beinahe gleich zu Anfang zum Teufel gegangen ...

    Die letzten Tage vor der Weiterreise waren ausgefüllt mit Einladungen beim Dao-tai, mit dem ich sehr gut stehe. Sein Sohn studiert in Berlin Ingenieurwesen.

    Kuldscha soll eine alte Mongolenstadt sein und ehemals »Stadt der goldenen Säule« geheißen haben. Die Bauten, in denen die Mongolenfürsten wohnten, hätten nahe dem Westende der jetzigen Stadt gestanden. Dort soll sich die erwähnte, ganz mit Gold bedeckte Säule befunden haben!

    Das muss wirklich schon ein ganzes Weilchen her sein ...

    3.

    ZUM SAIRAM-NOR. MEIN WISSENSCHAFTLICHES PROGRAMM

    In milder Märzluft verlassen wir am 28. März, begleitet von zwei gut aussehenden chinesischen Soldaten auf staubiger Straße Kuldscha. In der Ili-Niederung sind große Rauchwolken zu sehen.

    Alljährlich setzt die Bevölkerung hier Schilfwälder und Gestrüpp des Flusstals in Brand, um Weideplätze für das Vieh zu erlangen.

    Natürlich werden dadurch große Mengen von Enten-, Gänse- und Fasanennestern vernichtet. So nimmt das geflügelte Wild umso schneller ab, als die Fischer auch noch das alte Schilf anzünden, um sich von der Mückenplage zu befreien.

    Abends treffen wir in der Kreisstadt Sui-ting ein, die etwa 45 Kilometer westlich von Kuldscha in einer Meereshöhe von 570 Metern liegt.

    In Sui-ting und in Kure dürfen nur Chinesen innerhalb der Stadtmauern wohnen. Auch hier ist ein Missionshaus der Steyler Mission, das dem Pater Colomb unterstellt ist.

    Der persische Flieder hat schon große Knospen, die wilden Aprikosen stehen in voller Blüte. Duft und Farben des Frühlings verschönen die unvollkommene Welt.

    In und bei der Stadt viele Pappeln mit ungezählten Nestern der Saatkrähen; der Eiersegen hat schon begonnen. In der Nähe entströmen Felsrissen glühendheiße Schwefeldämpfe. Aus den Niederschlägen werden Soda und Salpeter gewonnen.

    Mein erstes Ziel ist der Sairam-See, den ich über den 2500 Meter hohen Talki-Pass im Borochoro-Gebirge erreichen will.

    Poststraße Prschewalsk–Ssassanowka nach dem Erdbeben; Straße mit Rad- und Hufspuren im Vordergrund (Foto: N. W. Gubareff)

    Fan Dao-tai, der Minister des Äußeren in Urumtschi; hingerichtet am 7.7.1928 (Foto: Wilhelm Filchner)

    Denkmal für den Generalgouverneur von Sinkiang (Foto: Wilhelm Filchner)

    Einen Tagemarsch von Sui-ting entfernt, erblicken wir am Fuß des Borochoro-Gebirges die Ruine eines alten niedrigen Turms. In früheren Zeiten diente er einer primitiven, aber damals ausreichenden Telegraphie: Er gab durch Feuersignale Nachrichten über Land. Von hier ab beginnt der Aufstieg in der Talki-Schlucht.

    Mehrere Tage fahren wir auf leidlich guten Wegen bergan zwischen wilden Espen, Wildäpfeln und Fichten. Doch ist von den ehemals großen Wäldern nicht mehr viel übrig, da die Eingeborenen mit ihren Lagerfeuern recht unvorsichtig umzugehen pflegen.

    In der oberen Knieholzzone zeigen sich Rehe, Luchse, Bären, Murmeltiere; auch der Schneeleopard ist hier zu Hause. Wilde Tauben gibt es in Hülle und Fülle. Viel Wacholder gedeiht, außerdem eine merkwürdige Pflanze, eine Sturmhutart, deren Wurzel giftig ist.

    Frauen, die ihre Ehemänner schnell loswerden wollen, kochen die Wurzel, tauchen den Rock des Mannes in die Flüssigkeit und lassen ihn wieder trocknen. Zieht der Mann den Rock über, dringt das Gift durch die Poren in den Körper und vollendet das Zerstörungswerk in wenigen Stunden. Es ist das wahre »Nessusgewand«. Ich freilich habe keine Angst vor diesen Wurzeln; ich rechne mich zu den »geborenen« Junggesellen.

    Droben auf dem verschneiten Kamm des Passes kommen wir zu einem kleinen Tempel, den die Borotala-Mongolen angelegt haben sollen. In seiner Nähe türmen sich drei Meter hohe Steinhaufen. Balken, Stöcke und Bretter mit Tuchwimpeln sind hineingesteckt und mit Schnüren untereinander verbunden. Diese Steine und sonstigen naiven Symbole wurden von den Eingeborenen mühsam nach der Passhöhe geschleppt und dort den Göttern geopfert.

    Zu unseren Füßen dehnt sich der unendliche Sairam-See. Grellweiß leuchtet seine Eisdecke herauf. Er scheint sehr tief zu sein. Kein Trinkwasser für Menschen. Es wirkt abführend und schmeckt nach Glaubersalz. Doch die Tiere der Wildnis lieben es.

    Zwei Stunden muss ich im eiskalten Wind hinter der Blockhütte stehen, bis endlich die beiden Wagen auf dem steilen Weg sich langsam heraufschieben. Die Pferde dampfen und müssen alle 20 Meter verschnaufen.

    Zuletzt, als es gar nicht mehr geht, müssen alle fünf Pferde in einer Reihe nacheinander vor jeden der zwei Wagen gespannt werden. Gerade ist der Letzte der beiden auf der schmalen Plattform angelangt, gerade habe ich den Kutschern zugerufen, sie sollen Steine hinter die Räder legen, um ein Abrollen zu vermeiden, da sehe ich, wie Iwans Wagen, der mit den unersetzlichen Instrumenten, sich langsam in Bewegung setzt und auf dem zum See abfallenden Nordhang ins Rutschen kommt!

    Der Atem stockt mir. Iwan wirft sich jammernd zu Boden, bekreuzigt sich und heult. Der Wagen aber, der jetzt ein ungeheures Tempo erreicht, schießt mit den wildgewordenen drei Pferden an der Deichsel in wahnsinniger Fahrt talwärts – über einen kurzen Sattel hinweg, einer kleinen Kappe zu, hinter der es keine Rettung mehr gibt.

    Die verzweifelten Pferde versuchen beizudrehen. Doch vergebens, ihre Kraft reicht nicht aus, den Wagen aus seiner Bahn zu bringen, geschweige denn abzubremsen. Nur noch Sekunden, dann ist das Unglück geschehen! ...

    Ich schließe instinktiv die Augen, um dieser Katastrophe nicht machtlos zuschauen zu müssen.

    Machtlos – Katastrophe! Diese beiden Gedanken schießen durch mein Hirn. Denn hier ist alles verloren. Die Pferde tot, der Wagen zerschellt und all die kostbaren Instrumente zerschlagen! Die Expedition schon an ihrem Anfang gescheitert, an ein Weiterreisen ohne Instrumente nicht zu denken ...

    Iwan, ein Bild des Jammers, heult und beteuert seine Unschuld, aber ich treibe ihn an, mitzukommen. So laufen wir, so rasch unsere Füße uns tragen, der Unglücksstelle zu, die unseren Blicken verborgen ist.

    Trümmer und zuckende Glieder erwarten wir zu finden. Doch, was sehen wir?

    Hinter dem Abhang, kurz vor dem tiefen Absturz zum vereisten See, hat sich ein 60 Meter breites, anderthalb Meter tiefes Schneeband gebildet – und dahinein sind Wagen und Pferde gerast!

    Immerhin müssen die Tiere schwer verwundet, wenn nicht gar tot, und die Instrumente beschädigt sein!? Aber noch einmal haben wir ungeheures Glück. Zwar ragen nur noch die Köpfe der Pferde aus dem Schnee, und der Wagen liegt ganz auf der Seite, die Tiere bluten aus den Mäulern, vom Wagen ist fast nichts zu sehen; aber, gottlob, es gelingt uns, nach stundenlanger, mühevoller Arbeit die Pferde auszugraben und ohne schwere Verletzungen zu bergen.

    Dann machen wir uns an den Wagen, der ganz zerlegt und Stück für Stück herausgeschaufelt werden muss.

    Beick und ich schuften aus Leibeskräften, der Chinese Joseph bedient die Pferde; nur Iwan hindert uns an der Rettungsaktion, indem er ständig heulend meine Knie umklammert und meine Hände küssen will.

    Ein paar kräftige Ohrfeigen, die Joseph ihm verabreicht, kühlen sein Temperament etwas ab und bringen ihn langsam zur Vernunft. Joseph ist’s dann auch, der einige Bretter aus dem Tempelchen holt, mit denen wir ein notdürftiges Lagerfeuer anzünden. Aber die erstarrten Glieder werden an diesem Tag nicht mehr warm.

    Meine einzige Sorge gilt nun den Instrumenten. Der Filmapparat ist herausgefallen, auf einen Felsen aufgeschlagen und – nicht beschädigt! Noch viel besser erging es den andern Instrumenten: Der tiefe und weiche Schneepuffer hatte verhütet, dass etwas Ernstliches geschah.

    Vor Dankbarkeit meinem gütigen Geschick gegenüber kann ich in dieser Nacht kein Auge schließen. Allerdings hätte ich auch so nicht schlafen können, weil wir keine wärmenden Decken mithaben und nun wie die Hunde frieren müssen.

    Während der letzten Wochen ist Schnee gefallen. Der dämmernde Tag bringt Tauwetter. Der Weg wird so glatt und schlüpfrig, dass wir Mühe haben, die Wagen in die Ebene des Sairam-Sees hinabzubefördern, nach der kleinen chinesischen Siedlung San-tai am Fuß der von dem mächtigen Bergmassiv Tuchumtu gegen den See vorgetriebenen Schuttterrasse. Dort schließt ein Schmied die vielen Wunden des Wagens.

    Kurz vor San-tai gehen die Pferde Iwans nochmals durch, und um ein Haar wäre der Instrumentenwagen den Steinhang hinab in den See gestürzt.

    Infolge der schlechten Erfahrungen mit Iwan muss ich mich entschließen, von jetzt ab den Instrumentenwagen selbst zu kutschieren. So setzen wir vier Tage später, nachdem ich inzwischen meine ersten astronomischen und magnetischen Messungen beendet habe, den Weitermarsch programmgemäß ostwärts fort.

    An einem der folgenden Abende untersuche ich Filmapparat und Kassetten auf Schäden. Gottlob, alles in

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