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Wie die Schwalben fliegen sie aus: Südtirolerinnen als Dienstmädchen in italienischen Städten 1920–1960
Wie die Schwalben fliegen sie aus: Südtirolerinnen als Dienstmädchen in italienischen Städten 1920–1960
Wie die Schwalben fliegen sie aus: Südtirolerinnen als Dienstmädchen in italienischen Städten 1920–1960
eBook668 Seiten7 Stunden

Wie die Schwalben fliegen sie aus: Südtirolerinnen als Dienstmädchen in italienischen Städten 1920–1960

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Über dieses E-Book

In der Zwischenkriegszeit und in einer zweiten Welle in den Fünfzigerjahren arbeiteten viele junge Frauen, meist aus bäuerlichen Familien, in italienischen Großstädten als Dienst- bzw. Kindermädchen. Obwohl diese Arbeitsmigration quantitativ durchaus bedeutend war, fehlte dazu bislang jede historische Aufarbeitung. Wer sind die Frauen, und wie erfuhren sie von den Dienststellen, wie erlebten sie die Städte und die "fremde" Kultur, wie die neue Arbeit? Wie gestaltete sich ihre Freizeit, wie erlebten sie die "große Politik" in den Jahren des Faschismus, der Option und des Krieges? Und wie war es, in eine für viele sehr klein gewordene Welt zurückzukehren?
Auf diese Fragen antworteten über siebzig ehemalige Dienstmädchen. Entstanden ist so ein farbiges und spannendes sowie reich bebildertes Buch, das einen bislang nicht beachteten Bereich der Sozial- und Frauengeschichte aufarbeitet.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Raetia
Erscheinungsdatum17. Juli 2020
ISBN9788872837559
Wie die Schwalben fliegen sie aus: Südtirolerinnen als Dienstmädchen in italienischen Städten 1920–1960

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    Buchvorschau

    Wie die Schwalben fliegen sie aus - Ursula Lüfter

    Bildverzeichnis

    Einleitung

    Über Dienstmädchen bzw. weibliche Hausangestellte gibt es inzwischen sowohl im deutsch- wie auch im italienischsprachigen Raum eine breite Forschung und zahlreiche Publikationen. Der zeitliche Schwerpunkt liegt dabei in der Zeit vor der Jahrhundertwende, als die Anzahl der weiblichen Dienstboten in bürgerlichen Haushalten einen Höhepunkt erreichte. Das Augenmerk richtet sich vor allem auf die Hausarbeit als besondere Form der weiblichen Erwerbsarbeit, die den Frauen einerseits den Schritt in die ökonomische Selbstständigkeit eröffnete, gleichzeitig aber durch die meist enge Bindung an die Arbeitgeber die persönliche Freiheit auf ein Minimum reduzierte. Die Arbeit als Dienstmädchen fügte sich als Übergangszeit nahtlos in die Biografie der Frauen vom Land ein: vom Bauernmädchen zum Dienstmädchen und dann zur Hausfrau und Mutter – so zumindest wollte es die gesellschaftliche Norm.

    Das Phänomen der Dienstmädchen in städtischen Haushalten war zudem mit Migration verbunden. Die Migrationsforschung hat in den letzten Jahren zwar sehr an Aufmerksamkeit gewonnen, wird aber nach wie vor als Themenbereich behandelt, in dem es vor allem um männliche Erfahrungen geht.

    Die Verbindung von Migrations- und Dienstmädchenforschung und der zeitliche Schwerpunkt auf die für Südtirol politisch so bedeutsamen 30er Jahre des 20. Jahrhunderts machen die vorliegende Untersuchung zu einer Pionierarbeit. Obwohl die zeitweilige Emigration von jungen Frauen sowohl in der Zwischenkriegszeit als auch in der Nachkriegszeit verbreitet war,¹ wurde dieses Phänomen von der historischen Forschung bisher kaum wahrgenommen.² Für Südtirol gibt es diesbezüglich keine Untersuchungen. Dieses Versäumnis erklärt sich nicht zuletzt aus dem lange Zeit dominierenden ethnisch geprägten bzw. eingeengten Geschichtsbild. Innerhalb dieses Interpretationsrahmens konnte zwar die Arbeitsmigration der 50er Jahre in das deutschsprachige Ausland wahrgenommen werden. Die Tatsache, dass in Zeiten, in denen der italienische Staat das Feindbild der Südtiroler Politik schlechthin war – und dies gilt für die Zeit zwischen 1920 und 1940 natürlich noch mehr als für die 50er Jahre – Südtiroler/innen einen Arbeitsplatz in einer italienischen Stadt annahmen, musste jedoch mit einem Tabu belegt werden. Nur so ist es zu erklären, dass trotz der großen Anzahl von jungen Südtiroler Frauen, die in diesen Jahren in italienischen Städten gearbeitet haben, dieses Phänomen in der zeitgenössischen Presse kaum vorkommt und auch im Nachhinein höchstens in Nebensätzen in historische Untersuchungen Eingang gefunden hat.³ Im so genannten kollektiven Gedächtnis der Südtiroler/innen hingegen waren diese Frauen doch immer präsent. So haben in den 90er Jahren verschiedene Dorf- oder Bezirkszeitungen die Lebensgeschichten einiger Frauen veröffentlicht und damit deren Erfahrungen ansatzweise sichtbar gemacht.⁴

    Die Geschichtsschreibung über das Südtirol der 30er Jahre ist bis heute vorwiegend ereignis- und politikgeschichtlich orientiert. Dies wurde schon des Öfteren als Defizit benannt. Die Forderung nach einer sozialgeschichtlichen Perspektive auf diese Zeit beinhaltet gleichzeitig die Forderung nach einer differenzierten Betrachtung der Ereignisse. Bis heute wurde dieses Postulat allerdings kaum durch empirische Untersuchungen eingelöst.

    Diese Studie nimmt für sich in Anspruch, dieses sozialgeschichtliche Defizit zumindest teilweise aufzufüllen. Dies und die frauengeschichtliche Perspektive, die darüber hinaus eingenommen wird, führen tatsächlich zu einigen neuen und durchaus überraschenden Einsichten, was die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Südtiroler Bevölkerung in den 30er Jahren betrifft.

    Wie viele Frauen aus Südtirol in der Zwischenkriegszeit in italienischen Städten gearbeitet haben, lässt sich nicht quantifizieren. Da gerade die Hausarbeit rechtlich kaum geregelt war und die meisten unserer Gesprächspartnerinnen nicht gemeldet waren, sind aus statistischen Quellen keine ausreichenden Informationen zu erwarten. Aus arbeitstechnischen Gründen mussten wir unser Interviewprojekt von vornherein auf bestimmte Dörfer bzw. Gebiete konzentrieren und können deshalb keine statistische Repräsentativität beanspruchen. Allerdings lässt sich aus den Aussagen der Interviewpartnerinnen schließen, dass es sich zumindest in bestimmten strukturschwachen Gebieten des Landes wie etwa im oberen Vinschgau um ein sehr verbreitetes Phänomen handelte.

    Bedeutend war das Phänomen auf jeden Fall, und das gleich in mehrerer Hinsicht:

    •Der volkswirtschaftliche Beitrag, den diese Frauen zur Ökonomie des Landes leisteten, darf nicht unterschätzt werden. Die meisten der befragten Frauen gaben an, den ganzen oder einen Teil ihres Lohns nach Hause geschickt und damit wesentlich zum Überleben der Familie beigetragen zu haben.

    •Die weibliche Arbeitsmigration in die italienischen Großstädte sehen wir als einen besonderen Aspekt des Modernisierungsprozesses, der die europäische Zwischenkriegszeit insgesamt geprägt⁵ und der in Südtirol in dieser Form einen Ausdruck gefunden und zur Wandlung des hiesigen Frauenbildes entscheidend beigetragen hat.

    •In den Erfahrungen und Erinnerungen der Südtiroler Dienstmädchen spiegelt sich außerdem ein interessanter Prozess der reziproken Kultur-Mentalitätsvermittlung wider, der bei Migrationsphänomenen immer von Bedeutung ist, in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts – geprägt nicht zuletzt von der faschistischen Entnationalisierungspolitik in Südtirol – aber natürlich eine besondere Rolle spielte. Die Integrationsleistung, die die Südtiroler Frauen erbrachten, reduziert sich nicht auf eine einfache Anpassung an die neuen Verhältnisse, sondern erschließt sich als komplexe Verknüpfungsleistung zwischen den Vertrautheiten und Dispositionen des Herkunftsmilieus und den Möglichkeiten, die sich durch die neuen sozialen, räumlichen und kulturellen Konstellationen ergaben.

    •Die Publikation befasst sich darüber hinaus mit zentralen Fragestellungen der Frauengeschichte. Die Jahre von 1920 bis 1945, um die es hier vorrangig geht, sind in politischer Hinsicht ausgesprochen dichte und unruhige Jahre, in denen der Einfluss der politischen Brüche und Zäsuren auf das Leben der Menschen wahrscheinlich unmittelbarer war als in anderen „ruhigeren" bzw. stabileren Zeiten. Die Art, wie die jungen Frauen diese Rahmenbedingungen wahrnahmen und auf sie reagierten, weist einige Kennzeichen und Besonderheiten auf, die wir als geschlechtsspezifische Wahrnehmungsmuster von Politik zu verstehen und zu interpretieren versuchen.

    •Schließlich geht es um das Leben der Frauen selbst und insgesamt um die Frage nach den Möglichkeiten und Bedingungen weiblicher Lebensplanung in Südtirol in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wir haben zwar nur eine ganz bestimmte Gruppe von Frauen befragt, nämlich jene, die für eine mehr oder weniger lange Zeit in einer italienischen (Groß-)Stadt gelebt haben, in ihren Erzählungen begegneten wir jedoch häufig einem Grad von Autonomie und auch Widerständigkeit gegen zeitgenössische gesellschaftliche Normen, die uns erstaunt hat. Es war nicht immer einfach, die Selbstwahrnehmung dieser Frauen und unsere Sicht auf ihre Erfahrungen und Erzählungen auf einen Nenner zu bringen. Es war aber auf jeden Fall ein sehr spannendes Unterfangen, aus dem wir auch persönlich viel lernten.

    Unsere Gesprächspartnerinnen waren Frauen im Alter zwischen 60 und 95 Jahren aus allen Teilen Südtirols, die eine mehr oder weniger lange Zeit in einer italienischen Stadt im Haushalt beschäftigt waren. Der Großteil unserer Gesprächspartnerinnen arbeitete dort in den 20er, 30er und 40er Jahren; wir haben aber auch einige Frauen befragt, die erst nach dem Krieg eine Stelle in einer italienischen Stadt annahmen. Wir wollten uns damit die Möglichkeit verschaffen, einen genaueren Blick für Kontinuitäten und Unterschiede zu gewinnen.

    Insgesamt haben wir mit über sechzig Frauen themenzentrierte, lebensgeschichtliche Interviews geführt. Das Auffinden dieser Frauen war einfacher, als wir es uns vorgestellt haben. Im oberen Vinschgau hatten wir auf Grund persönlicher Bekanntschaften schon einige Kontakte, von denen wir ausgehen konnten. Für die anderen Landesteile suchten wir über Anzeigen in Lokalblättern ehemalige Dienstmädchen in italienischen Städten. Die Resonanz auf diese Inserate war unerwartet groß: Viele Frauen meldeten sich selber, sehr oft waren es die Kinder, meist die Töchter, die uns den Kontakt mit der Mutter vermittelten. Falls die Mutter schon verstorben war, erzählten uns die Kinder deren Lebensgeschichte und stellten Fotos, Briefe und andere Unterlagen zur Verfügung. Namen von ehemaligen Dienstmädchen wurden uns dann auch immer wieder im Gespräch genannt. Viele Menschen, denen wir von unserem Forschungsvorhaben erzählten, wussten uns weitere Namen zu nennen. Auch das ein deutlicher Hinweis darauf, dass es sich dabei tatsächlich um ein sehr verbreitetes Phänomen gehandelt hatte.

    Im Allgemeinen sind wir auf sehr große Gesprächsbereitschaft gestoßen. In einigen Fällen waren die Frauen auf Grund ihres hohen Alters aber nicht mehr in der Lage sich zu erinnern bzw. von ihren Erfahrungen zu erzählen. Nur in Ausnahmefällen verweigerten uns Frauen ein Interview mit dem Hinweis, dass sie darüber nicht reden wollten oder dass sie nichts mehr wüssten. Die meisten Frauen waren allerdings sehr erstaunt darüber, dass sich jemand für ihre Erfahrungen interessierte, freuten sich jedoch darüber, ihre Geschichte erzählen zu können.

    Die Offenheit, mit der uns die meisten Frauen begegnet sind, war außergewöhnlich. Wir vermuten, dass sich die Spontaneität und Flexibilität dieser Frauen nicht zuletzt durch ihre Erfahrungen in der „Fremde" erklären lassen.

    Bei der Wiedergabe der Interviews haben wir uns einige Freiheiten genommen. Die Übertragung vom Mündlichen ins Schriftliche erfordert immer gewisse Eingriffe, den Dialekt der Frauen haben wir zugunsten der Verständlichkeit in die Umgangssprache übertragen, auch haben wir manchmal in die Reihenfolge der Erzählung eingegriffen und nachträglich eine chronologische Ordnung hergestellt. Insgesamt ist es uns darum gegangen, die Authentizität der Aussagen möglichst zu erhalten und zu vermitteln.

    Die zahlreichen Fotos in diesem Buch stammen zum Großteil von unseren Gesprächspartnerinnen. Jedes Bild hat eine ganz eigene Bedeutung. Sie drücken in ihrer Gesamtheit – manchmal viel besser als viele Worte – ein Lebensgefühl aus, das diese Frauen damals geprägt hat. Die Frauen hängen meist sehr an diesen Fotos und haben sie immer sorgfältig aufbewahrt, umso mehr danken wir ihnen für das Vertrauen, uns diese für einige Zeit zur Reproduktion zu überlassen.

    Die Gespräche mit den Frauen waren die zentrale Quellenbasis für diese Publikation. Wir haben allerdings versucht, durch die Hinzuziehung von Archivmaterialien die Erfahrungen der Frauen in einen größeren sozialen und politischen Kontext einzubetten und zu verorten.

    Im Aufbau des Buches orientieren wir uns am Konzept der „kollektiven Biografie"⁶, das heißt wir begleiten die Frauen auf ihrem Lebensweg von der Kindheit im meist bäuerlichen Milieu über die ersten Arbeitserfahrungen in Südtirol bis hin zu ihrer Stelle in einer italienischen Stadt und den damit verbundenen Erfahrungen. Ebenso fragen wir danach, wie sie die Rückkehr nach Südtirol erlebt haben und wie ihre Erfahrungen ihren weiteren Lebensweg geprägt haben.

    Auch wenn jede Lebensgeschichte etwas Besonderes ist, so lassen sich doch zentrale gemeinsame Themen ausmachen, die die Erfahrungen der Frauen kennzeichnen.

    Die Arbeitsmigration der Frauen war wirtschaftlich notwendig. Es gibt einen kausalen Zusammenhang zwischen Nachkriegs- und Weltwirtschaftskrise und der Entscheidung, einen Arbeitsplatz in einer italienischen Großstadt anzunehmen. Es war für sie aber auch eine Möglichkeit, die Enge ihrer Herkunftsverhältnisse zu verlassen, neue Erfahrungen zu sammeln, eine gewisse Selbstständigkeit zu erlangen und etwas von der Welt zu sehen. Sie interpretieren ihre Erlebnisse als wichtige und auch meist schöne Zeit ihres Lebens. Auch jene mit schlechten Erfahrungen möchten die Jahre oder Monate meist nicht missen, denn „so hat man wenigstens etwas von der Welt gesehen".

    Die Lebensgeschichten dieser Frauen passen nicht so recht in das Bild der stabilen bäuerlichen und sesshaften bzw. heimatverbundenen Südtiroler Bevölkerung, welches die Literatur und die Geschichtsschreibung über dieses Land dominiert.

    Das Buch erzählt von der Herkunft der Frauen aus meist kleinbäuerlichen Verhältnissen über die Möglichkeiten und Formen der Kontaktaufnahme mit den zukünftigen Arbeitgebern bis hin zur aufregenden Reise an den neuen Arbeitsort.

    Der Kontakt mit der Stadt und das Leben dort waren für die meisten eine vollkommen neue Erfahrung, der sie sehr unterschiedlich begegnet sind. Da gab es jene, die wissbegierig durch Museen streiften, ins Kino gingen oder mit Freundinnen Ausflüge in die Umgebung machten, während andere kaum allein das Haus verließen und wenn, dann höchstens zu den angebotenen Treffpunkten in den örtlichen Klöstern gingen.

    Das „Freizeitverhalten" der Frauen hing natürlich auch davon ab, wie sich das konkrete Arbeitsverhältnis und die Beziehung zu den Dienstgebern gestaltete. Die Hausarbeit war den meisten Südtirolerinnen durchaus vertraut, und doch gestaltete sie sich in den bürgerlichen Haushalten oft in einer völlig neuen und ungewohnten, oft auch unverständlichen Weise.

    Eine wichtige Fragestellung für uns war auch jene nach der Wahrnehmung des Politischen. Wie erlebten diese Frauen den unmittelbaren Kontakt zu Italienern in den Jahren des italienischen Faschismus, wie nahmen sie das Regime selber wahr? Dazu kamen von unseren Gesprächspartnerinnen nur vereinzelt direkte Hinweise, aber zwischen den Zeilen glaubten wir doch eine ganz spezifische Haltung zu dieser Dimension des Politischen ausmachen zu können. Die Politik beeinflusste den Lebensweg der Frauen auch in unmittelbarer Weise, insbesondere die Option im Jahre 1939⁷ und der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.

    Eine Sprache zu finden, die den Erfahrungen und den Wahrnehmungen der Frauen gerecht wird, war nicht immer ganz einfach. Die Sprache als solche ist nicht geschlechts- und wertneutral⁸, das wurde uns bei dieser Arbeit in besonderer Weise bewusst. Wir mussten uns immer wieder um eine Balance zwischen Alltagssprache und historisch-politischer Korrektheit bemühen und sahen uns mit unbewussten Wahrnehmungen konfrontiert, die sich in sprachlichen Figuren niederschlagen.

    Es ging auch um eine Balance zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, um ein Verständnis der zeitgenössischen Wahrnehmung und das Bemühen um einen analytischen und theoretischen Blick aus der Distanz der Historikerin.

    Unsere Gesprächspartnerinnen, die zum Zeitpunkt ihres Dienstes zwischen 18 und 25 Jahre alt und unverheiratet waren, bezeichneten sich selber immer als „Mädchen. In unserer Wahrnehmung hatten wir mit der Verwendung dieses Begriffes oft Schwierigkeiten und bevorzugten die Bezeichnung „Frauen.

    Die Beschreibung eines Verhältnisses, welches zwischen Familie und Arbeitsmarkt angesiedelt ist, und die Bezeichnung seiner Protagonisten führte schon zu Beginn dieses Jahrhunderts in den entsprechenden Presseorganen zu einer Diskussion über die angemessenen Begriffe.⁹ Die unterschiedlichen Benennungen spiegeln unterschiedliche Grade von Abhängigkeit bzw. Unterwürfigkeit wider. Beim „Dienstmädchen kommt die Abhängigkeit in beiden Wortteilen zum Ausdruck, während „Hausmädchen im ersten Teil neutraler ist. Dienstmädchenzeitungen plädierten am Beginn des 20. Jahrhunderts für die Bezeichnung „Hausangestellte. Auch die Bezeichnung „Herrschaften für die Arbeitgeber wurde als nicht angemessen abgelehnt, als Alternativen wurden „Hausfrau und „Hausherr vorgeschlagen. Auch die Bezeichnungen „Dienstgeber und „Dienstnehmer seien irreführend, „weil die Herrschaft in Wirklichkeit die Dienste des Dienstmädchens in Anspruch nehme, der Dienstbote aber seine Arbeitskraft gebe".¹⁰

    Dienstmädchen, Hausmädchen, Hausangestelle, Hausgehilfin, Dienstbote – diese Begriffe sind außerdem sehr allgemein und sagen wenig über konkrete und oft sehr unterschiedliche Arbeitsrealitäten aus. Trotzdem haben wir sie, in Ermangelung von Alternativen, verwendet. Einige Tätigkeitsfelder lassen sich genauer definieren und auch entsprechend bezeichnen, wie eben Köchin oder Kindermädchen. Meist aber waren die Frauen für Haushalt und Kinder zuständig und im Haushalt wiederum in unterschiedlichem Ausmaß für die verschiedenen Bereiche. Wir haben uns für eine pragmatische Vorgangsweise entschieden: Wir hätten dieses Buch nicht schreiben können, hätten wir uns über jeden verwendeten Begriff genau Rechenschaft abgegeben. Ein wesentliches Kriterium, an dem wir uns orientiert haben, war der Sprachgebrauch der Frauen selber. In der Wiedergabe ihrer Erinnerungen haben wir die Bezeichnungen übernommen, die sie selbst gewählt haben, und haben diese in unseren Kommentaren zu den Erinnerungen auch nicht in Frage gestellt.

    „Wir haben in Italien gearbeitet, sagten unsere Gesprächspartnerinnen einfach. Für uns war es nicht so einfach. Auch Südtirol gehörte seit 1920 formell zu Italien, der Ausdruck „in Italien ist deshalb historisch irreführend. Andererseits unterschied sich die Realität in Südtirol in sprachlich-kultureller Hinsicht in diesen Jahren zweifellos grundlegend vom restlichen Staatsgebiet. Von italienischen Städten zu sprechen, schien uns daher am ehesten angemessen, wenngleich die Formulierung damit oft etwas umständlich wurde.

    Mit dieser Arbeit wird nicht nur ein historisch wichtiger Abschnitt der Südtiroler Geschichte aus einer neuen Perspektive thematisiert, sie enthält auch einige Anregungen für die Wahrnehmung der Gegenwart. Auch in einem kleinen Land wie Südtirol ist die Einwanderung von Menschen aus Nicht-EU-Ländern seit geraumer Zeit eine sichtbare Realität. Menschen kommen aus Ländern des Südens bzw. aus den ehemaligen Ostblockländern nach Südtirol, um hier zu arbeiten und zu leben. In der Anfangsphase waren die Migranten eher Männer, aber seit einigen Jahren gibt es immer mehr Frauen, die ihre Herkunftsländer verlassen, um hier vorübergehend bessere Arbeitsmöglichkeiten zu finden oder sich eine neue Existenz aufzubauen. „Fremde sind umso fremder, je ärmer sie sind", schreibt Hans Magnus Enzensberger¹¹ und weist damit auf die unterschiedliche Wahrnehmung und Behandlung von armen und reichen Einwanderern und Einwanderinnen hin.

    Migration weist auch geschlechtsspezifische Merkmale auf. Die Erwerbsmöglichkeiten für die Frauen sind im Wesentlichen – wenn wir die Prostitution nicht dazuzählen wollen – auf das Gastgewerbe und die Billiglohnjobs in den privaten Haushalten beschränkt. In Letzteren übernehmen sie vielfach anspruchsvolle und anstrengende Alten- und Krankenbetreuung. Nahezu ausschließlich von Ausländer(inne)n verrichtet werden die marktwirtschaftlich organisierten Hausarbeiten wie etwa bei Putzfirmen. Diese Arbeitsperspektiven mögen uns vielleicht wenig attraktiv erscheinen. Trotzdem kommen sehr viele junge Frauen in die reichen europäischen Länder, auch nach Südtirol, weil sie hier Möglichkeiten zu finden hoffen, die sie in ihren Heimatländern offensichtlich nicht haben. Ein etwas aufmerksamerer Blick in unsere eigene Vergangenheit kann für das Verständnis von Migration und ihrer menschlichen Dimension sehr erhellend sein. Er führt uns zu der Erkenntnis, dass soziale Mobilität bzw. Arbeitsmigration von Frauen nicht nur gegenwärtiger Ausdruck einer krisenhaften Realität in anderen Ländern ist, sondern dass es dieses Phänomen auch in Südtirol gegeben hat. Es ist für jedes Land – insbesondere für Südtirol, wo der Heimatbegriff so sehr mit Sesshaftigkeit verknüpft wird und eine besondere gesellschaftliche Rolle spielt – heilsam, sich an die eigene Migrationsgeschichte zu erinnern und sich bewusst zu machen, dass Heimathaben durchaus nicht selbstverständlich, sondern abhängig ist von sozialen und politischen Rahmenbedingungen und deshalb auch ein fragiles Konzept darstellt.

    Hans Magnus Enzensberger interpretiert „das Fehlen jeder Empathie mit den Neuankömmlingen, die mit denselben Widerständen zu kämpfen, dieselbe schwierige Situation vor sich haben, der sich ihre Vorgänger unterziehen mussten, als „eigentümlich rasche Vergesslichkeit, mit der das eigene Herkommen verdeckt und verleugnet wird.¹²

    „Aufgewachsen sind wir mit Brennsuppe und Polenta"

    Geografische Herkunft

    Südtirol stellt als Herkunftsgebiet der Dienstmädchen eine politisch klar abgegrenzte Region mit alpinem, in dieser Zeitperiode vorwiegend strukturschwachem Charakter dar. Hatte die Industrialisierung in anderen Gebieten schon Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt, wurde Südtirol auf Grund der besonderen politischen Lage in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch kaum davon berührt.¹ Die wenigen Industriebetriebe, die sich vor allem in Bozen ansiedelten, waren den zugezogenen Italienern vorbehalten. Auch aus der Verwaltung und dem öffentlichen Dienstleistungssektor blieben die Südtiroler weitgehend ausgeschlossen. Bis zu 70 Prozent der Bevölkerung, in abgelegenen Tälern auch mehr, arbeiteten bis in die 60er Jahre noch in der Landwirtschaft. ²

    Gleichzeitig wuchs die Bevölkerung stetig. Verbesserte ärztliche Versorgung und bessere hygienische Verhältnisse ab dem 19. Jahrhundert führten auch im südlichen Tirol dazu, dass in den Familien sechs, acht oder mehr Kinder aufwuchsen und ernährt werden mussten. Die Landwirtschaft allein bot aber nur wenigen Menschen dauerhaft Einkommen und Arbeit. Außerhalb des Elternhauses reduzierten sich die Arbeitsmöglichkeiten für Männer und Frauen traditionell auf Knecht und Magd. Für Mädchen und Frauen war es dazu grundsätzlich schwieriger, Lohn und Brot zu finden, da auf einem Bauernhof mehr Bedarf an männlichen Arbeitskräften war.³

    Allein in einer der wenigen Städte Südtirols oder in deren unmittelbarer Nähe konnten Mädchen auch in anderen Berufszweigen unterkommen. Die Angebote waren dort vielfältiger und beschränkten sich nicht nur auf bäuerliche Arbeiten. Meran und Bozen boten etwa Stellen im Handel oder als Hausmädchen in einer bürgerlichen Familie⁴. Wohl auch deshalb ging seit 1910 die Zahl der erwerbstätigen Frauen in der Landwirtschaft stärker zurück. Vermutlich empfanden gerade Frauen „die Arbeitsbedingungen in nicht bäuerlichen Diensten als wesentlich vorteilhafter.⁵ Das Angebot reichte in Südtirol allerdings nicht aus, um alle „überschüssigen weiblichen Arbeitskräfte zu beschäftigen, sodass viele gezwungen waren, die Herkunftsfamilie zu verlassen und auch in entfernte Regionen abzuwandern.⁶

    Nun weist Südtirol vielfältige Siedlungsformen und -strukturen auf, die Siedlungen liegen zwischen 200 und 2000 m Meereshöhe. Die unterschiedliche Bewirtschaftung und Produktivität regelte den Bedarf an freien Arbeitskräften und führte zur größeren oder geringeren Notwendigkeit der Arbeitsmigration in den verschiedenen Tälern und Gebieten. In einigen Landesteilen Südtirols, wo das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Lebensgrundlagen die Existenz der Bewohner seit jeher in Frage stellte, gab es immer schon Wanderbewegungen. In erster Linie hatte dies allerdings Männer betroffen, die sich etwa als Bauhandwerker außerhalb des Landes verdingten.⁷ Es gibt jedoch auch Hinweise, dass Frauen bereits im 17. Jahrhundert ins Ausland gingen und dort bei Bauern dienten.⁸

    Im Obervinschgau lässt sich die saisonale Abwanderung in ferne Regionen bis in die frühere Neuzeit zurückverfolgen. Das bekannteste Phänomen ist das der Schwabenkinder.⁹ Nicht nur Kinder verließen vom Frühjahr bis zum Herbst das Tal, auch Erwachsene suchten auswärts Arbeit. Um 1890 hielten sich 250 von 1160¹⁰ Personen aus der Gemeinde Prad außerhalb ihres Heimatortes auf.¹¹ Sehr viele von ihnen arbeiteten in den verschiedenen Ländern der Habsburgermonarchie¹², aber auch in der nahen Schweiz¹³ und in Italien¹⁴.

    Johannes Grießmair stellte in seiner Untersuchung über Dienstboten im Pustertal fest, dass das Ahrntal und das Gadertal bis zum Zweiten Weltkrieg sehr viele Dienstboten stellten, das heißt, dass in diesen abgelegenen Talschaften ein besonders großer Überschuss an Arbeitskräften herrschte.¹⁵

    Als am Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr Urlauber nach Südtirol reisten und der Fremdenverkehr sich als neue Einnahmequelle erwies, öffneten sich zunehmend auch bis dahin eher abgelegene Täler und Ortschaften. Allerdings entwickelte sich der Tourismus nicht überall in gleichem Maß. Durch den Ersten Weltkrieg kam es zunächst zu einem drastischen Einbruch in dieser Branche. Zu Beginn der 20er Jahre, also nach der Annexion Südtirols durch Italien, setzte schließlich ein Massentourismus ein, der neben internationalen und deutschen Gästen auch Scharen von Italienern in die Dolomiten, ins Pustertal, ins Grödental und in die Ortlerregion, nach Bozen und Meran brachte.¹⁶ Das bedeutete neue Arbeitsplätze vor allem für Mädchen und Frauen. Gleichzeitig bot sich Arbeit suchenden Mädchen die Gelegenheit, italienische Familien kennen zu lernen, die eventuell auf der Suche nach einem Hausmädchen waren. Viele nutzten die Chance und nahmen eine Hausmädchenstelle in einer italienischen Stadt an, etwa in Mailand, Florenz oder Rom.

    Geografische Herkunft der befragten Frauen

    Diese und die folgenden Grafiken und Tabellen berücksichtigen nur Frauen der ersten Wanderungswelle, also jene Südtirolerinnen, die in der Zwischenkriegszeit in einer italienischen Stadt gearbeitet haben.

    Genaue Angaben, wie viele Mädchen in der Zwischenkriegszeit in italienischen Städten als Hausangestellte dienten und aus welchen Landesteilen sie stammten, lassen sich nicht machen. Die Mädchen waren in der Regel am Arbeitsort nicht gemeldet, deshalb erfolgte keine entsprechende amtliche Registrierung weder am Arbeitsort noch in der Heimatgemeinde.

    Die große Anzahl der Vinschgerinnen unter den Befragten erklärt sich nicht nur mit der ausgeprägteren Strukturschwäche des Gebietes, sondern auch damit, dass hier die Autorinnen auf Grund einiger persönlicher Beziehungen umfassendere Kontakte zu den Frauen aufnehmen konnten als in den anderen Landesteilen Südtirols. Daher lassen sich aus den hier zusammengetragenen Daten nur bedingt Rückschlüsse auf die tatsächliche Raum- und Mengenverteilung der Migrantinnen ziehen.

    Familie Stecher vor ihrem neu gebauten Haus in Prad unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg

    Kinder des Krieges

    Die erste Wanderungswelle Südtiroler Mädchen in italienische Städte in den 20er und 30er Jahren umfasst die zwischen 1900 und 1923 Geborenen. Einige von ihnen erlebten noch den Krieg mit und waren geprägt vom Schock des Anschlusses Südtirols an Italien. Der Südtiroler Historiker Hans Heiss schreibt über die Aussichten dieser Kriegs- und Nachkriegskinder: „Wer 1914 in Südtirol zur Welt kam, erfuhr in seiner frühen Kindheit die prägende Erfahrung des Mangels, oft sogar des Hungers. Den Waffenstillstand 1918, den Frieden 1919 erlebten auch die Kinder nicht als Befreiung, sondern übernahmen die Sicht ihrer oft bekümmerten Eltern, die sich um ihre Existenz, um Arbeitsplatz und Einkommen sorgten."¹⁷

    Die Väter standen meist als Soldaten im Ersten Weltkrieg, oft blieben die Frauen allein mit einer Schar kleiner, hungriger Kinder und harter Arbeit auf dem Hof zurück. Der staatliche Unterhaltsbeitrag für die Angehörigen eines Soldaten war angesichts der enorm ansteigenden Lebenshaltungskosten während des Krieges kaum mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein.¹⁸

    Die ältesten der ehemaligen Dienstmädchen haben zwar nur wenige, dafür aber umso eindrücklichere Erinnerungen an den Krieg. Es sind Erinnerungen an Hunger, an die Präsenz von Soldaten und Gefangenen. Die 1910 geborene Rebekka Rungg aus Prad erzählt: „Der Vater hat 1914 einrücken müssen, wir waren noch kleine Kinder. Wir haben das Donnern der Kanonen vom Stilfser Joch herunter gehört. Der Vater musste an die Ortlerfront, er war bei den Standschützen. Mit einem Fernglas hat er vom Stilfser Joch heruntergeschaut und hat gesehen, dass das Korn reif ist, und es war niemand daheim, der es hätte mähen können. Und Brot wäre mehr als notwendig gewesen." Regina Walcher aus Eppan erinnert sich, dass die Bauern Vieh, Getreide, Milch und Butter für die Soldaten stellen mussten: „Als nur mehr eine Kuh im Stall war, sollte die Mutter auch die noch abgeben. Manchmal wusste die Mutter nicht, was sie kochen sollte, es war nichts im Haus." Auch die Familie von Maria Girardi aus Tramin litt unter der Lebensmittelknappheit während des Krieges. Als Maria 1943 in Innsbruck von der Gestapo in Untersuchungshaft genommen wurde, antwortete sie dem Gefängnisdirektor auf die Frage, wie sie mit dem Essen zufrieden sei: „Wenn meine Mutter während des Ersten Weltkrieges für ihre Kinder so viel gehabt hätte wie wir hier, hätte sie vielleicht weniger geweint." Dabei hatte ihr Vater, der Bursche bei einem Offizier war, der Familie manchmal Lebensmittelpakete geschickt und damit die Familie über den schlimmsten Hunger hinweggerettet.

    Geburtsjahr

    * Diese Frauen sind bereits verstorben oder waren nicht mehr ansprechbar. Die Informationen stammen aus Gesprächen mit Angehörigen.

    Den Hunger weniger zu spüren bekamen Familien, die eine Mühle, Metzgerei oder Bäckerei besaßen. „Wir hatten Milch und Brot, wir hatten eigentlich immer genug zu essen. Während des Ersten Weltkrieges hatten wir Russen in unserem Haus, Kriegsgefangene, die haben bei der Grödner Bahn gebaut. Bei uns war so eine Art Lazarett. Aber die Russen hatten so großen Hunger, die bekamen sehr wenig zu essen. Das war schrecklich, da sind viele gestorben. Und dann sind die armen Kerle immer zu uns gekommen, und die Mutter mit ihrem großen Herz hat ihnen immer was gegeben", erzählt Annamaria Mussner aus St. Ulrich.

    Sehr dramatisch war der Krieg für die Bewohner von Trafoi, sie mussten das Dorf verlassen, da im Ortlergebiet eine der wichtigen Verteidigungslinien gegen die Italiener verlief. Die Familie von Paula Wallnöfer übersiedelte mit Sack und Pack nach Prad: „Wir sind vorübergehend auf dem Nauhof in Prad untergekommen. Auf dem Dachboden war eine große Kommode, da hat man die untere Schublade herausgezogen, da haben zwei Buben darin geschlafen. Wir Kinder waren gerne auf dem Hof, die Mutter nicht, denn sie musste mit der Naubäuerin auf einem Herd kochen."

    Auch die Jahre nach Kriegsende waren noch vielfach von Entbehrungen und Hunger geprägt. Vielerorts erreichte die Not in den Jahren nach dem Krieg ihren Höhepunkt. Es fehlte an allem. Besonders hart traf es jene Familien, deren Väter im Krieg ums Leben gekommen waren, wegen ihrer Kriegsverletzungen arbeitsunfähig blieben oder daran starben. Manche Frauen waren noch Jahre auf sich allein gestellt, weil ihre Männer in Kriegsgefangenschaft waren.

    Nicht immer konnten die Frauen für den Unterhalt der Kinder sorgen, sodass die Familien auseinander brachen. Der Vater von Luise, Hilda und Theresa Tschenett war an der Ortlerfront durch einen Kopfschuss schwer verletzt worden und wurde zu einem Pflegefall. Die Mutter übersiedelte von Stilfs nach Meran zu einer Verwandten, die ihr dort Arbeit vermittelte. Einige der Kinder wurden im Liebeswerk in Dorf Tirol untergebracht, andere in den Dienst zu Bauern geschickt. Der Vater von Ida Noggler aus Mals kam krank aus dem Krieg zurück und verstarb bald darauf. Die Mutter blieb nicht nur mit den sechs Kindern allein, sondern musste auch die Schulden für das Haus zurückzahlen, das ihr Mann vor dem Krieg gekauft hatte. Ida, Jahrgang 1906, übernahm als älteste Tochter die Erziehung der kleineren Geschwister und versorgte den Haushalt, da die Mutter oft außer Haus war, um die Arbeit auf dem Feld zu erledigen und das nötige Geld für die Familie zu verdienen.

    Oft schwingt in den Erzählungen über die Kriegs- und Nachkriegsjahre der Frauen Bewunderung für die Leistungen der Mütter mit. Die Schwester von Emma Sagmeister aus Mals berichtet, dass ihre Mutter neben der Versorgung der vierzehn zum Teil noch kleinen Kinder die Metzgerei und die Landwirtschaft allein weiterführte. Zwar halfen ihr zwei Gesellen und vorübergehend auch ein russischer Gefangener, doch brachte sie eigenhändig mit dem Pferdefuhrwerk Fleisch nach Nauders, Glurns und in die Schweiz, auch das Geschäftliche erledigte sie selbst.

    Die zweite Wanderungswelle Südtiroler Mädchen und Frauen in italienische Städte vollzog sich zu einer Zeit, in der Mobilität und Migration ein bestimmendes Merkmal Südtirols waren. In den 50er und 60er Jahren kehrten viele abgewanderte Optanten nach Südtirol zurück, gleichzeitig gingen aber viele junge Südtiroler/innen nach Deutschland, Österreich, in die Schweiz und eben auch in italienische Städte. Dieses Mal waren es vor allem Mädchen der Jahrgänge von 1930 bis 1940, die Südtirol auf Grund des prekären Arbeitsmarktes in Richtung Süden verließen. Mit ihren Eltern hatten diese Mädchen in ihrer Kindheit das Entweder-oder der Option durchlebt. Waren die Eltern Dableiber, so hatten auch die Kinder Ablehnung und Hass der Dorfgemeinschaft zu spüren bekommen. Bei Maria Jessacher sitzt der Schock heute noch tief: „Wir hatten bei der Option ja fürs Dableiben optiert, und deshalb sind wir dann in die italienische Schule gegangen. Schon als Kinder wurden wir da ganz schrecklich verfolgt. Mit Steinen haben sie auf uns geworfen. Auch von der deutschen Lehrerin sind wir verfolgt worden, nicht nur von den Kindern. Und – wie soll ich sagen – das bleibt fürs ganze Leben. Da kriegt man kein richtiges Selbstbewusstsein mehr. Da versucht man sich immer anzupassen, hat immer Angst, dass wieder etwas passiert. Der Humor, die Lebensfreude, die man mal hatte, die kommen nicht wieder. Dafür ist man einfach zu viel unterdrückt, zu sehr gehasst worden. Auch nach dem Krieg sind diese Fronten geblieben, lang nach dem Krieg."

    Der Zweite Weltkrieg ließ auch Südtirol nicht unberührt. Zwar kam es von 1939 bis 1945 nicht zu einer Lebensmittelknappheit wie während des Ersten Weltkrieges, trotzdem bestimmte der Krieg den Alltag und hinterließ auch Spuren bei den heranwachsenden Mädchen.

    Hermine Lutt (1. von links) mit (Stief-) Schwestern und Stiefmutter, Schluderns

    Anna Unterthiner mit Mutter, Latzfons

    Soziale Herkunft

    Zwischen 1921 und 1939 nahm die Bevölkerung Südtirols um knapp 100.000 Personen zu.¹⁹ Neben dem Geburtenüberschuss fielen an die 56.000 zugewanderte Italiener darunter. Betroffen von der Zuwanderung der Italiener waren in erster Linie die Städte und die Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkte, die ländlichen Gemeinden, aus denen der größere Teil der befragten ehemaligen Dienstmädchen stammt²⁰, weit weniger. Zwar griff der Faschismus in die dörfliche Lebenswelt ein, deren Sozialstruktur änderte sich jedoch im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur unwesentlich. Wie schon erwähnt, arbeiteten in Südtirol bis in die 60er Jahre noch 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung in einer überwiegend klein strukturierten Landwirtschaft. Knapp 57 Prozent der rund 27.000 bäuerlichen Betriebe bestanden aus weniger als fünf Hektar. Diese Betriebe, meist von kinderreichen Besitzerfamilien bewirtschaftet, dienten in erster Linie der Selbstversorgung. Manche Bauern übten neben der Landwirtschaft noch einen Handwerksberuf aus: Müller, Bäcker, Metzger, Rädermacher, Schmiede, Gerber und andere Handwerkszweige stellten bis in die 60er Jahre in Handarbeit Produkte für die Dorfbewohner her. Das erbrachte oft das Haupteinkommen für die Familie oder zumindest ein gutes Nebeneinkommen. In jedem Dorf gab es Gasthäuser und kleine Gemischtwarenhandlungen, auch deren Inhaber bewirtschafteten in der Regel gleichzeitig einen Hof.²¹ Neben den Großbauern zählten diese Familien meist zu den „Besseren" im Dorf. So besaß die Familie von Annamaria Mussner aus St. Christina eine schöne große Mühle, außerdem „hatten wir neben der Mühle auch ein Geschäft. Der Vater war ein sehr angesehener Mann, sehr ehrlich und sehr gewissenhaft". Anna Telfser aus Schlanders erzählt: „Wir haben eigentlich während des Ersten Weltkrieges und auch danach keinen Hunger gehabt, auch weil der Vater Metzger war, dann hatten wir auch immer ein bisschen Fleisch." Der Vater von Maria Wunderer aus Prad, der nach dem Krieg als Fuhrunternehmer arbeitete und gleichzeitig auch eine Mühle, ein Sägewerk und eine Landwirtschaft betrieb, konnte der Familie ein sicheres und ausreichendes Einkommen bieten. Auch in den Briefen der Familie an Rosa Kobler wird nie Mangel an Lebensmitteln erwähnt, ihr Vater war Bauer, Müller und Sägewerksbesitzer.

    Neben den Bauern mit mehr oder weniger großen Höfen und Bauern mit Nebenerwerb gab es die ländlichen Unterschichten. Die so genannten „Kleinhäusler und „Ingehäusen²², die über keinen oder nur sehr wenig eigenen Grund und Boden verfügten, hielten Kleinvieh, bearbeiteten Grundstücke, die ihnen von den Bauern gegen Pachtzins überlassen wurden, und verdingten sich nebenbei als Tagwerker. Sie übten auch Handwerksberufe aus, die nicht besonders einträglich waren, wie Schuster und Schneider.

    Edith Genta aus Margreid beschreibt den bescheidenen Besitz ihrer Familie folgendermaßen: „Um das Haus herum waren Reben. Es waren kleine Äcker, wo man Gemüse angebaut hat oder Erdäpfel. Wir hatten Hennen und Hasen und Schweine und auch Ziegen. Für die Kühe hatten wir zu wenig Futter. Wir hatten nicht viel, sodass die Arbeit von den Frauen erledigt werden konnte, und die Männer gingen ins Tagwerk. Weil in Margreid waren Barone, der Baron Salvadori (Italiener), Baron Widmann und es waren viele Villen. Mein Vater ist auch ins Tagwerk gegangen. Deshalb haben die Frauen viel arbeiten müssen, zu Mittag haben sie oft draußen auf dem Feld gegessen, auch den Halbmittag und die Marende haben sie mitgenommen. Die Kinder haben sie oft daheim eingesperrt."

    Bei der Zusammensetzung der bäuerlichen Bevölkerung gab es wesentliche Unterschiede in der westlichen und östlichen Landeshälfte. In den östlichen Talschaften herrschten auf Grund des Anerbenrechtes²³ die Groß- und Mittelbetriebe vor, welche die zusätzliche Beschäftigung von Dienstboten erforderten. Sie rekrutierten sich aus den weichenden Bauernkindern und den Dienstbotenkindern²⁴ und waren auf Grund des häufigen Arbeitsplatzwechsels nicht feste Mitglieder einer Gemeinde.

    In der westlichen Landeshälfte hatte eine extreme Realteilung²⁵ zu Besitzzersplitterung geführt, die es den Familien fast unmöglich machte, sich vom eigenen Grund und Boden zu ernähren. Das Einkommen besserte man sich durch Tagwerk, Saisonarbeit, Wanderhandel, in den nahe an der Schweizer Grenze gelegenen Dörfern auch durch Schmuggeln auf²⁶. Überzählige Arbeitskräfte suchten sich anderswo, auch außerhalb des Tales, Arbeit. Es gab wenig erwachsene Dienstboten, da die Arbeit auf Grund der geringen Hofgröße in der Regel von den Familienmitgliedern erledigt werden konnte. Waren keine eigenen oder nur kleine Kinder da, holte man sich in den Sommermonaten Kinder von anderen Bauern oder hielt ganzjährig „Kostkinder".

    Dass viele Familien in diesen Gebieten ständig ums Überleben kämpfen mussten, schildern eindringlich Frauen aus dem oberen Vinschgau. „Da wo der Bettelmann still Wache gestanden ist" und da, wo er „af dr Lottr umkeahrt isch, da sind wir daheim gewesen". So beschreibt Helena Blaas aus St. Valentin ihre Herkunft. Maria Ortler aus Prad drückt es folgendermaßen aus: „Es hat zu der Zeit Arme gegeben und weniger Arme. Wir waren nicht die Ärmsten, aber wir waren trotzdem arm, arm wie alle." Die Familien lebten hier auf engstem Raum. Infolge der Realteilung wurden nicht nur die Felder zerstückelt, sondern auch die Häuser aufgeteilt. In Prad lebten um 1885 in dreizehn zumeist einstöckigen Häusern 42 Parteien, 1902 waren es vierzig Parteien in 26 Wohnungen.²⁷ Auf dem abgelegenen Hof Wartamstein oberhalb von Agums, wo Josefa Brunner aufwuchs, teilten sich zwei Parteien nicht nur den Hof, sondern auch die Küche, die Grenze verlief mitten durch den Herd.

    Der ohnehin nur geringe Anteil der deutsch- und ladinischsprachigen Beamten nahm während der Zeit des italienischen Faschismus weiter ab, an ihre Stelle traten italienische Beamte.²⁸ Der Vater von Hanni Kostner aus Bruneck, er war vor dem Krieg österreichischer Bahnangestellter gewesen, wurde nach Piacenza versetzt. Auch viele Lehrer mussten eine Versetzung in die altitalienischen Provinzen hinnehmen, um ihre Arbeit nicht zu verlieren. In der Regel waren Lehrer und Beamte nicht besonders begütert.

    Beruf des Vaters und Anzahl der Kinder in der Familie

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