Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Glitzerminuten
Glitzerminuten
Glitzerminuten
eBook258 Seiten3 Stunden

Glitzerminuten

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Was macht es mit uns, wenn einem das Liebste genommen wird?

Robert Thys war schon vielen Menschen an der Schwelle zum Tod begegnet, aber mit Jessica Morton-Ehrenberg sollte dem Komaspezialisten aus Lüttich die wohl bizarrste Patientin in seiner Laufbahn begegnen.

Dabei hatte alles so wundervoll angefangen, damals am Obst- und Gemüsestand auf dem wöchentlichen Markt in Heidelberg, als die gerade 19-jährige Jessica Morton zum ersten Mal in die lebenshungrigen Augen des Studenten Lucas Ehrenberg geblickt hatte - das Leben schien nur darauf gewartet zu haben, von ihnen erobert zu werden ...

Jahre später stellt das Schicksal ihr gemeinsames Glück auf eine harte Probe, und Jessica - zunehmend depressiv - steigt immer öfter zu den Gespenstern im Keller ihrer Seele hinab. Dann die Nachricht eines schrecklichen Unfalls ... und Jessica fasst einen folgenschweren Entschluss - das Drama nimmt seinen Lauf ...

Da erinnert sich Psychiater und Freund der Familie Noah Wildmann an das Fläschchen Glitzerstaub, das seit Jahren an einer Kette um Jessicas Hals hängt. Zusammen mit Professor Thys stemmt Noah sich gegen ihre Wahnvorstellung, dass sie 'tot' sei. Doch die Wahrheit ist weit verstörender ...

Eine leise Geschichte über Liebe, Verlust, Glaube und Hoffnung. Tragisch, tief berührend und jenseits des Erklärbaren ... und nicht zuletzt ein Tauchgang in das Verletzlichste im Menschen - die Seele ...

'Glitzerminuten' ist ein weiterer Roman vom Autor des 2015 erschienenen 'Hahnenschrei'.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum8. Dez. 2020
ISBN9783752699296
Glitzerminuten
Autor

Frank Hajo Hauswald

Frank Hajo Hauswald, geb. 1960, lebt mit seiner Frau im südwestlichen Niedersachsen in Bad Bentheim, träumt sich gern in Geschichten hinein und fühlt sich in der Natur und unter dem Sternenhimmel am wohlsten. Er ist Autor zweier Romane (den psychologischen Dramen »Hahnenschrei« und »Glitzerminuten« im BoD-Verlag, sowie dem Sachbuch »Stern-Freunde« im Oculum Verlag. Mit der Kinderbuchreihe »Das Geheimnis der 13 Stufen« - und einer weiteren, in Planung befindlichen Reihe -, erwachen nun weitere, die Phantasie anregende Geschichten aus ihrem Dornröschenschlaf. Sein Motto bei Kinderbüchern: »Erst in den Köpfen der Kinder verwandelt sich das geschriebene Wort in jene wundersame Welt, wie der Autor selbst, sie sich niemals hätte ausmalen können«

Mehr von Frank Hajo Hauswald lesen

Ähnlich wie Glitzerminuten

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Glitzerminuten

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Glitzerminuten - Frank Hajo Hauswald

    KAPITEL 1

    Restaurant 'Ô de vie', Chaussée de Tongres 98 Lüttich (Belgien)

    Dienstag, 17. Januar 2017, 19:25 Uhr

    »Ist der Seeteufel frisch?«

    Piet van Dyck, der junge Kellner im 'Ô de vie', hob beide Augenbrauen. Gerechtfertigt wäre die Frage nach der Region des edlen Fisches gewesen, nach der Fangmethode oder dem Transportweg aus Übersee. Hier, im mit fünf Sternen ausgezeichneten Restaurant 'Ô de vie' am nordwestlichen Rand von Lüttich, erschien ihm die Frage des Herrn im mittleren Alter so deplatziert wie jene nach dem Gewicht einer Frau. Was nicht verwunderte, schon am ersten Tag seiner praktischen Ausbildung hatte Piet – was den Wareneinkauf betraf – an den Lippen des Chefkochs vom 'Ô de vie' gehangen und gelernt, welche Details man mit Schleifchen an den Gast weitergab und welche man besser für sich behielt.

    »Selbstverständlich, mein Herr«, überspielte Piet sein Erstaunen in charmantem Flämisch, »alles im Morgengrauen hereingekommen -, vieles davon lebte noch -, wenn ich das so formulieren darf.« Kaum ausgesprochen, warf er mit über den Mund gelegter Hand einen entschuldigenden Blick in Richtung der Frau, die gegenüber des fragenden Herrn Platz genommen hatte – ihr Mitleid mit Fischen und anderen Krustentieren hing wie Blei an ihren Mundwinkeln.

    Robert Thys, der mit dem Hochkrempeln seiner Hemdsärmel beschäftigt war, schmunzelte: »Ausgezeichnet! Ausgezeichnet, junger Mann!« Selten war die Chemie zwischen Gast und Bedienung so schnell stimmig zusammengemischt. Auch die assoziierten Bilder noch zappelnder Meerestiere schien die ganz in schwarz gekleidete, attraktive Frau, verarbeitet zu haben.

    »Für die Dauer ihres Aufenthalts in unserem Hause sagen sie gerne Piet, wenn ihnen das recht ist«, versuchte der junge Kellner jeden Anschein von Aufdringlichkeit aus seinem Angebot zu eliminieren.

    Thys nickte zufrieden.

    »Also dann, für mich die Trilogie von Edelfischen an Safransauce und für meine Frau – äh – «, Thys fuhr mit dem Finger über die Speisekarte, » – die Seezungenrolle mit Fjordforellenfarce, bitte – Piet!«

    Professor Dr. Robert Thys, Neurologe und Komaspezialist aus Lüttich, konnte nicht verbergen, nicht jener Freund der exquisiten Küche zu sein, nicht der Gourmet, den er vorgab. Für ihn zählten im Wesentlichen zwei Dinge was die Nahrungsaufnahme betraf: Die Zutaten mussten deftig, die Mahlzeit auf dem Teller von ausreichender Menge sein. Ging es um ein gemeinsames Abendessen mit seiner Gemahlin Lilly, lag der Maßstab höher. Eine selbstauferlegte Bürde, der er sich verpflichtet fühlte. Wie oft schon hatten berufliche Zwänge die Kerzen beim romantischen Dinner bereits in der Idee ausgeblasen. Es galt, das schmale Zeitfenster für solche Anlässe gebührend zu würdigen! Und war Thys ehrlich zu sich selbst, hatte er jene Abende so nötig, wie die Forellen das Wasser für ihre letzten Runden im Schaubecken gegenüber nötig hatten.

    Piet aber, der schlaksig smarte Bursche, der erst seit Anfang der Woche für die Tische im Kaminzimmer zuständig war und dessen weißes Hemd und schwarze Weste noch nicht die kleinste 'Kriegsverletzung' vorzuweisen hatten, woher hätte er all das wissen sollen?

    »Sehr wohl mein Herr! Einmal die Trilogie – und für die werte Gattin – die Seezunge!« Ein letztes Mal ließ er den Blick über das Arrangement an Besteck und Gläsern schweifen und zückte sogleich sein über den Arm gelegtes weißes Tuch. Ob notwendig oder nicht, pflichtbewusst wischte er über den Rand vom Weinglas und prüfte mit zugekniffenen Augen das Ergebnis im Schein des Kronleuchters. Zufrieden platzierte er die Speisekarte zurück auf das silberne Tablett, das über seinen mit weißen Handschuhen bemäntelten Fingern zu schweben schien und empfahl sich mit einem nur angedeuteten Diener. Noch im Herumdrehen rückte er seine Fliege zurecht – Kellner im 'Ô de vie' zu sein, hieß mehr als Gläser spülen und angesehenen Gästen nach dem Mund zu reden. Es ging um Perfektion, den guten Ruf des Hauses, und nicht zuletzt um das Trinkgeld, das fester Bestandteil im mageren Gehalt war.

    »Entschuldigung -, und die Weinkarte, bitte!«, traf die Stimme des Professors ihn wie ein geschleuderter Speer im Rücken.

    »Verdammt!« Piet schickte einen Gedankenfluch über das silberne Tablett. Wie hatte ihm dieser Fauxpas passieren können? Sofort steuerte sein im ersten Lehrjahr eingemeißeltes Lächeln den Sommelier im Schatten der Weinregale an. Sich nur nichts anmerken lassen, war jetzt das Mittel der Wahl. Zudem eine gute Gelegenheit, sich im Vorbeilaufen der Zufriedenheit der anderen Gäste zu vergewissern.

    »Ich bitte vielmals um Entschuldigung!«, kehrte Piet mit der Weinkarte Sekunden später an Tisch 17 – den unter den Gästen beliebtesten Tisch im kleinen runden Erker in Nähe des Kamins – zurück.

    »Was? – Wie bitte?« Professor Thys schaute noch immer in Richtung der Flugbahn des geworfenen Speeres, schien geistig entrückt.

    »Die Weinkarte, mein Herr.«

    »Ach ja, vielen Dank … Piet …«

    Lilly Thys drehte die schneeweißen Perlen ihrer Halskette zwischen Daumen und Zeigefinger. Die schmalen, dezent rot gefärbten Lippen himmelten ihr Gegenüber – den fast Fünfziger mit den grau melierten Schläfen – an, als stünde der Verlust ihrer Jungfräulichkeit an diesem Abend auf dem Spiel. Ohne ein Wort zu sagen, hatte sie sich mit der Wahl ihres Gatten auf die Seezunge einverstanden erklärt gehabt. Ihre Augen leuchteten, und das Flackern der Kerzen darin, verriet den Hauch von Romantik, der durchs Kaminzimmer des 'Ô de vie' wehte.

    Sie kannte ihren Robert mehr als irgendeinen Menschen auf der Welt – am selben Ort hatten sie vor fünfundzwanzig Jahren ihr erstes Rendezvous während einer Studienreise gehabt – und es waren dies jene seltenen Stunden, die die abgebrochenen Gespräche, die flüchtigen Küsse im Türrahmen, die Floskel, 'schlaf weiter, Schatz', vergessen machten. Diese Stunden gehörten allein ihr und ihrem Ehemann. Sie liebte ihn dafür, wie er dann stets versuchte, den galanten Gourmet zu spielen. Dabei wusste sie, wie viel lieber er einen deftigen Pfälzer Saumagen bestellt, dazu ein kühles Bier genossen hätte. Aber diese Abende hatten Tradition. Eine überaus wichtige Tradition! Eine Tradition, die nötig war für den Mann, der für die Wissenschaft brannte. Ein Ritual, das es dem charismatischen Spezialisten erst möglich machte, Ballast abzuwerfen, Erlebtes hinter sich zu lassen, die eigene Seele vor Schaden zu schützen. Verbunden damit die Hoffnung, gemeinsam mit seiner Frau Lilly jenen noch fehlenden Stein zu finden, der das Bild im Puzzle einer leidenden Seele erst würde sichtbar machen.

    »Alles in Ordnung?« Lilly Thys wusste kleinste Muskelkontraktionen im Gesicht ihres Mannes zu deuten, sicher den Zeitpunkt zwischen Abwarten und direkter Attacke abzuwägen. Den ganzen Tag über hatte sie dieses Gefühl gehabt, dass die Zeit reif war, dass der in Fachkreisen geachtete Forscher höchstpersönlich einer Seelenmassage bedurfte. Eines Beistands, wie kein qualifizierter Kollege, keine fachlich versierte Mitarbeiterin ihn zu leisten im Stande gewesen wäre. Er war es, der sie heute Morgen ins 'Ô de vie' zum traditionellen Dinner eingeladen hatte; das allein sprach Bände. Heute würde sie dem angesehenen Spezialisten auf dem Gebiet der Hirnforschung zur Seite stehen, ihm Halt geben müssen, weil ein Fall ihn zu sehr belastete, ihm den Boden unter den Füßen wegzureißen drohte.

    Lilly Thys hatte längst entschieden, die Vorspeise zugunsten einer sofortigen Attacke nicht einmal mehr abzuwarten.

    »Was ist los, Robert? – So schlimm?«, streichelte sie seinen Handrücken …

    KAPITEL 2

    Zwei Monate vorher

    Auf dem Weg nach Lüttich, Belgien

    Mittwoch, 23. November 2016, 15:15 Uhr

    Noah Wildmann umklammerte das Lenkrad so fest, dass seine Fingerknochen weiß anliefen. Den Blick stoisch nach vorn gerichtet, wollte ihm ein Gedanke nicht aus dem Kopf gehen.

    Teil des Gedanken war Robert Thys. Robert Thys war schon vielen Menschen an der Schwelle zum Tod begegnet, aber mit Jessica Morton-Ehrenberg würde dem Spezialisten aus Lüttich die wohl bizarrste Patientin in seiner Laufbahn begegnen.

    »Herr Professor, könnten sie bitte schnell nach unten kommen«, würde die Dame von der Anmeldung mit brüchiger Stimme sagen, »hier ist eine junge Frau, die behauptet, sie sei tot!«

    Ja! – Genau so würde es sich abspielen!

    Noah nickte unbewusst. Er spähte über den Rand seiner Brille hinweg, sah sich im Rückspiegel den rechten Mundwinkel nach oben ziehen, wie einst Norman Bates im Film Psycho, als wollte er die Richtigkeit seiner These damit unterstreichen. Wie zu gemeinsamen Studienzeiten würden er – der promovierte Psychiater Dr. Noah Wildmann und der berühmte Komaspezialist aus Lüttich, Professor Dr. Robert Thys – sich in den ungewöhnlichen Fall verbeißen, um anschließend im Pub bei Bier und Wein das weitere Vorgehen zu besprechen. Welche arme Seele könnte so kaputt sein, als dass ihre kongeniale Zusammenarbeit das Problem nicht würde lösen können?!

    Wieder nickte Noah – diesmal die Lippen bestätigend nach vorn gewölbt.

    An diesem Vormittag im November, hatte sich der Psychiater mit seiner Patientin Jessica Morton-Ehrenberg auf den Weg nach Lüttich gemacht. Der Frost hatte in der Nacht ungewöhnlich hart zugeschlagen, und Noah hatte aufgehört, die orange-blinkenden Warnlampen der Streufahrzeuge zu zählen. Der in die Jahre gekommene BMW schnurrte wie ein Schweizer Uhrwerk seit nunmehr vierhundert Kilometern über die A61 entlang Koblenz und Bonn, und weiter auf belgischer Seite über die E40. Meter für Meter fraß sich der weiche Kautschuk in die weiße Kruste tonnenweise ausgebrachten Streusalzes, und jetzt, da das Ziel ihrer Reise in greifbare Nähe rückte, muteten die breiten Reifen wie mit Kreide überzogen an.

    Noah genoss die Bequemlichkeit des betagten BMW der 7er-Reihe, Baujahr 2001, auch wenn das gelegentliche minutenlange Orgeln und Krächzen des Anlassers belächelt wurde. Irgendwann würde er sich schweren Herzens von diesem treuen Gefährt trennen müssen und spätestens dann würde er den stechenden Schmerz in seiner Brust spüren. Andererseits, was bedeutete diese Leidenschaft für Oldtimer schon gegen den Schmerz und die Tragik der vergangenen Tage? Hatte er vergessen, wie er erst wenige Stunden zuvor innerlich aufgewühlt, als hätte er einen Tornado zum Frühstück gehabt, von der Hauseinfahrt der Ehrenbergs auf die Straße eingebogen war - entschlossen, die ungewisse und gleichfalls alternativlose Reise nach Lüttich anzutreten?

    Zweifel schwirrten um seinen Kopf, wie Schmeißfliegen um die Schädel wehrlosen Viehs. Mit einer Hand lockerte er den viel zu engen Kragen um seinen Hals. Vielleicht würde das Radio Zerstreuung bringen? Nervös hämmerte er das Stakkato von Phil Collins' In the air tonight ins Wurzelholz der veredelten Konsole …

    »In tausend Metern verlassen sie die Autobahn«, mischte sich das Navi ein. Noah verzog das Gesicht. Hatte die junge weibliche Stimme am Wochenende noch sympathisch und sexy geklungen, kroch sie jetzt wie Ungeziefer in seine Ohren. »Keine zehn Kilometer mehr bis Lüttich«, so die hässliche Übersetzung. Verdammt, jetzt galt es wirklich!

    Noah biss sich auf die Unterlippe, überschüssiges Adrenalin ließ ihn keinerlei Schmerzen spüren. Und nicht zum ersten Mal an diesem Tag schmeckte seine Zungenspitze Blut. Sollte er besser umkehren? Alles noch einmal überdenken? – Fort mit den Gedanken! Er schüttelte seine Zweifel aus dem Rückspiegel wie der Boxer die nicht erwartete harte Linke. Konzentriert ging er den bevorstehenden Fahrspurwechsel an: Rück- und Seitenspiegel, Einscheren, Abgleich der vorgeschriebenen Geschwindigkeit mit der Tachonadel … – entspanntes Fahren sah anders aus. Er war sich sicher, wer ihn jetzt würde sehen können, den langjährigerfahrenen Psychiater 'Noah Wildmann', wüsste spätestens jetzt, dass nicht allein die fremde Wegführung ihn derart herausforderte; Gedanken ganz anderer Natur würden ihn beschäftigen müssen.

    Flüchtig warf er einen Blick nach rechts zu seiner Beifahrerin. Sofort rann Schweiß an seiner Schläfe herab. Jessica Morton-Ehrenberg, die seit Stunden regungslos neben ihm gesessen hatte und geistig entrückt schien, drehte wie in Zeitlupe ihren Oberkörper in Richtung Seitenscheibe. Emotionslos blieb ihr Blick daran kleben –, weder nahm sie Notiz vom Verkehr um sie herum, noch zeigte sie Interesse an der für sie fremden Umgebung. Einzig ihr rot-gesprenkeltes Kleid und die schwarzen Nylonstrümpfe im Kontrast zum weißen Leder des BMW sorgten entfernt für einen Hauch von pulsierendem Leben auf der Beifahrerseite. Wer jedoch auf dem Gebiet der Psychologie unterwegs war, brauchte keine Fantasie, die Lage einzuschätzen. Vertraut wären jene leeren Blicke, die nicht einmal Fensterglas zu durchdringen vermochten.

    Tief holte er Luft, schnaubte hörbar durch. Was zum Teufel war zu erwarten, von einer Frau, die sich tot glaubte?!

    Endlich, nach dreieinhalb Stunden Fahrt, setzte er an der Ausfahrt Cheratte den Blinker. Ein erneuter Blick in Rück- und Seitenspiegel, runter vom Gas, und sanft wie ein Kahn auf ruhiger See glitt die schwere Limousine hinüber auf die rechte Spur – weg von der Monotonie der Autobahn. Zehn Minuten später manövrierten hundertfünfzig Pferdestärken in die soeben freigewordene Parklücke am Lütticher Universitätskrankenhaus präzise ein.

    Zündschlüssel nach links.

    Die zwölf Zylinder verstummten augenblicklich.

    Geschafft!

    Noahs linke Hand krallte sich im Türrahmen fest, hievte stattliche 110 Kilo schnaufend aus dem seit Stunden durchgesessenen Polster. Er brauchte einen Moment, lehnte sich über die Fahrertür. Mit geschlossenen Augen sog er die eisige Luft durch die Nase ein, blies sie sogleich mit spitzen Lippen wieder aus. Eine mächtige Wolke kondensierten Atems stieg auf, hüllte seinen Oberkörper ein. Dann stemmte er seine Fäuste in die Seite, bog den Rücken mit schmerzverzerrtem Gesicht ausladend durch und klopfte sich den Krampf aus der rechten Wade.

    Noch während er nach seiner Aktentasche auf dem Rücksitz fingerte, schlüpfte er mit dem anderen Arm in seinen Trenchcoat – einen speckigen Fetzen Stoff, wie Inspector Columbo ihn geliebt hätte. So ausgerüstet wirbelten ausgefranste Mantelzipfel um das Heck der schwarzen Limousine herum. Flüchtig wischte er mit dem Handrücken unter seiner Nase weg und fischte auf der anderen Seite der Rückbank nach dem Mantel seiner Beifahrerin, die heute Begleitung, beste Freundin und Patientin in einer Person war. Galant öffnete er Jessica Morton-Ehrenberg die Beifahrertür, schob seinen Arm in ihren Rücken und legte ihr besorgt den cremefarbenen Tweed Mantel über die Schultern. Ein Stich ins Herz, wie sie – mit dem Rücken am Wagen gelehnt – nicht einmal den Versuch unternahm, die Knöpfe bis hoch zum Hals in die Schlitze zu fummeln – jeder würde sehen können, wie sehr sie seiner Hilfe bedurfte.

    Wehmut kroch in ihm hoch, als er die Hochzeit seines Freundes Lucas an der Seite dieser wunderschönen Frau erinnerte. Jener wunderbarer Augenblick, als dieses zarte Wesen eine Schulter zum Anlehnen gebraucht hatte. Eigenartig, wie er plötzlich ihr Parfüm von damals wieder in der Nase hatte, ihr weiches Haar zwischen den Fingern spürte, ihre Lippen … Merkwürdig vertraut kam ihm die Nähe zu ihr vor -, dieses Gespür für den Schmerz, der in ihr zu wohnen schien …

    Aber woher plötzlich diese Wucht von tiefen Erinnerungen? Und warum blieben sie nicht? – Stattdessen waren da jetzt diese traurig leeren Rehaugen, die das Strahlen einstiger Lebensfreude schmerzlich vermissen ließen.

    Er rieb sich den Schwindel aus den Schläfen.

    Wieder nichts als ein Berg von Fragen.

    Warum nur hatten sich diese wunderbaren Erinnerungen wie Schatten aus einem geheimnisvollen Nebel geschält, einzig, um sogleich wieder aufs Meer des Vergessens hinauszutreiben?

    Genug der Suche nach den Momenten vergangenen Glücks. Er drückte den Knopf der Fernbedienung: Klack, Klack, alle vier Blinker des BMW blitzten in der hereinbrechenden Dämmerung gelb auf. Sofort spürte er das Unbehagen in seiner Magengegend. Ein letztes Mal sog er die frostige Luft gierig ein, so wie der Perlentaucher vor dem Sprung in die Tiefe seine Lungen bis zum Bersten füllt …

    Noah spürte das hagere Fleisch Jessicas an Schulter und Arm, wie es sich beinahe leblos über die Knochen ihres hageren Oberkörpers spannte. Mehr stützend, als ineinander gehakt, navigierte er ihren willenlos trägen Körper dem Haupteingang zu. Einen Kopf kleiner als er, und zierlich, als könnte jeder ungewollte Rempler eines Passanten sie in tausend Stücke zerbersten lassen, vermochte die fremde Umgebung nicht den Hauch einer Emotion in ihr anzuregen. Weder der Trupp hungriger Krähen, die mit ihrem Gezeter herumliegende Müllsäcke mit Versuch und Irrtum zu knacken versuchten, noch die exotischen Nummernschilder der geparkten PKW aus aller Herren Länder vermochten ihre Neugierde zu wecken. Nicht einmal ein flüchtiges Zucken ihrer Mundwinkel, das vitale Funktionen in ihrem Körper hätte vermuten lassen können, konnte er ausmachen – eine Teilnahmslosigkeit, wie sie jedem Spezialisten seiner beruflichen Qualifikation schlaflose Nächte bereiten würde.

    Abrupt hielt er inne, als sein Handy klingelte. Ohne zu überlegen, drückte er das Gespräch weg – seine Aufmerksamkeit an diesem Nachmittag galt ausschließlich dem zerbrechlichen Wesen an seiner Seite, seiner Patientin Jessica Morton-Ehrenberg, Ehefrau seines besten Freundes Lucas Ehrenberg, die – was er sich längst hatte eingestehen müssen – viel mehr als nur seine Patientin war. Reglos, die Arme schlaff herunterhängend, stand sie als der Grund seiner Besorgnis zitternd im scharfen Ostwind … fragend ohne Fragen … weinend ohne Tränen.

    Eine Windbö frischte auf, fuhr mit eisiger Kralle durch ihr dunkles, fast schwarzes Haar, das im Haaransatz naturblond herauswuchs. Wirr wehten die langen Strähnen bis weit über ihre Schultern hinweg. Aber anders, wie ihm selbst – nach vorn gebeugt und mit der Hand am Kragen des Trenchcoats mit zugekniffenen Augen einen Schritt vor den anderen setzend – schien ihr die Eiseskälte nicht das Geringste auszumachen, ja gleichgültig zu sein.

    Er fädelte ins Karussell vom Eingangsportal ein, das unermüdlich seine Runden drehte – ein permanentes Kommen und Gehen trauriger, schmerzverzerrter, hoffnungsvoller und manchmal auch glücklicher Gesichter. Im Tempo der Drehtür setzte er mit weiteren Besuchern wie siamesisch verbunden einen Fuß vor den anderen. Vermutlich würden sie die winzigen Schweißperlen auf ihrem bleichen Gesicht nicht einmal sehen, in denen vereinzelt schwarze Strähnen wie rituelle Zeichen festklebten. Besorgt griff er nach ihrer Hand, tätschelte ihren Handrücken, lächelte ihr zu. Aber natürlich wusste er, dass das kaum wahrnehmbare Zucken um ihre Mundwinkel ein vermeintliches Lächeln zwar andeutete, letztlich aber nur seiner Wunschvorstellung entsprang. Er hoffte darauf, dass es ein Fünkchen emotionaler Erregung gewesen sein möge, wurde aber enttäuscht, als sie ihren Blick kraftlos vor ihre Füße fallen ließ. Sie tat ihm unendlich leid. Wer von den im Drehkreuz mitgeführten Personen hätte das Leid dieser armen Seele auch ahnen können? Es musste

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1