Lichtungen 175: Schwerpunkt: Vielleicht war es der Wind. Literatur aus Slowenien
Von Clemens J. Setz, Oleh Kotsarev, Elke Steiner und
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Über dieses E-Book
Clemens J. Setz
Geboren 1982 in Graz, wo er Mathematik sowie Germanistik studierte und heute als Übersetzer und freier Schriftsteller lebt. 2011 wurde er für seinen Erzählband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Sein Roman Indigo stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2012 und wurde mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2013 ausgezeichnet. 2014 erschien sein erster Gedichtband Die Vogelstraußtrompete. Für seinen Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre erhielt Setz den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2015. Zuletzt erschien Monde vor der Landung (alle Suhrkamp). Georg-Büchner-Preis 2021.
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Buchvorschau
Lichtungen 175 - Clemens J. Setz
Editorial
Manchmal ist das Zeitschriftenmachen ganz einfach. Dann zum Beispiel, wenn die beste Mitarbeiterin von allen, Daniela Kocmut, in dem Land geboren wurde, um dessen Literatur sich diese Ausgabe schwerpunktmäßig dreht. Slowenien ist Gastland auf der Frankfurter Buchmesse, wir nehmen das zum Anlass, nicht nur bekannten Schriftsteller:innen der slowenischen Literatur, sondern auch Nachwuchsautor:innen „in den Startlöchern" Raum zu geben, und bedanken uns recht herzlich bei Natalija Milovanović, die geholfen hat, eine fulminante Auswahl zu erstellen. Ein Merkmal der slowenischen Literatur ist die starke Fokussierung auf Lyrik, schreibt sie, und dass es in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana jede Woche mehrere Lyriklesungen gibt. Da hat Slowenien Österreich etwas voraus.
Der internationale Schwerpunkt erstreckt sich diesmal auch über den essayistischen Teil. Im Kunstteil finden Sie einen interdisziplinären Beitrag rund um Hans-Jürgen Poëtz’ und Lea Titz’ Auseinandersetzung mit einem Thema, das feuilletonistisch sträflich vernachlässigt wurde: dem Schnarchen.
Wir hoffen, Sie haben an dieser Ausgabe genauso viel Freude wie wir!
Andrea Stift-Laube
Inhalt
EDITORIAL
POESIE AN UNVERMUTETEN STELLEN – Eine Serie
Clemens J. Setz
Regieanweisungen in der Hölle (Folge 16)
Literatur
Oleh Kotsarev
Gedichte
Elke Steiner
Miniaturen
Luca Kieser
Dreck
Emil-Breisach-Preis 2022
Anna Silber
Das neue Leben
SCHWERPUNKT: LITERATUR AUS SLOWENIEN
Daniela Kocmut und Natalija Milovanović
Einleitung
Esad Babačić
Alles fällt vom Himmel
Petra Bauman
Weiß
Ajda Bračič
Škrlatica¹
Nina Dragičević
Tante Janja
Petra Kolmančič
Die Bärin
Miha Mazzini
Avro Lancaster
Ana Pepelnik
das erzählt niemand
Gregor Podlogar
Auf der Zunge des glitzernden Tages
Arjan Pregl
Miniaturen
David Šalamun
Ein Märchen
Kunst
Zeitkritik / Essay
Drago Jančar
Auf Flanderns Feldern
Tamara Štajner
lyrikpartitur #7
Goran Vojnović
Was wusste Urgroßvater Leon?
Kurzbiografien
Gutes von Gestern
Vorschau
Impressum
Poesie an unvermuteten Stellen – Eine Serie
Clemens J. Setz
Regieanweisungen in der Hölle (Folge 16)
Wie die meisten Menschen weiß ich nie, in welcher Gehirnstimme ich Regieanweisungen in Theaterstücken lesen soll. Es sind so eigenartig unsichtbare Gebrauchstexte, die, obwohl oft wunderschön formuliert, eigentlich nie laut erklingen oder mit sprachgenießerischer Aufmerksamkeit gelesen werden sollen. Gleichzeitig werden sie ernster genommen als andere Texte, denn sie werden direkt verwandelt in Handlungen und Situationen. Manchmal lesen sie sich wie ausführliche Beschreibungen in einem Roman, wie etwa bei Eugene O’Neill, manchmal freudlos-technisch und rein geometrisch wie beim späten Beckett:
(Quelle: Beckett, „Was Wo", in: Szenen, Prosa, Verse, Suhrkamp)
Das, was mich mit der eigenartigen Zwischenstellung von Regieanweisungen versöhnt, sind die Musikstücke von Christian Wolff. Er gehört der New York School um John Cage und Morton Feldman an, manche sehen ihn als ihren letzten lebenden Vertreter. Er schrieb 1968 bis 1971 etwas, das er Prose Collection nannte: Musikstücke, die nur aus Vortragsideen bestehen, nicht aus konventioneller Notenschrift. Es sind die beglückendsten Regieanweisungen, die je verfasst wurden. Seit den 50er Jahren führte Wolff etwas in die Musik ein, was Cage schon in gewisser Weise vorbereitet hatte: die Haltung der Musiker als Computerspieler. Sein Werk wurde einem breiteren Publikum bekannt, als Sonic Youth zwei seiner interessantesten Stücke für ihr Album Goodbye 20th Century aufnahmen, „Burdocks und „Edges
. Beide dieser Stücke verwenden graphische Notationen sowie auf die einzelnen Spieler verteilte Vortragsideen. „Burdocks besteht aus verschiedenen Zetteln, die verteilt werden. Auf manchen befindet sich eine musikalische Phrase, auf anderen stehen in Prosa formulierte Aufforderungen, auf einem Zettel steht sogar nur ein einzelnes Wort: „flying
, ohne weitere Erklärung für die musikalische Umsetzung. Oder das unglaublich schöne Duo for Violinist and Pianist (1960 für Kenji Kobayashi und David Tudor geschrieben), wo Vortragsbezeichnungen sich wie Beschreibungen von Spielstrategien lesen: „Der eine Spieler beginnt mit einem Klang und hält ihn so lange, bis er einen zweiten vom anderen Spieler hört (ohne zu wissen, wann dieser ertönen wird). Die verschiedenen gegeneinander oder miteinander aufrufbaren Strategien führen gelegentlich auch unmögliche Aufführungssituationen zutage, etwa wenn „ein Spieler seine Klänge produziert und nicht aufhören soll, bevor der andere einsetzt, während dieser nicht anfangen soll, bevor der andere sein Spiel beendet hat
. An so einer Stelle könnte, so die Liner Notes, dann das Stück aufhören.
Christian Wolffs Musik macht mich so glücklich, dass es mir fast scheint, als hätte ich ihn mir ausgedacht. Ein traditionelles Musikstück vom Blatt zu spielen, fühlt sich an, als spielte man ein Jump-’n’-Run-Game. Man läuft von links nach rechts, da kommt ein Abgrund, okay, wir springen über den Abgrund, geschafft, und nun kommt ein Stein, davor müssen wir kurz stehen bleiben, und nun klettern wir auf den Stein, auch das geschafft, und so weiter. Aber wie arm und langweilig wäre die Welt, wenn es nur dieses eine Genre Jump ’n’ Run gäbe.
Hier Wolffs Stück „Steine" aus Prose Collection:
Steine
Erzeuge Klänge mit Steinen, aus den Steinen heraus; benutze dabei verschiedene Größen und Arten (und Farben). Die Klänge meist für sich selbst stehend, manchmal aber auch in schneller Abfolge. Zumeist Stein auf Stein schlagen, aber auch Stein auf andere Oberflächen (zum Beispiel im Inneren einer offenen Trommel) oder anders als geschlagen (zum Beispiel gestrichen oder verstärkt).
Nichts zerbrechen.
Dieses letzte „Do not break anything sollte eigentlich in den meisten Theaterstücken der Welt stehen, an irgendeiner kleinen Stelle. Zum Beispiel könnte es direkt auf die berühmteste Regieanweisung der englischen Literatur folgen, welche lautet: „Exit, pursued by a bear.
Sie findet sich in William Shakespeares The Winter’s Tale. In diese eine Regieanweisung, die zuerst nur aufgrund ihrer Kuriosität und Komik auffällt, ist auch die Grausamkeit einer ganzen Epoche eingeschrieben, da einiges dafür spricht, anzunehmen, dass Shakespeare einen echten Bären aus den Londoner „bear pits" verwendete. Vielleicht verwendete er auch einen Schauspieler in einem Bärenkostüm. Einige Gelehrte meinen, dass diese Regieanweisung gar nicht von Shakespeare selbst, sondern von einem der Schauspieler später eingefügt wurde. Wir wissen es nicht. Auf jeden Fall findet sich eine Erwähnung eines seinerzeit sehr berühmten Kampfbären namens Sackerson in den Merry Wives of Windsor. Sackerson muss es wohl wirklich gegeben haben, da dessen Name dem damaligen Publikum ein Begriff war.
Bear-Baiting war eine beliebte Freizeitgestaltung für große Teile der europäischen Bevölkerung. Ein Bär wurde dabei in einer Arena an einen Pfahl gebunden, worauf Hunde oder andere Tiere auf ihn gehetzt wurden. Über den Ausgang des Überlebenskampfes der Tiere wurden Wetten abgeschlossen. Am 13. Januar 1583 brach die Bear-Baiting-Schaubühne, die am Südufer der Themse gestanden hatte, in sich zusammen. Sieben Menschen wurden getötet und viele andere verwundet. Aus Berichten über dieses Unglück erfährt man, dass die Bauart dieser Bühne durchaus ähnlich war wie die von Shakespeares Globe Theatre. Auch über letzteres wissen wir viel aus Berichten über ein Unglück, nämlich einen Brand im Jahr 1613. Die Bear-Baiting-Arena befand sich in der Nähe des Globe und beide standen, wie man annehmen darf, in direkter Konkurrenz um Publikum. In Henry V vergleicht sich der titelgebende Held an einer Stelle mit einem „Jackanape", d. h. einem Affen, der zur Freude des Publikums auf den Rücken eines Pferdes gebunden und dann von Hunden gejagt wird.
Wenn man in alte Regieanweisungen hineinzoomt, betritt man die wunderlichsten Planeten. In Die letzten Tage der Menschheit von Karl Kraus findet sich meine liebste Regieanweisung aller Zeiten. Sie lautet: „Das österreichische Antlitz erscheint." In der Szene gehört dieses österreichische Antlitz einem Fahrkartenschalterbeamten. Ein Zug hat gewaltige Verspätung und als er endlich doch kommt, ist der Schalter dummerweise geschlossen. Es werden Rufe laut:
Rufe: Was is denn?! – Aufmachen! – (Der Nörgler schlägt mit dem Stock auf den Schalter.) So is recht!
(Der Schalter geht in die Höhe. Das österreichische Antlitz erscheint. Es ist von außerordentlicher Unterernährtheit, jedoch von teuflischem Behagen gesättigt. Ein dürrer Zeigefinger scheint hin- und herfahrend alle Hoffnung zu nehmen.)
Das österreichische Antlitz: Wird kane Koaten ausgeben! Wird kane Koaten ausgeben!
(Murren, das sich zum Tumult