Christian Morgenstern: Eine Biografie
Von Jochen Schimmang
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Buchvorschau
Christian Morgenstern - Jochen Schimmang
2013
Die Urszene
Ein Ausflug auf den Galgenberg
Ein Sonntag im April 1895. Der Zug aus Berlin kommt auf dem Bahnhof des Örtchens Werder an der Havel an, westlich von Potsdam gelegen. Scharen von Berlinern steigen aus und strömen kurz darauf zu einer gut 70 Meter hohen Anhöhe, die als ehemalige mittelalterliche Richtstätte den prägnanten Namen Galgenberg trägt. Galgenberge gab und gibt es noch immer viele in Deutschland, und es trifft sich, dass auch der Verfasser dieser Biographie an einem Galgenberg (in Niedersachsen) geboren ist und seine ersten zwei Lebensjahre dort verbracht hat. Der Galgenberg in Werder wird später Bismarckhöhe heißen, zu DDR-Zeiten Jugendhöhe, heute wieder Bismarckhöhe. In der DDR baut man das ganze Terrain ab 1980 zu einem Stadtteil von Werder aus.
Dieser Galgenberg ist im Jahr 1895 trotz seines Namens ein beliebtes Ausflugsziel für den geplagten Berliner Großstädter, zumal, seitdem Herr Gustav Altenkirch, ein Werderaner Obstzüchter und Fruchtsafthersteller, dort das Restaurant Galgenberg eröffnet hat. Der Bau steht heute immer noch, leider etwas verwaist. Allerdings sind einzelne Räumlichkeiten für Veranstaltungen zugänglich. Ein Freundeskreis Bismarckhöhe bemüht sich seit 2004 darum, dass hier auch wieder Gastronomie einzieht, bisher offensichtlich ohne Erfolg. Als ich an einem sehr grauen Novembertag 2012 dort ankomme, hat das Gebäude eher etwas von einer furchteinflößenden Trutzburg. Eins ist allerdings wie früher: Von hier oben hat man einen herrlichen Ausblick, ein Genuss.
Dem Genuss hat sich diese Gegend schon damals gewidmet, weil sie auf verschiedene Art und Weise von ihm lebt. Der Weinbau hat hier eine jahrhundertelange Tradition, Brauereien gibt es mehrere, und eine bedeutende Rolle spielt der Obstbau.
Unter den Ausflüglern aus Berlin befindet sich an diesem Tag auch eine Gruppe junger Künstler aus den verschiedensten Sparten, alle noch in ihren Anfängen und nicht mit Reichtümern gesegnet, Berliner Boheme also. Dazu zählt auch ein Dichter, der schon für Zeitungen und Zeitschriften schreibt und dessen erster Gedichtband wenige Wochen später erscheinen wird. Offenbar übt der Name der Anhöhe und zugleich des Lokals große Anziehungskraft auf sie alle aus. Jedenfalls beschließen sie nach ihrer Rückkehr nach Berlin, eine Vereinigung zu gründen, die sich Galgenbund nennt und deren Mitglieder »Galgenbrüder« heißen. Viele sind es nicht, zuerst sechs, etwas später kommen noch zwei weitere hinzu.
Sie treffen sich einmal wöchentlich in den engen Wohnungen der Mitglieder oder in einer Kneipe. Dort wird dann tatsächlich eine Urteilsvollstreckung gespielt. Jemand wird »erhängt« und der ganze Ritus von gleichsam liturgischen Gesängen begleitet. Alle Mitglieder des Bundes tragen einen oder mehrere Spitznamen. Im Einzelnen handelt es sich um »Schuhu«, mit bürgerlichem Namen Julius Hirschfeld, Kaufmann mit musikalischer Begabung, der oft spontan vor Ort die Musik zu den Texten schreibt. Sein Bruder, der Schriftsteller Georg Hirschfeld, ist als das »Verreckerle« dabei und reicht das Henkersmahl. »Veitstanz«, auch »der Glöckner« genannt, zieht den Strang, heißt mit bürgerlichem Namen Franz Schäfer und ist Schauspieler. »Gurgeljochem« schneidet den Lebensfaden durch, ist ebenfalls Schauspieler und heißt Friedrich Kayssler. »Spinna, das Gespenst«, schlägt zwölf, ist ein unendlich langer Kerl und heißt Paul Körner. Der »Stumme Hannes« oder auch »der Büchner«, der Fisches Nachtgesang singt, ist der Maler Fritz Beblo, der sich später vor allem als Architekt und als Stadtplaner in Straßburg und München einen Namen machen wird. »Faherüggh«, mit Beinamen »der Unselm«, kann das Simmaleins. Das ist Robert Wernicke, ein Medizinstudent, dessen Lebensspur sich später im Ungewissen verliert. Bleibt noch einer, der dem Ganzen präsidiert und die Texte der Lieder schreibt. Gut zehn Jahre später, als sie zum ersten Mal gedruckt erscheinen, wird er mit ihnen populär, ja berühmt. Noch heute können viele im deutschen Sprachraum einzelne Zeilen oder ganze Gedichte von ihm zitieren, vielfach ohne zu wissen, wer ihr Verfasser war. Sein Galgenbrudername ist »Rabenaas«. Bürgerlich heißt er Christian Morgenstern.
Prolog
»Meine Harmonie ist nur Balance«
Wer war Christian Morgenstern? Eben das wissen wir nicht. Der Mann, von dem manche Zeilen gleichsam kulturelles Gemeineigentum geworden sind – allen voran die, dass »nicht sein kann, was nicht sein darf« und dass die Möwen alle aussehen, »als ob sie Emma hießen« – und dessen Nasobēm es bis ins Lexikon geschafft hat und in der Folge die Zoologie sogar zur Kreation einer neuen Gattung anregte (Bau und Leben der Rhinogradentia von »Professor Harald Stümpke«¹), ist merkwürdig schwer zu fassen. Von seinem engsten Freund Friedrich Kayssler haben wir eine recht plastische Beschreibung, wie er sich bewegte, dass er groß war, sportlich wirkte und den Kopf hoch trug (im buchstäblichen, nicht im übertragenen Sinne), sonst aber erscheint Morgenstern oft als hochvergeistigtes, fast ätherisches Wesen, auch wenn Kayssler sich in seinen Erinnerungen ausdrücklich gegen dieses Adjektiv verwahrt. Von Morgensterns Sexualität etwa wissen wir wenig und nichts Genaues. Über seine späte Ehe mit Margareta Gosebruch von Liechtenstern heißt es, sie sei »eine Geistesfreundschaft vor allem anderen« gewesen, wobei wir über »alles andere« im Unklaren gelassen werden. Natürlich kommt die Tatsache, dass er seit dem 23. Lebensjahr an der klassischen Künstlerkrankheit des 19. und frühen 20. Jahrhunderts litt, der Tuberkulose, dem ätherischen Bild entgegen. Viele Fotos, die wir von ihm haben, zeigen schon einen Kranken.
Zur ätherisch-ästhetischen Stilisierung der Person trägt sicher auch bei, dass Christian Morgenstern einer Künstlerfamilie entstammte, ja, geradezu einer Dynastie von Landschaftsmalern, und als Kind selber ebenfalls Landschaftsmaler werden wollte. »Christian Morgenstern, zukünftiger Landschafts-Maler«, ist der erste Brief des Siebenjährigen unterschrieben. Diese kindliche Vorstellung fiel jedoch in eine Zeit, in der gewissermaßen das Ende der Landschaftsmalerei schon eingeleitet worden war. Denn die Eckdaten von Morgensterns Leben sind so symbolisch aufgeladen wie bei vermutlich niemand anderem seiner Generation. Geboren im Jahr 1871, also im Jahr der Gründung des Deutschen Reiches, gestorben 1914, wenige Monate vor Beginn des Ersten Weltkriegs und dem Anfang vom Ende des Kaiserreichs. Demnach lebte er einerseits in einer der bis dahin längsten europäischen Friedensperioden, andererseits war er Zeitzeuge und Betroffener einer Ära des Aufbruchs, des rasanten technischen Wandels, der Industrialisierung, des Fortschrittsoptimismus und der Erstarkung des Bürgertums selbst in deutschen Landen, trotz der herausragenden Rolle, die das ostelbische Junkertum und das Militär im wilhelminischen Deutschland bis zum bitteren Ende spielten.
Es war also nicht mehr die Zeit der Landschaftsmalerei. Sie hatte aufgrund der Urbanisierung ihren Stellenwert verloren. Und Christian Morgenstern, im noch eher beschaulichen, aber durchaus schon großstädtischen München geboren, ging schon mit 23 Jahren nach Berlin, wo ihm die Folgen dieser Urbanisierung nicht verborgen blieben. Dessen Einwohnerzahl hatte sich zwischen dem Jahr von Morgensterns Geburt und dem seines Zuzugs etwas mehr als verdoppelt und strebte langsam auf die Zweimillionengrenze zu. Die Folgen von Urbanisierung und Industrialisierung waren dem ehemals zukünftigen Landschaftsmaler keineswegs gleichgültig, wie wir aus einigen seiner Briefe wissen. Zu einer Identifikation mit einer der Spielarten des Sozialismus mochte er sich allerdings doch nicht durchringen.
In Berlin machte er zugleich Bekanntschaft mit der künstlerischen Moderne, die im kulturellen Geschehen eine immer größere Rolle spielte. Schließlich hat sich in der kulturgeschichtlichen Forschung für die Zeit um 1900 der Begriff vom »Epochenumbruch« in Europa durchgesetzt, mit den drei mitteleuropäischen Zentren Berlin, Wien und Prag. Ob Christian Morgenstern selbst zur Moderne gehört oder ob er gleichsam etwas ängstlich an ihrer Schwelle stehen geblieben ist, ist eine der Fragen, die diese Biographie stellen möchte, ohne sich sicher zu sein, sie wirklich beantworten zu können. Zu Morgensterns Generationsgenossen, um nur einige Namen zu nennen, gehören George, Rilke, Hofmannsthal, Thomas Mann, Robert Walser, Paul Valéry und Marcel Proust, aber auch zum Beispiel C. G. Jung und Rosa Luxemburg. In den Jahren seiner Jugend erschienen Nietzsches Genealogie der Moral und die Götzen-Dämmerung, im Jahr 1900 Freuds Traumdeutung. Epochenumbrüche reißen mit und machen Angst; das durchaus stolze Bewusstsein, Zeitgenosse rasanter Veränderungen zu sein, kann mit der Furcht vor ihnen einhergehen und die Sehnsucht nach einer untergegangenen Welt und nach alten Werten befördern. Die überladenen Wohnstuben der damaligen Zeit mit ihrem Plüsch und mit den gestickten Sinnsprüchen an den Wänden zeugen ebenso davon wie die steife Herrenmode. Morgensterns Werk reagiert in seiner merkwürdigen Vielfalt und Zerrissenheit auf diese Ambivalenz und ist ihr Ausdruck.
Solche Ambivalenz ist jedoch ebenso in der Person Morgensterns selbst zu finden, der lebensgeschichtlich ein früh Entwurzelter und Spross eines Phänomens war, das es massenhaft erst sehr viel später gab: der Patchworkfamilie. Da war zum einen der frühe Tod der Mutter, zum anderen die Tatsache, dass sein Vater ihn anschließend praktisch abgeschoben und verlassen, ihm dabei aber später auch noch Steine in den Weg gelegt hat, was in den wenigen vorliegenden Biographien eher verschämt erwähnt wird, als sei das in Künstlerfamilien nichts Außergewöhnliches und habe nur eine untergeordnete Bedeutung. Stattdessen ist sogar hier und da von einem »guten« Verhältnis zum Vater die Rede, wo es sich doch schon sehr früh eher um ein Nichtverhältnis handelte, mit einzelnen hilflosen Versuchen des Vaters, das eigene schlechte Gewissen zu beruhigen. Zur Legende vom guten Verhältnis hat der Sohn allerdings in manchen brieflichen Äußerungen auch selbst beigetragen.
Es ist deshalb nicht abwegig, wenn man davon ausgeht, dass Morgenstern von früh an immer auch auf der Suche nach einem Ersatzvater war, nach einem Leitstern. Er war der prädestinierte Schwärmer und Jünger, worauf bereits Ernst Kretschmer hingewiesen hat. Das begann für kurze Zeit schon mit Werner Sombart, dann aber vor allem – bis zum Epigonalen, was in diesem Lebensalter häufig vorkommt – mit Nietzsche, dem er seinen ersten Gedichtband widmete, sieben Jahre nach dem Turiner Zusammenbruch des Verehrten. Es folgte der imperialistisch-antisemitische Kulturphilosoph Paul de Lagarde alias Paul Anton Bötticher (1827–1891), Ordinarius für Orientalistik in Göttingen, dessen wirres, zusammengestoppeltes Weltbild auch heute noch eine wahre Fundgrube für deutsche und pangermanische Rechtspopulisten wäre. Noch 1912 hat sich Morgenstern zu dem entschiedenen Antimodernisten Lagarde bekannt, auch wenn er zu diesem Zeitpunkt schon seit mehreren Jahren einen neuen Leitstern in der Person Rudolf Steiners gefunden hatte, mit dem ihn im Gegensatz zu den beiden Vorgenannten ab 1908 auch persönliche Bekanntschaft verband und dem er trotz des fortgeschrittenen Stadiums seiner Krankheit auf der Spur seiner Vorträge durch halb Europa folgte, wie Jünger das zu tun pflegen.
Dieser ausgeprägte Hang zur Schwärmerei, dieser Wille zur Verehrung lässt sich nun nicht ohne Weiteres mit jenem Morgenstern in Zusammenhang bringen, der der Berliner Boheme angehörte und über Jahre, auch nach seiner Hinwendung zur Anthroposophie noch, die Galgenlieder und die absurd-subversive Poesie um Palmström, Korf, Palma Kunkel und den Gingganz schuf. Entspringt Morgensterns Jüngertum der Sehnsucht nach einem wie auch immer gearteten runden Weltbild und nach einer Harmonie, die er spätestens seit dem Tod der Mutter lebensgeschichtlich nicht mehr erfahren hat, dann ist derjenige Teil seines Werkes, der bis heute lebendig geblieben ist, Ausdruck der »ganz normalen« realen Zerrissenheit seines Lebens, dessen Kennzeichen die durch die Krankheit bedingte Ruhelosigkeit einerseits und die lebenslange wirtschaftliche Unsicherheit andererseits waren. Während man den Großvater väterlicherseits noch beinahe als Malerfürsten bezeichnen kann und der Vater später eine Professur in Breslau innehatte, war Morgenstern zumindest in seiner Eigenschaft als freier Literaturproduzent ganz und gar in der Moderne angekommen. Er übernahm alle möglichen Aufträge, gab Zeitschriften heraus, die kurz danach eingestellt wurden, übte freie Lektorentätigkeiten aus und glänzte als Übersetzer Ibsens aus dem Norwegischen – einer Sprache, die er, nachdem er den Auftrag angenommen hatte, erst lernen musste! Morgenstern ist ein Paradebeispiel dafür, wie kontingent der Hintergrund der Arbeiten und Publikationen moderner Autoren ist, die später in der Rezeption und der Literaturwissenschaft dann zu einem runden »Werk« zurechtgebogen und zurechtgelogen werden. Denn nur wenige Autoren haben ja das Glück, eine Katia Pringsheim heiraten zu können. Und die heutige Ochsentour, in der pro Generation eine auserwählte Schar von Autoren und Autorinnen von Preis zu Preis gereicht wird, bis sie beim Büchnerpreis angekommen ist, gab es damals noch nicht. Morgenstern hat immerhin in späten Jahren eine Ehrengabe der Schillerstiftung erhalten, oftmals die typische Auszeichnung für Autoren, die am Rande des Existenzminimums leben.
Aus den verschiedensten Gründen also war er schon ein Prototyp des von Richard Sennett knapp hundert Jahre später analysierten »flexiblen Menschen«. »Mein Wohnungsideal ist das Zelt«, notierte er einmal. Dass Morgenstern es trotz verschiedener Romanpläne nie auch nur zum Ansatz eines erzählerischen, geschweige denn epischen Werkes gebracht hat, ist daher zum einen sicherlich eine Temperamentsfrage gewesen. Morgenstern war ein lyrisches Temperament, in seinen dauerhaftesten Schöpfungen auch ein sprachphilosophisch-sprachkritisches, für einen Erzähler oder gar Epiker zu unsinnlich (für einen Landschaftsmaler vermutlich ebenfalls, aber die Probe aufs Exempel wurde nie gemacht). Jedoch sind gewiss auch äußere Lebensumstände mitbestimmend für die Abwesenheit des Erzählerischen und die Dominanz nicht nur des Lyrischen, sondern auch des Fragments.
Umso erstaunlicher, zu welchen Resultaten Teile der bisherigen Morgenstern-Biographik, wenn man überhaupt von einer solchen sprechen kann, gekommen sind. In der von Michael Bauer begonnenen und später von Margareta Morgenstern unter Mithilfe von Rudolf Meyer weitergeführten Biographie Christian Morgensterns heißt es: »Durch das Leben Christian Morgensterns geht ein wundervoll folgerechter Zug. Wer immer ernsthaft eine Überschau dieses Lebens und Werks versucht, wird dahin gelangen, den stillen sinnvollen inneren Fortgang zu sehen.«² Das ist nun allerdings von einem Anthroposophen geschrieben, der nach zeitgenössischen Schilderungen selbst durchaus etwas von einem Guru hatte und für den es sicher nur »folgerecht« war, dass jemand irgendwann bei der Anthroposophie ankommt. Aber noch 1964 trifft Martin Beheim-Schwarzbach in seiner Rowohlt-Monographie die erstaunliche Feststellung, dass es Morgenstern »an allem gebricht, was heute gefragt wird, an Zerrissenheit, Desperation und Obszönität«.³ Für Letztere mag das zutreffen. Ansonsten bleibt es von heute aus gesehen aber mehr als rätselhaft, wie man die ungeheure Zerrissenheit und Kontingenz, das Disparate nicht nur in Morgensterns Leben, sondern auch in seinem Werk übersehen und aus beidem ein Inbild von Harmonie machen kann. Der Verdacht muss aufkommen, dass in diesen frühen Biographien, die eher Hagiographien sind, nach dem schon benannten Palmström’schen Motto verfahren wurde, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.
Dabei hatte Morgenstern selbst für die Grundkonditionen seines Lebens einen wesentlich klareren und illusionsloseren Blick. 1906 notiert er: »Eines kann ich wohl als Merkwort über all mein Leben und seine Erfahrungen schreiben: Fast alles, was ich geworden bin, verdanke ich mir selber, einigen Privatpersonen und dem Zufall.«⁴ Und 1907: »Ich bin wie einer, der ohne Führer, nur so nach Karten und gelegentlicher Auskunft von Hirten und Wanderern ins Hochgebirge hineinsteigt.«⁵
Weniger klar sah er dagegen, was die Wertigkeit seiner eigenen Schöpfungen anging. Christian Morgenstern ist das – gar nicht einmal so seltene – Beispiel eines Autors, der sein eigenes Werk missversteht. Die von ihm schon selbst vorgenommene und von anderen übernommene Zweiteilung in »Das seriöse Werk« und »Das humoristische Werk« schafft eine Gewichtung und Wertigkeit, die genau umzukehren wäre. Das haben einige seiner Biographen auch entschieden getan, etwa Helmut Gumtau und Ernst Kretschmer, die ihm auf dem Weg in die Anthroposophie nicht gefolgt sind, auch wenn sie ihn als Faktum akzeptiert haben. Was von Morgenstern geblieben ist und bleiben wird, ist – neben dem aphoristischen – eben das sogenannte humoristische Werk, für das ich das Attribut subversiv angemessener fände. Dieser Teil hat, wie schon mehrfach gezeigt wurde, seine Ahnen in der Literaturgeschichte, unter anderem bei den Viktorianern Lewis Carroll und Edward Lear. Nun lässt sich die viktorianische Epoche mit dem Wilhelminismus zwar nur bedingt vergleichen. Zum einen wäre schon die Periodisierung ein Problem: Beginnt das wilhelminische Zeitalter schon 1871 oder erst 1888? Und wie soll man die »verspätete Nation« (verspätet in vielfacher Hinsicht) in Beziehung setzen zur britischen Welt- und Seemacht, wo allein schon die Kolonien für mehr Durchzug und Durchlüftung sorgten, im Kontrast zur Muffigkeit des deutschen Kaiserreichs? Die eigentümliche Verbindung von Fortschrittsgläubigkeit, Pioniergeist, Erfinderphantasie einerseits und konservativem Wertesystem andererseits sowie die doppelte Sexualmoral weisen aber durchaus Parallelen zwischen Viktorias Reich und dem Wilhelms des Zweiten auf, Parallelen, die mit der Verwandtschaft der beiden Throninhaber nicht das Geringste zu tun haben.
Morgensterns subversives Werk hat jedoch nicht nur Ahnen, sondern auch zeitgenössische Mitstreiter und spätere Erben. Jüngere Geistesverwandte unter den Zeitgenossen waren etwa Joachim Ringelnatz, Karl Valentin und Kurt Schwitters (die Ursonate und Das große Lalulā sind vom gleichen Stamm). Die Erben in der Gegenwartsliteratur reichen von Dada über Eugen Gomringer, Franz Mon, Ernst Jandl, Helmut Heißenbüttel und überhaupt der Konkreten Poesie (Fisches Nachtgesang) bis zu Loriot, zu Robert Gernhardt und der »Neuen Frankfurter Schule« insgesamt. Diese Linien sollen aufgezeigt werden, um so Morgenstern aus der mystischen Ecke zu holen, in die er natürlich nicht nur gestellt worden ist, sondern in die er auch selbst gestrebt hat.
Man kann es den Anthroposophen nicht verdenken, dass sie jemanden für sich reklamieren, der in seinen letzten Lebensjahren dem Begründer ihres Weltbildes so bereitwillig gefolgt ist. Einer zeitgemäßen Rezeption Morgensterns tut das allerdings nicht gut. Diese Biographie möchte zum einen ein Künstlerleben zwischen 1871 und 1914 im wilhelminischen Reich erzählen und die seltsam ungreifbar-ätherische Figur Christian Morgenstern vielleicht etwas greifbarer machen. Zum Zweiten möchte sie dazu beitragen, die Staubschicht zu entfernen, die sich inzwischen auch auf dem subversiven Teil seines Werkes angesammelt hat, um diesen Teil wieder einer aufmerksamen – und lustvollen – Rezeption zugänglich zu machen.
Der Kindheit erster Teil
»Sehr viel einsam und stillfroh«
Christian Morgenstern war der Sohn junger Eltern. Als er am 6. Mai 1871, sieben Wochen nach der Wahl Bismarcks zum Kanzler des neu gegründeten Deutschen Reiches, in München das sprichwörtliche Licht der Welt erblickt – wie licht das Wetter an jenem Tag in München war, wissen wir allerdings nicht, stellen uns aber gern einen herrlichen Münchner Maientag vor –, ist sein Vater, der Landschaftsmaler Carl Ernst Morgenstern, 23, seine Mutter, Charlotte Morgenstern, geborene Schertel, gerade mal 20 Jahre alt. Das Paar kennt sich zu diesem Zeitpunkt schon lange, seit der Kindheit nämlich, denn die jeweiligen Väter waren nicht nur Freunde, sondern auch Berufskollegen. Beide waren Landschaftsmaler, und der eine hat den anderen zeitweise unter seine Fittiche genommen. Christian Morgenstern war also schon der Enkel, wenn nicht der Urenkel einer Künstlerfamilie, und Kunst und Musik begleiteten ihn schon in früher Kindheit.
Christian Ernst Bernhard Morgenstern, der Großvater väterlicherseits, wurde 1805 in Hamburg als Sohn eines Krämers und Miniaturenmalers geboren, der früh starb. Christian war das dritte von sechs Kindern und ging in der Grafikwerkstatt der Gebrüder Suhr in die Lehre. Bauer beschreibt das so: »… so nahm sich des neunjährigen, aufgeweckten und zeichnerisch sehr begabten Christian ein Hamburger Maler und Lithograph an: Professor Christoph Suhr, den er von da an auf weite Reisen begleitete, wo ein optisches Panorama vorgeführt wurde. Es waren für ihn ungewöhnlich harte und arbeitsreiche Jugendjahre.«⁶ Das ist eine etwas euphemistische Sicht der Dinge, unter dem beliebten Motto »Lehrjahre sind keine Herrenjahre«. In Wahrheit handelte es sich mehr oder weniger um Kinderarbeit. Die Allgemeine Deutsche Biographie wird in ihrem Artikel aus dem Jahr 1906 schon deutlicher: »So kam der junge M., der überall, wie ein Knecht beim Aufbau der Bude Hand anlegen, neue Aufnahmen und Packdienste um geringen Lohn bei schlechter Behandlung leisten mußte, in die Welt: er sah Aachen, Köln, Dresden, Berlin und Königsberg. Konnte er doch nebenbei manches zeichnen und malen! Eine neue Kunstreise führte ihn nach Rußland (1822). Sechs Monate weilten sie in Moskau, wo M. confirmiert wurde, eine ähnliche Frist zu Petersburg …«
Vom dilettierenden zum ausgebildeten Maler wurde Morgenstern aber erst nach der Trennung von Suhr im Jahr 1824. Er lernte bei Siegfried Bendixen, der seinerseits Schüler von Jacques-Louis David gewesen war, und fand mit Felix Baron von Rumohr »einen wahren Freund und Protector«, wie die ADB urteilt.⁷ Er gewann das Averhoff-Stipendium und betrieb Studien in Norwegen, und »mit diesen im Ränzchen kehrte er von langer Wanderung 1827 nach Kopenhagen zurück, um an der Akademie 1828 seine vollständige Ausbildung bei Lundt und Möller zu erreichen«.⁸ Danach wollte Morgenstern sich eigentlich in Hamburg niederlassen, sein Gönner Rumohr riet ihm jedoch, einen anderen Wohnsitz zu suchen, an dem die Kunst mehr geschätzt würde. Berlin sei zu unmoralisch, Wien zu teuer und Dresden, so urteilte Rumohr, habe »eine Zuckerbäckernatur«, also riet er ihm zu München. »Im Januar 1830«, berichtet uns die ADB, »kam M., wieder das Ränzchen am Rücken, einen hoffnungsvollen Frühling im Herzen und einen ganzen Dukaten in der Tasche, in die von norddeutschen Künstlern so freudig und verheißungsvoll begrüßte bairische Hauptstadt.«⁹
Mit seinen Landschaftsbildern hatte Christian Morgensterns Großvater dann offenbar Erfolg und am Ende seiner Karriere gewiss mehr als einen ganzen Dukaten in der Tasche. Denn ein Maler konnte schon damals, wenn er Eigenart genug aufwies und zudem auf die richtigen Galerien, Mäzene und Sammler traf, gutes Geld verdienen. Dass dies bei Morgenstern offenkundig der Fall war, verraten uns folgende Sätze aus dem nun schon mehrfach zitierten ADB-Artikel: »Die Kunsthistoriker ließen M. nicht mehr aus den Augen, noch weniger die damals schon blühenden Kunsthandlungen ›Wimmer‹ und ›Bolgiano‹, welche nach Albion und Amerika seine Werke versendeten.« Und: »In den folgenden Jahren verlegte M. […] seine Sommerfrischen nach Murnau, Brannenburg und dem liebgewonnenen Starnbergersee …«, und schließlich: »Alle Galerien wetteiferten um seine Werke.«¹⁰
Die hatten Titel wie »Mondaufgang an der Elbe bei Hamburg«, »Landschaft bei Abenddämmerung«, »Hammerschmiede in Tirol«, »Aussicht über den Bodensee bei Bregenz« oder »Ostküste von Helgoland«. Ich habe diese Titel ganz willkürlich herausgegriffen; man kann aus ihnen ersehen, dass Morgenstern erstens viel gereist ist und zweitens ganz und gar Landschaftsmaler war, dessen Stärken, darin ist man sich einig, vor allem in der Darstellung des flachen Landes lagen, auch wenn er ganz und gar Münchner wurde und keinen Wunsch hatte, nach Hamburg zurückzukehren. Schon über seine Ausbildungszeit noch in Hamburg schreibt der Maler Hans Speckter im Jahr 1881: »Hier erschloss sich ihm die Schönheit der Ebene mit den hoch darüber hinziehenden Wolken, die den meisten Menschen bis dahin unbekannt geblieben war und von vielen auch heute noch nicht verstanden wird.«¹¹ Seine Ausbildung vollendete Morgenstern an der Akademie in Kopenhagen und unternahm längere Reisen nach Schweden und Norwegen.
In München hatte er schon mit seinem ersten ausgestellten Bild Erfolg, einem Motiv aus der Lüneburger Heide, über das ein damaliger Kunstkritiker schrieb, »daß uns ein bis dahin unbeachteter Reichtum von Naturschönheiten aufgeschlossen wurde, den wir nur in Felsschluchten, Wasserfällen und