Die Hymne des Fußballs: "You'll never walk alone" – Eine Kulturgeschichte
Von Malte Oberschelp
()
Über dieses E-Book
Mehr von Malte Oberschelp lesen
Der Fußball-Lehrer: Wie Konrad Koch im Kaiserreich den Ball ins Spiel brachte Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenReds: Die Geschichte des FC Liverpool Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Ähnlich wie Die Hymne des Fußballs
Ähnliche E-Books
»Madame Bovary, c'est nous!« - Lektüren eines Jahrhundertromans Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenBeim Wort genommen: 65 Gedichte gedeutet Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen...Als die Noten laufen lernten... 2.1 Librettisten und Texter A-M: Geschichte und Geschichten der U-Musik bis 1945 Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWunderkinder: Rio Gebhardt und sein Bruder Ferry Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWillkommen, bienvenue, welcome!: Musical an der Volksoper Wien Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen...Als die Noten laufen lernten... 1.3 Komponisten R bis Z: Geschichte und Geschichten der U-Musik bis 1945 Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenLudwig Hirsch: I lieg am Ruckn - Erinnerungen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenInka Bause: Moderatorin. Sängerin. Botschafterin. Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Unvollendeten: Berühmte Werke, die keinen Abschluss fanden. Bücher, Bauten, Symphonien, Filme Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer Countertenor Jochen Kowalski: Gespräche mit Susanne Stähr Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenFritz Wunderlich: Eine Biografie Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAlban Berg und der Blaue Vogel: Eine Auto-Biographie Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenKomponisten auf Sommerfrische in Bad Ischl: Johannes Brahms, Anton Bruckner, Johann Strauss (Sohn), Franz Lehár, Leo Fall, Oscar Straus, Emmerich Kálmán Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenChristian Morgenstern: Eine Biografie Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenCarlos Kleiber: Eine Biografie Bewertung: 5 von 5 Sternen5/5Hans Süper - Mein Leben mit der Flitsch Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWege, die man nicht vergißt: Entdeckungen und Erinnerungen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen...Als die Noten laufen lernten...Band 2: Kabarett-Operette-Revue-Film-Exil. Unterhaltungsmusik bis 1945 Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenLichtungen 175: Schwerpunkt: Vielleicht war es der Wind. Literatur aus Slowenien Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenBernd Lafrenz - Mit Shakespeare unterwegs: Aus dem Leben des fulminanten Solo-Komödianten Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenSchön ist die Welt: Schauplätze der Musik Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenFranz Lehár: Der letzte Operettenkönig. Eine Biographie Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenEin Duo kommt selten allein (eBook): Komödiantische Erinnerungen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenVerweigerte Heimat: Der Komponist des 'Schwarzwaldmädel' Léon Jessel Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenKleine Kolumnen für's Klo Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen...Als die Noten laufen lernten... 1.1: Komponisten A bis G: Geschichte und Geschichten der U-Musik bis 1945 Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Faust-Puppenspiele der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenTot in München: Friedhofsgeschichte(n) aus acht Jahrhunderten Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenBernstein. West Side Story Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Sport & Freizeit für Sie
Bubishi: An der Quelle des Karatedô Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5Bodyweight Training Anatomie: Der vollständig illustrierte Ratgeber fur mehr Kraft, Leistung und Muskelaufbau Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenKompaktkurs Rücken: Anatomie - Stretching - Muskeltraining Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Grundtechniken des Karate: Vom Weißgurt bis zum 1. Dan Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenFilmverrückter und Serienjunkie: Stars, Filme und Serien Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenCalisthenics – Das Bodyweight-Training für Einsteiger und Profis: Das Esquire-Programm endlich auf Deutsch Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWu: Ein Deutscher bei den Meistern in China Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWild Swimming Kroatien und Slowenien: Entdecke die schönsten Quellen, Flüsse, Wasserfälle, Seen und Strände in Kroatien & Slowenien Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenRun Fast Eat Slow: Nährstoffreiche Rezepte für Sportler Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenKrafttraining - Die 100 Prinzipien: Handbuch für Trainer, Betreuer und Athleten Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenGjogsul: Militärischer Nahkampf in der NVA Bewertung: 5 von 5 Sternen5/5Die Anatomie der Sportverletzungen: Der illustrierte Guide für Prävention, Diagnose und Behandlung Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWerbelüge "Starker Rücken": Mit richtigem Gehen, Stehen und Sitzen Rückenschmerzen effektiv vorbeugen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenTigersturz und Ringerbrücke: Effektive Trainingsmethoden für Kampfkunst und Sport Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenPsoas-Training: Der große Lendenmuskel als Schlussel zu körperlichem, seelischem und emotionalem Wohlbefinden Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenFaszientraining: Die SimpleFit-Methode Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenLeben mit einem Navy Seal: 31 Tage Training mit dem härtesten Mann der Welt Bewertung: 5 von 5 Sternen5/5Der Muskeltrainer: Workout - Ernährung - Motivation Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenHooligans: Eine Welt zwischen Fußball, Gewalt und Politik Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenFit ohne Fitnessstudio - Maximale Fettverbrennung mit Intervalltraining Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenQi Gong im Sitzen: Für Büroarbeiter, Geh- und Stehbehinderte und andere Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenUnd Äktschn!: 111 Spiele für Jungschar, Zeltlager und Co. Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer direkte ZEN-Weg zur Befreiung: Unterweisungen eines westlichen Zen-Meisters Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie richtige Ernährung für Sportler: Optimale Energie für maximale Leistung Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenKoshiki Kata: Die klassischen Kata des Karate-do Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenEnzyklopädie Pilates: Anatomie - Balance - Beweglichkeit Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMentale Wettkampfvorbereitung für Sportschützen: Gewehr – Pistole – Bogen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenNaturzeit mit Kindern: Wie ihr aus einer Wanderung ein Kinder-Abenteuer macht Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Rezensionen für Die Hymne des Fußballs
0 Bewertungen0 Rezensionen
Buchvorschau
Die Hymne des Fußballs - Malte Oberschelp
Berlin
Ein Lied für alle Lebenslagen
Es gibt einen Ort, an dem der Anfang und das Ende dieser Geschichte so nahe beieinander liegen wie nirgendwo sonst. Dieser Ort ist das Heiligengeistfeld in Hamburg.
Am Rande des Feldes, auf dem schon um 1900 Fußball gespielt wurde, steht das Stadion des FC St. Pauli. Hier holten Anfang der 1990er Jahre die Fans den Song „You’ll never walk alone nach Deutschland. Das ist das Ende der Geschichte. Für ihren Anfang steht, was dreimal im Jahr neben dem Stadion stattfindet: der Hamburger Dom. Es ist ein traditionsreicher Rummelplatz wie dieser, auf dem der ungarische Schriftsteller Ferenc Molnár vor über 100 Jahren regelmäßig spazieren geht. Im Budapester Stadtwäldchen schaut er den Schaustellern und den Dienstmädchen zu, die sich auf den Karussells vergnügen. 1909 schreibt Ferenc Molnár ein Theaterstück, das auf diesen Beobachtungen basiert: „Liliom
handelt vom Leben und Sterben des Karussellausrufers Liliom, der sich in eines der Dienstmädchen verliebt.
Dieses Theaterstück bildet den Anfang der langen Geschichte von „You’ll never walk alone. Weil „Liliom
auch in den Vereinigten Staaten sehr erfolgreich ist, entsteht 1945 in New York das Musical „Carousel, dessen Höhepunkt der Song „You’ll never walk alone
bildet. Die Verfilmung des Musicals sieht Ende der 1950er Jahre der junge Liverpooler Musiker Gerry Marsden. 1963 macht er „You’ll never walk alone" mit seiner Band Gerry and The Pacemakers zu einem englischen Nummer-eins-Hit, der schon bald darauf von den Fans des FC Liverpool gesungen wird. Von dort aus verbreitet sich der Song auf der britischen Insel und kommt irgendwann auch im Stadion am Rande des Hamburger Heiligengeistfeldes an.
Genau 50 Jahre ist es dieses Jahr her, dass die Musical-Ballade „You’ll never walk alone in Liverpool zu einer Fußball-Hymne wurde. Das ist Anlass genug, sich mit der Geschichte des Songs zu beschäftigen, der im europäischen Fußball ungebrochen populär ist. „You’ll never walk alone
beschimpft nicht den Gegner und überhöht nicht die eigenen Erfolge. Die Tatsache, dass der Song von jedem Verein in jedem Land gesungen werden könnte und bei so unterschiedlichen Klubs wie Liverpool, Celtic Glasgow, FC St. Pauli, Borussia Dortmund, Eintracht Braunschweig, Austria Wien, FC Brügge und Feyenoord Rotterdam regelmäßig gesungen wird, macht ihn zu der Hymne des Fußballs. Daneben geht es in diesem Buch darum, ein wenig Ordnung in die ausufernde Vielfalt der Zusammenhänge zu bringen, in denen einem das Lied oder auch nur sein Titel inzwischen begegnet – im Fußball und anderswo.
Ein paar Beispiele? Frank Sinatra, von dem im Kapitel Hollywood noch die Rede sein wird, hat „You’ll never walk alone 1989 bei der Amtseinführung des republikanischen US-Präsidenten George Bush gesungen. Die Opernsängerin Renée Fleming tat 2009 Gleiches bei der Inauguration des Demokraten Barack Obama. Der Bordcomputer in „The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy
hat „You’ll never walk alone gesampelt, in der Muppets-Show piepste eine Raupe den Song, während sie durch ein sturmumtostes Feld kroch. „You’ll never walk alone
lief 2001 nach der Drei-Minuten-Meisterschaft von Schalke 04 und bei den Emmy Awards in Los Angeles in Erinnerung an die Toten der Anschläge vom 11. September.
I’ll never walk alone, You’ll never walk alone, We’ll never walk alone. No one walks alone.
Natürlich heißt die offizielle Geschichte des FC Liverpool „You’ll never walk alone. Und die des FC St. Pauli. Das Buch „And you’ll never walk alone
wirft den Blick zurück auf die großen Tage des FC Celtic Glasgow im Europapokal. Eine Ausgabe des japanischen Fußballmangas „Whistle, eine Fußball-Kantate sowie eine Broschüre über die religiöse Bedeutung des Fußballsongs – sie alle tragen den Titel „You’ll never walk alone
.
Aber „You’ll never walk alone ist darüber hinaus zu einem Schlagwort geworden, das in jeden Kontext zu passen scheint – und damit, so scheint es, klammheimlich wieder zu seinen Wurzeln jenseits des Fußballs zurückgekehrt ist. „You’ll never walk alone
heißen ein deutscher Aufsatz über „Das sozialdemokratische Projekt in der globalisierten Welt, die Autobiografie eines englischen Pfarrers, ein Schweizer Kunstprojekt, ein niederländischer Bildband über die Kulturgeschichte des Schuhs und die Festschrift zum 35-jährigen Jubiläum der Marburger Buchhandlung Roter Stern. Nicht zu vergessen das Buch über das Hotel Bangkok Hilton sowie ein Roman des „Sportfreunde Stiller
-Schlagzeugers Florian Weber.
Der Songtitel ist sogar zum Werbeslogan geworden. In einem TV-Spot des amerikanischen Pampers-Herstellers Procter & Gamble sangen ein Dutzend Mütter den Song, während sie ihre Kinder versorgten. Und auch der britisch-niederländische Konkurrent Unilever warb in einer Anzeige für das Deodorant RexonaMen Sport mit „You’ll never walk alone".
Wie konnten diese fünf Worte solche Bedeutung bekommen? Es liegt jedenfalls nicht daran, wie der Literaturwissenschaftler Karl-Heinz Bohrer glaubt, dass der Song aus dem englischen Bürgerkrieg im 17. Jahrhundert stammt und schon die Soldaten Oliver Cromwells „You’ll never walk alone" gesungen haben. Die tatsächlichen Gründe für das Doppelleben des Songs als amerikanischer Standard und als europäische Fußballhymne stehen in diesem Buch.
Als habe die Alte mit der Neuen Welt über den Atlantik hinweg Pingpong gespielt – so entsteht der Song „You’ll never walk alone". Von Budapest nach New York, von New York nach Hollywood, wieder zurück nach Liverpool und schließlich nach Hamburg. Es ist eine Geschichte, in der sich die europäische und amerikanische Populärkultur des 20. Jahrhunderts – Hans Albers und Frank Sinatra, Fritz Lang und Orson Welles, Kurt Weill und Richard Rodgers, Giacomo Puccini und Oscar Hammerstein, Gerry and The Pacemakers und Elvis Presley, Ingrid Bergman und Shirley Jones – gegenseitig auf vielfältige Weise überblenden.
Daher ist dieses Buch kein klassisches Fußballbuch. Es geht auch um die Kaffeehaus-Tradition in Österreich-Ungarn, um die jüdische Emigration nach Amerika, die Geschichte des Broadway-Musicals, die Erfindung des Cinemascope-Verfahrens und die Liverpooler Beatmusik-Szene der frühen 1960er Jahre. Dafür entschädigen die letzten beiden Kapitel, in denen der FC Liverpool und der FC St. Pauli im Vordergrund stehen. Überhaupt spielt die Stadt Hamburg, auch das sei gesagt, von Zeit zu Zeit so etwas wie die heimliche Hauptrolle.
Darüber hinaus erzählt dieses Buch auch die vergessene jüdische Geschichte von „You’ll never walk alone: Der ungarische Jude Ferenc Molnár schreibt das Theaterstück, der Wiener Jude Alfred Polgar verhilft ihm mit seiner Übersetzung zum Durchbruch, der amerikanische Jude Richard Rodgers und sein Partner Oscar Hammerstein, dessen Vorfahren deutsche Juden waren, machen aus dem Theaterstück das Musical. Und ohne den englischen Juden Brian Epstein wäre die „You’ll never walk alone
-Version, die vor genau 50 Jahren aufgenommen wurde und ins Stadion des FC Liverpool gelangte, überhaupt nicht auf den Markt gekommen.
So steckt in „You’ll never walk alone nicht nur der klassische jüdische Broadway und die ausgelöschte deutsch-jüdische Symbiose Österreich-Ungarns, wie sie Friedrich Torberg in seinen Büchern „Die Tante Jolesch
und „Die Erben der Tante Jolesch" so unnachahmlich beschrieben hat. Vielleicht kann man die Tatsache, dass dieser Song heute in deutschen Fußballstadien gesungen wird, auch als einen Kommentar zur Geschichte des Landes verstehen, das seine jüdischen Fußballer 1933 aus den Vereinen ausschloss und seinen jüdischen Nationalspieler Julius Hirsch 1943 nach Auschwitz deportierte.
Wenn in Hamburg Dom ist und der FC St. Pauli ein Heimspiel hat, dann geraten der Anfang und das Ende dieser Geschichte auf das Lebhafteste durcheinander. Dann laufen die Fans, die im Millerntor-Stadion vielleicht eben noch „You’ll never walk alone" angestimmt haben, an Riesenrad, Schießbude und Geisterbahn vorbei. Nur wenige bleiben vor dem altmodischen Karussell stehen, auf dem die Pferdchen im Kreis fahren und allenfalls ein paar Kinder auf die nächste Runde warten. Und wenn der Lärm der neumodischen Fahrgeschäfte nebenan weniger laut wäre, während sie die kreischenden Menschen gen Himmel schleudern, und die Lichter weniger grell, vielleicht würde dann für einen Augenblick aufscheinen, wie der Karussellausrufer Liliom und das Dienstmädchen Julie sich hier gerade begegnen.
Budapest
Junger Mann zum Mitreisen gesucht
Die Geschichte von Liliom und Julie beginnt mit einem hässlichen Gerücht. Der berühmteste Schriftsteller der Stadt soll seine Frau und seine kleine Tochter geschlagen haben? Heute würde man sagen: ein Fall für die Behörden. Vielleicht würden besorgte Nachbarn das Jugendamt alarmieren, ein Richter spricht dem Mann ein Hausverbot aus, Frau und Kind finden Zuflucht bei Verwandten oder im Frauenhaus. Und der Fall kommt zu den Akten.
Doch solche Behörden gibt es 1907 in Budapest nicht. Der Fall kommt nicht zu den Akten, sondern in die Zeitung. Für die Klatschkolumnisten und Literaten in den Kaffeehäusern der Stadt gibt es damals nur ein Thema: die Ehe von Ferenc Molnár und Margit Vészi. Der Schriftsteller und Theaterautor, dessen Komödie „Der Teufel" gerade weltweit Furore macht, hat die Tochter eines einflussreichen Journalisten erst 1906 geheiratet. Ein Jahr später wird die gemeinsame Tochter Márta geboren, doch die Ehe ist bereits zerrüttet.
Prompt tauchen die ersten Gerüchte auf, Molnár habe Frau und Tochter geschlagen. Heute würde ein Prominenter in einer solchen Situation sagen: Das ist eine Kampagne der Medien. Molnár verteidigt sich in der Zeitung. Er veröffentlicht im Blatt „Budapesti Napló ein Feuilleton mit dem Titel „Das Schlummermärchen
, das die Geschichte eines groben, aber liebevollen Vaters erzählt. Mit anderen Worten: Ferenc Molnár beschreibt sich selbst.
Er ist dafür bekannt, gegenüber Frauen dominant, besitzergreifend und eifersüchtig zu sein. Insofern ist das „Schlummermärchen nicht nur eine öffentliche Rechtfertigung, sondern auch ein verstecktes Schuldeingeständnis. Die Vorwürfe beschäftigen Molnár. Als er 1909 einen Stoff für sein nächstes Stück sucht, findet er ihn – wie fast immer – bei sich selbst: „Das Schlummermärchen
wird zur Grundlage seines berühmtesten Theaterstücks,