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Wolfsuche: Versuch einer Annäherung
Wolfsuche: Versuch einer Annäherung
Wolfsuche: Versuch einer Annäherung
eBook488 Seiten7 Stunden

Wolfsuche: Versuch einer Annäherung

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Über dieses E-Book

Der Roman ist eine vielschichtige Suche nach Identität, mitten in aufregender Zeiten. Er ist die Suche nach sexueller Orientierung, nach dem Sinn politischer Einordnung und nach ganz persönlichem Glück. Brecht sagte: Doch die Verhältnisse, die waren nicht so.
Da opfert einer seine Familie, sein kleines Glück, um anders zu sein, und scheitert daran. Ein anderer will dem nachspüren und das Warum herausfinden. Bei dieser Suche verändert er sich, wird beinahe zu dem, dessen Wesen er zu finden hofft.
Das Buch ist ein politisches Buch, ein Krimi, ein Liebesroman. Alles in einem. Es ist schwer von diesem Buch fortzukommen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum31. März 2020
ISBN9783750495609
Wolfsuche: Versuch einer Annäherung
Autor

Klaus Funke

Klaus Funke, in Dresden geboren, ist Autor zahlreicher bekannter und erfolgreicher Romane, Novellen und Erzählungen. Die meisten davon sind bei bekannten Verlagen erschienen.

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    Buchvorschau

    Wolfsuche - Klaus Funke

    12

    1

    Zuerst war sie mir nicht aufgefallen, diese Frau in Schwarz.

    Ein dunkler anonymer Fleck da draußen im bunten Strom der Passanten, der sich täglich an unserem kleinen Café vorbei schob.

    Und natürlich hatte ich meine Augen und meine Aufmerksamkeit in erster Linie für meine Gäste. Ständig ging die Pendeltür. Gäste gingen, Gäste kamen: Guten Tag, meine Dame, erfreut Sie zu sehen, mein Herr, ich begrüße Sie, meine Herrschaften, wenn ich Sie hierher bitten darf. Hier die Karte von heute. Als Café Inhaber, Kellner, Büfettier, als Mädchen für alles, ist man immer beschäftigt, ständig in Bewegung. Die Augen eilen flink von Tisch zu Tisch. Nichts, nicht das Kleinste darf mir entgehen. Und doch gibt es Phasen der Ruhe. Meist im späten Vormittag. Es ist einfach nichts los. Wenig Gäste. Manchmal, für wenige Minuten oder mal eine halbe Stunde, ist das Café auch völlig leer. Ich lehnte dann am Büffé, las in irgendeiner Zeitung oder döste einfach so vor mich hin.

    Mein Blick fiel in solchen Augenblicken auch durch die großen Fenster nach draußen auf die belebte Straße.

    Und da habe ich sie gesehen, diese Frau.

    Das Café, dem wir den einfachen Namen Café petit gegeben hatten, befand sich in der K...straße, gleich neben, oder besser: im Schatten der großen, altehrwürdigen Kirche gleichen Namens. Zusammen mit meinem Geschäftspartner und Freund Karl Gessner hatten wir, wenige Monate nach der neuen Einheit Deutschlands, die Idee, mitten in der City der sich rasch entwickelnden neuen Landeshauptstadt ein kleines Szene und Literatur Café einzurichten. Derartiges gab es zu diesen Zeiten noch nicht. Wir fanden ziemlich schnell die geeignete Lage, den Vermieter und eine Bank. Alles ging überraschend schnell und unkompliziert. Die Gäste kamen und mit Ihnen die Einnahmen und Umsätze. Wir stürzten uns in die Arbeit. Viel Streß, wenig Schlaf, nichts hielt uns auf, in diesen ersten Monaten und den folgenden zwei Jahren.

    Erst dann kamen erste Kreditrückforderungen und die neuen Grundstückseigner und der schlimme Ärger, der uns schließlich zur Aufgabe zwang. Doch das ist eine andere Sache, die nicht hierher gehört.

    Wenn ich heute dort, an unserem Café vorbei gehe, erinnern mich nur noch die zwei bunte Markisen, die den Gästen an vier kleinen Tischchen und den dazugehörigen Korbstühlen im Sommer Schatten und Erquickung spenden und die die Nachfolger von uns übernommen hatten, an unsere glückliche Zeit als Café Betreiber, an unser kleines Café „Petit" und an die merkwürdige Geschichte, die mich bis heute bewegt, und die mein Leben verändert hat.

    Ja, durch sie bin ich ein anderer geworden, unmerklich am Anfang, doch in immer schnellerem Tempo zuletzt.

    Es ist die Geschichte einer Suche. Der Suche nach der Identität eines Mannes, der sich in der Mitte seines Lebens selbst tötete und es ist die Suche nach mir, der ich ihm nachspürte und zuletzt mich in ihm selbst fand. So einfach und gleichzeitig so ungeheuer kompliziert ist sie, diese wahre Geschichte, die ich mit diesen Aufzeichnungen festhalten, dokumentieren und bewahren will.

    Und sie begann in unserem Café mit dieser Frau in Schwarz.

    Doch ich will versuchen, der Reihe nach zu erzählen.

    Aber es fällt mir schwer, denn ich bin vollkommen ungeübt, eine solche Sache (diese merkwürdige und teilweise absurde Geschichte) aufzuschreiben, wie ich sie jetzt in Angriff nehmen will.

    Schon seit längerer Zeit habe ich dies vor.

    Tagelang sitze ich nun schon während der trübe dahin rinnenden Abendstunden in meiner kleinen Zweizimmerwohnung herum und quäle mich.

    Wie fange ich es an? Wie schreibe ich das auf?

    Wo beginnen, wo aufhören?

    Und: Wer wird das jemals lesen? Wer noch außer mir? - denn in Wahrheit schreibe ich zuerst für mich.

    Doch, genug dieser selbstquälerischen Gedanken!

    Womit also beginnen?

    Vielleicht mit der Beschreibung der näheren Umgebung des Cafés „Petit". Das ist ein Einstieg, der mir leicht fällt und meine Gedanken sacht heran führt. Wie einen Wanderer zu seinem Ziel.

    Wie ich weiter oben schon erwähnt habe, lag (das heißt: Es befindet sich bis zum heutigen Tag noch dort) unser kleines Café in der K...straße, unmittelbar neben der stadtbekannten Barockkirche gleichen Namens. Die K..straße ist nur sehr schmal; kaum zwei Autos kommen aneinander vorbei. Die Kirche dagegen aber ein gewaltiger Bau, so daß die Straße fast den ganzen Tag im Schatten liegt. Nur im Sommer und im späten Nachmittag erreichen die Sonnenstrahlen die grauen Granit Pflastersteine der Straße, die durch ihre Glimmer Einlagerungen silbern aufblitzen und vergolden dann auch die Straßenfront unseres Cafés und der Nachbarläden.

    Jede Viertelstunde schlagen die Turmglocken der Kirche. Ihr Dröhnen und der lange Nachhall bestimmen den Rhythmus in ihrer Umgebung. Doch die Anwohner und auch wir kleinen Laden- und Cafébesitzer hören das schon nicht mehr. Ich glaube, wir wären über die Stille erschrocken, hätten diese Glocken einmal nicht mehr geschlagen.

    Unser Café und der Laden nebenan bilden die Straßenfront und zugleich das halbe Erdgeschoß eines fünfstöckigen Gebäudes, das, in den Sechzigern erbaut, seit Anfang 1990 verschiedene Verwaltungseinheiten der evangelischen Landeskirche, kirchliche Vereine und ökumenische Einrichtungen beherbergt. Davor residierte in ihm seit seiner Erbauung die Stadtleitung der allmächtigen Einheitspartei. Aus dieser Zeit stammen auch die rot weißen Schranken, die Fahrzeuge aller Art an der freizügigen Einfahrt durch eine neben unserem Café gelegenen Hofeinfahrt hindern sollten. Auch am Eingangsportal des Hauses erinnern noch vier große Bohrlöcher, die man in den Sandstein getrieben hatte, um die rote Namenstafel der Einheitspartei für alle Ewigkeit zu befestigen, an diese früheren Zeiten. Damals gab es unser Café natürlich noch nicht. An seiner Stelle betrieb man ein Ledergeschäft, in dem man zwar kaum Leder, dafür aber jede Menge sogenanntes Kunstleder in allen Farben und Designs kaufen konnte.

    Geht man an den großen in Jahrhunderten geschwärzten Sandsteinblöcken der Kirche entlang, kommt man auf den alten Markt der Stadt. Einem imposanten Platz, der von Wohnblöcken und Kaufhäusern im Stil der fünfziger Jahre umrahmt wird. Immer wieder fühlt man sich dabei an die ehemalige Berliner Stalinallee erinnert. Die gleiche pompöse Architektur, nur irgendwie stadttypischer und provinzieller. Auf der anderen Seite der Kirche hat der wuchtige Klotz des Rathauses mit seinem achtzig Meter hohem Turm und dem vergoldeten Mann darauf, der seinen rechten Arm gen Osten hebt, die Zeiten und den schlimmen Krieg überdauert.

    An der Seite der Kirche, die der K...straße zugewandt ist, besteht das Trottoir nur aus schmalen Granitplatten, die zur Kirchenmauer hin stufenförmig angeordnet und erhöht sind. Die meisten Passanten benutzen daher die andere Seite des Fußweges, diejenige, auf der sich auch unser Café „Petit" befand.

    Eines Tages, es war einer jener schwülheißen Tage wie wir sie oft gegen Ende Juni hier im Elbtal erleben, kurz vor Mittag, stand ich am Büffet und blätterte in einer Boulevardzeitung. Im Café waren nur zwei Tische mit insgesamt drei Gästen besetzt. Nichts los, also. Die berühmte Saure Gurken Zeit im späten Vormittag. Außerdem war Vorsaison. Der Sturm der Touristen auf die Innenstadt hatte noch nicht eingesetzt. Wohl las ich die fettgedruckten Schlagzeilen in der Zeitung, aber, wie immer, hatte ich mit einem Auge den Gastraum im Blick.

    Ich erinnere mich noch genau: Ich blätterte gerade eine Seite um, erfaßte aber den Inhalt nicht, denn mein Blick ging über den Zeitungsrand hinaus, zum Fenster und über die K...straße bis zum Mauersockel der Kirche. Die grau schwarzen Sandsteinquader der Außenmauer, hier und da ein heller Stein eingesetzt. Dies alles sah ich, und sah es auch wieder nicht, denn meine Gedanken umkreisten geschäftliche Probleme, eine Rechnung, die noch offen war und die Kassenabrechnung vom gestrigen Tag, die ein Minus von neununddreißig Mark aufwies. Besonders dieser Umstand beschäftigte mich intensiv, weil ich ihn mir nicht erklären konnte.

    Im ersten Moment sah ich also nichts, doch dann signalisierte es in meinem Hirn. Dort, an der Mauer, gerade gegenüber von meinem Café, steht eine Frau in Schwarz und schaute unverwandt und starr nach einem der Stockwerke über uns. Der Passantenstrom, der in diesem Minuten wieder einsetzte, wälzte sich an ihr vorbei. Sie aber stand und starrte nach oben, unbeweglich, schwarz gekleidet, wie in einer griechischen Tragödie.

    In diesem Augenblick kamen mehrere Gäste aus dem Strom der Passanten in das Café. Gin tonic, Mineralwasser, Cola, Eistee wurden bestellt. Ich hatte zu tun. Auch draußen unter den Markisen hatten sich einige Gäste in den Korbstühlen erschöpft nieder gelassen. Immer mehr drängten heran. Ich hätte zwei Arme und Beine mehr gebraucht, um alle Wünsche rasch zu befriedigen. Unter meiner Kellnerweste wurde mir heiß. Die Frau in Schwarz hatte ich wieder vollkommen vergessen. Bis zum Abend riss dann der Gästestrom nicht ab. Ein erfreulich hoher Umsatz für einen Vorsaison Tag. Spät noch rief ich meinen Partner Karl Gessner an. Heute hat die Kasse geklingelt. Wenn´s nur immer so wär. Dann gingen wir Bestellungen durch, verglichen Preise undsoweiter. Gegen halb zwölf sank ich müde und geschafft ins Bett.

    Der nächste Tag, ein Donnerstag, brachte früh schon Schwüle, Gewitter und Regen.

    Vormittags - wir öffneten um halb zehn Uhr - kaum Gäste. Wieder stand ich am Ausschank, den linken Ellenbogen auf das glänzende Metall der Anrichte gelegt, den Rücken bequem angelehnt, ein Bein lässig um das andere geschlagen, den Bleistift keck hinters rechte Ohr geklemmt und die bekannte Boulevardzeitung aufgeschlagen in den Händen. Wieder schaute ich über den Zeitungsrand. Doch im selben Moment, als ich dies tat, fiel mir die Frau in Schwarz von gestern ein. Ob sie wohl vielleicht auch wieder da stünde? Mein Blick fiel auf die Außenmauer der Kirche. Und richtig. Da stand sie wieder. Sie stand und starrte unbewegt auf eines der Fenster über unserem Café. Heute trug sie ein Kopftuch, ebenfalls in Schwarz, denn der Regen hatte noch nicht wieder aufgehört. Ich schaute nach links auf die Uhr des Rathausturmes. Sie zeigte dreiviertel elf. Die Pendeltür knarrte, zwei Frauen kamen ins Café. Sie setzten sich gleich neben Tür an einen der runden Marmortische und versperrten mir die Sicht. Außerdem beschäftigten sie mich: Sachertorte, Sahne, Kaffee, danach Eisbecher wieder mit Schlagsahne, schließlich zwei Kirch Whisky und dann noch zum Abschluß zwei Schoppen Rotwein, französischen, lieblich, wenn´s geht. Unwillkürlich fiel mir der Udo Jürgens Song ein. Dann klingelte das Telefon. Karl war dran. Er fragte nach irgendeinem Schreiben der Stadtverwaltung. Als ich wieder auf die Uhr schaute war es halb zwölf. Die Frau in Schwarz stand immer noch an der gleichen Stelle. Ich weiß nicht wieso, aber jetzt erfasste mich irgendein unbekanntes Grauen. Das jemand ein Haus anstarrt und dabei vielleicht die Zeit vergisst, soll ja vorkommen, dachte ich. Aber das dieser Jemand-oder in diesem Fall diese jemand-dies über eine dreiviertel Stunde tut, ohne sich von der Stelle zu bewegen, und dies schon mehrere Tage hintereinander (Denn es war ja gut möglich, dass ich diese Frau in den Tagen vorher nur nicht bemerkt hatte. Sie aber immer da war.), das schien mir nicht nur ungewöhnlich, sondern geheimnisvoll. Doch dann verwarf ich diese Gedanken wieder. Schließlich kann es auch etwas ganz Normales sein und ich überspannter Neurotiker sehe Seltsames und Grausiges, wo gar nichts zu entdecken ist. Das kommt davon, wenn man zuviel liest oder die Phantasie mit einem durchgeht. Ich wandte mich ab und meinen Gästen zu, denn inzwischen füllte sich der Gastraum wieder und ich wurde voll in Anspruch genommen.

    Zwei Tage später, am Sonnabend, wir öffneten samstags erst um Zehn, hatte es sich eingeregnet. Es war der siebenundzwanzigste Juni, der Siebenschläfertag. Sieben Wochen Regen, dachte ich, dem alten Aberglauben anhängend. Das kann ja eine Saison werden. Umsatz adé. Im Café keine Menschenseele. Ich musste mich irgendwie beschäftigen. Also räumte ich um, begann die Tische noch mal gründlich zu reinigen, wischte in den Gläserregalen, schaltete die Radiosender durch. Überall die gleiche Dudelei. Schließlich fiel mir ein, dass ich die Grünpflanzen im Fenster etwas auszupfen und beschneiden könnte. Alte verdorrte Blätter entfernen, die Töpfe besser ins Licht drehen, etwas Wasser erneuern. Was man alles so tut, wenn keine Gäste kommen. Zufällig fiel mein Blick auf die Rathausuhr. Es war halb elf. Und gerade als ich diese Uhrzeit registrierte und den vergoldeten großen Zeiger länger als man das sonst tut, anstarrte, blitzte es mir durch´s Hirn. Ob sie wohl auch heute kommt, die geheimnisvolle Frau in Schwarz?

    Das geht mit dem Teufel zu, dachte ich, denn just in diesem Moment stand diese Frau wieder an ihrem Platz. Es regnete stark. Sie hatte einen schwarzen Schirm aufgespannt. Ihre Augen aber starrten unbeweglich zu den oberen Fenstern. Deutlich sah ich die weißen Augäpfel und den halb offenen, verpressten Mund. Wie jemand, der stumm in sich hinein schluchzt.

    Heute, mit dem Abstand von fast zwei Jahren, weiß ich nicht mehr genau, wie diese Frau zu mir ins Café herein gekommen ist. Obwohl ich mich an alles, bis ins Kleinste erinnere, was danach geschah, an jedes ihrer Worte, jede Geste, ihr Gesicht, ihre Kleidung, ihr Haar, ihre Augen. All das kann ich bis heute haarklein rekonstruieren. Aber gerade diese Szene, wie sie in mein Café geriet, ist mir vollkommen entfallen.

    So weiß ich beim besten Willen nicht mehr: Bin ich aus dem Café heraus und über die Straße gelaufen und habe die Frau wegen des starken Regens herein gebeten, oder war sie herüber gekommen und ich hielt nur die Pendeltür auf, um sie herein zu lassen? Irgendwie war ich an diesem Vorgang beteiligt.

    Jedenfalls, sie trat ein, warf einen flüchtigen Prüfblick um sich und setzte sich nahe der Tür an einen Zweiertisch. Vorher hatte ich ihr aus dem vor Nässe glänzenden Mantel geholfen und den tropfenden Schirm weggestellt.

    Ich stand neben ihr, beugte mich herab und gab Hinweise zum Angebot auf der Karte. Einen Obstkuchen vielleicht, oder ein leichtes Dessert, dazu Kaffee und einen Kirch vielleicht, zum Aufwärmen?, sagte ich mit betont sanfter Stimme und ließ einen besorgten Unterton mitklingen.

    Natürlich, man kennt ältere Damen und ihre Wünsche. Man weiß wie man ihnen begegnen muß, was sie bestellen, welche Reihenfolge sie bei den verschiedensten Gerichten und Getränken bevorzugen und kennt ihre Café Haus Vorlieben. Schließlich gehörten sie zu meinen häufigsten Kunden. Soweit war das Routine von mir. Doch ich spürte vom ersten Augenblick an eine merkwürdige Sympathie und Wärme für diese Frau in Schwarz und eine kribblige Neugier, die ich mir bis zum heutigen Tag nicht erklären kann.

    Sie mochte ungefähr sechzig Jahre oder etwas darüber sein. Ihr dunkles Haar, das von breiten silbrigen Streifen durchzogen war, hatte sie im Nacken zu einem Knoten gebunden. Darin steckte ein bräunlich marmorierter Schildpattkamm. Am unteren Haaransatz im Nacken hatten sich ein paar Strähnen gelöst. Sie kringelten sich in zierlichen Löckchen zum Hals hin, auf dem ich im zarten Faltennetz der Haut zwei oder drei dunkle Pigmentflecke bemerkte.

    Ich hatte das Gefühl, dass sie sehr stark erregt war, dies sich aber unter keinen Umständen anmerken lassen wollte. Ihr ganzer Körper, die Haltung des Kopfes, die Arme und Hände, alles schien sie mit Aufbietung ihrer ganzen Willenskraft unter Kontrolle halten zu wollen. Ein unmerkliches, für einen oberflächlichen Betrachter kaum wahrnehmbares Zittern schien sie zu durchrieseln. Selbst ihren Atem ließ sie nur in kleinen, gepressten Stößen, wie von einem Ventil reguliert, aus Nase und dem halb geöffneten Mund.

    Meine Worte hatte sie wohl wahrgenommen, wie man Laute und Stimmen im halb bewussten Zustand eben so hört, aber ich konnte nicht erkennen, dass sie sie auch verstanden hätte.

    Immer noch stand ich deshalb leicht gebeugt neben ihr und unsere Körper waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Da wandte sie mir ihren Kopf mit einem plötzlichen Ruck zu. Ich zuckte zurück und mußte in diesem Moment wahrscheinlich einen ausgesprochen überraschten, um nicht zu sagen blöden, Gesichtsausdruck gezeigt haben, denn ihre eisgrauen Augen weiteten sich erstaunt für eine winzige Sekunde. Dann sagte sie, wie aus tiefen Gedanken auftauchend mit brüchiger und unsicherer Stimme:

    Nein, bringen Sie mir bitte einen Tee und Biskuit. Keinen Alkohol.

    Während sie dies sagte, starrte sie mich wie gebannt an und mir kam es vor als ob sie in meinem Antlitz irgendetwas gefunden hätte, was ihre Erinnerung sehr stark berührte. Ihr Blick hatte sich vom ersten Erstaunen über ein jähes Erkennen in einen maßlosen Schrecken verwandelt. Sie wurde noch bleicher als sie ohnehin schon war, öffnete den Mund und ihr Kopf, ihr Hals und die Hände begannen zu zittern. Doch das Ganze dauerte nur wenige Sekunden, dann gewann sie ihre Beherrschung wieder. Ich zögerte einen Moment und antwortete betont ruhig und vertrauenswürdig mit dunkler, gesenkter Stimme:

    Selbstverständlich, wie Sie wünschen, meine Dame.

    Und ich trat ab.

    Als ich das Gewünschte wenige Minuten später an ihren Tisch brachte, war eine junge Frau im Kelly Family Look mit zwei Kindern, einem Buben von vielleicht fünf Jahren und einem Mädchen im Alter von etwa sieben herein gekommen. Sie hatte sich zwei Tische weiter platziert und mir sofort zugerufen:

    Einen Schoppen Rotwein, blaufränkischen, zwei große Cola und drei Fruchteisbecher!

    Dann holte sie ein zerlesenes Taschenbuch aus ihrem kleinen Stadtrucksack und begann darin zu lesen. Das Mädchen, blondlockig und pausbäckig, hatte sich ebenfalls an den Tisch gesetzt, baumelte mit den Beinen und begann mit einer Barbie Puppe zu spielen. Der Bube inzwischen, wieselte im Café herum und postierte sich vor einem an der hinteren Wand befindlichen Spielautomaten. Dort stand er mit verschränkten Armen, die Beine gespreizt und rief seiner Mutter zu:

    Ich will hier mal spielen, Mama.

    Komm her, Du kriegst gleich eine Cola.

    Will aber jetzt spielen.

    Herkommen sollst Du, Arne.

    Nein, spielen.

    Da ich im selben Moment das von der jungen Frau Bestellte auf ihren Tisch absetzte, stand diese mit einem Ruck auf, lief mit schnellen Schritten zum Spielautomaten und zerrte ihren widerstrebenden Arne an den Tisch zurück.

    Scheißcola, maulte der Kleine, bekam dafür eine Kopfnuß und kletterte auf seinen Stuhl, während seine Schwester schon mit einem Plasteröhrchen, die in einem Becher auf jedem Tisch bereit standen, aus ihrem dunkelsüßen Getränk laut hörbar schlürfte.

    Die Frau in Schwarz, die diese Szene beobachtet hatte, zeigte ein winziges Lächeln, das sich durch kleine Fältchen in ihren Augenwinkeln verriet. Mir schien es, als ob sie sich mit einem fast krankhaften Bemühen gespannter Aufmerksamkeit, gerade auf diesen trotzigen Buben konzentrierte. All seine Bewegungen, seinen Widerspruch gegen die Mutter, jede Einzelheit war für sie offenbar von höchstem Interesse. Mit geweiteten Augen und einem manisch wirkenden, seltsam verzerrten Ausdruck im gelblichen, müden Gesicht. Aber ich bemerkte auch, dass sie ihren Blick ab und zu verstohlen auf mich richtete und mich, wenn sie sich unbeobachtet meinte, mit geradezu fotografischer Akribie musterte. Dabei glaubte ich in ihren Augen, ein eigentümliches Grauen glimmen zu sehen.

    Arne, sitz doch mal gerade. Bekleckere dich nicht, sagte gerade die junge Mutter zu ihrem Buben. Dieser hatte mit der Kindern eignen Gabe, besonders herum zu kaspern und sich albern und auffällig zu benehmen, wenn sie Aufmerksamkeit verspüren, sehr wohl das Interesse der schwarzen Frau mitbekommen. Jetzt rutschte er erst recht auf dem Stuhl hin und her, sog mit gurgelndem Geräusch die braune Brühe in sich hinein, machte dabei ein Faxengesicht, schielte. Schließlich stampfte er seine Schwester unterm Tisch mit seiner hellbraunen Sandale, dass diese aufschrie und sich bei ihrer Mutter beklagte.

    Arne, wenn Du jetzt nicht gleich ruhig sitzt, gehen wir und Du bekommst kein Eis, war die pädagogische Antwort.

    Wenn ich doch aber an dem Automat spielen will.

    Das geht doch nicht. Du bist zu klein, kommst gar nicht an die Hebel und Knöpfe.

    Bin ich nicht.

    Bist Du doch, echote die Schwester. Bums, wurde sie wieder gestoßen.

    Aua, Mutti, der Arne.

    Diese kleinen Familienturbulenzen gingen noch eine Weile, dann brachte ich das Eis und es wurde friedlicher. Schließlich bezahlte die Junge Frau und alle drei gingen nach draußen.

    Noch einen Tee, die Dame?, fragte ich höflich, aber doch mit meinem freundlichsten Lächeln, obwohl ich wusste, dass sie nichts mehr nehmen würde.

    Die eisgrauen Augen fixierten mich in einer Weise, dass ich mich unsicher und wie irritiert fühlte:

    Haben Sie auch Kinder, einen Jungen, vielleicht, Herr

    Ober?

    Ich hob die Achseln, schüttelte den Kopf, verneinte.

    Kinder sind das, was unserem Leben erst Sinn gibt, nicht wahr? Das einzig Wichtige. Oder? Sagen Sie, fügte sie nach einem tiefen Atemzug, die Worte ungewöhnlich dehnend hinzu: wie ist Ihr Name, Herr Ober? Verzeihen Sie, aber ich glaube, Sie...,

    Hier brach Sie plötzlich ab.

    Sie hatte dies alles mit einem so unendlich traurigen in sich gewandten Blick und ihrer brüchigen, kratzigen Stimme gesagt. Und nach einer mir endlos scheinenden Pause, die ich benutzte, um meine Fassung nicht zu verlieren und ein wenigstens einigermaßen verständiges Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern, kam von ihr in entschlossenem Ton: Was bin ich Ihnen schuldig?

    Sieben fünfundsechzig. Und, ich heiße Fabio D. ich bin der Teilhaber in diesem Café und wie Sie sehen zugleich Kellner, Büffetier, Empfangschef, einfach Mädchen für alles. Mit diesen scherzenden Worten versuchte ich, wieder ganz Caféhaus Routinier, die etwas verkrampfte und peinliche Situation zu entspannen.

    Die Dame lächelte müde. Ich half ihr in den Mantel, reichte ihr den Schirm mit einer leichten Verbeugung. Ein letzter prüfender Blick aus ihren eisgrauen Augen traf mich, dann knarrte die Pendeltür. Hinaus war sie. Einen Augenblick noch blieb ich unentschlossen stehen, grübelte.

    Diese Sätze über Kinder und die Frage nach meinem Namen waren das Einzige, was ich an diesem Tag über sie erfahren hatte.

    Nun sitze ich zu Hause, an meinem alten PC und versuche, aufzuschreiben, was mich damals bewegte, was ich dachte, was ich empfand, nach diesem ersten Kontakt mit der Frau in Schwarz, mit der Passantin von der K...kirche.

    Der Cursor blinkt und es vergeht viel Zeit bis ich die richtigen Worte, Sätze finde, die das wiedergeben, was ich wirklich ausdrücken will. Alles verwischt sich, Vergangenes, Heutiges. Es ist schwer, sich zu konzentrieren.

    Ich lege eine CD in den Player, Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 1, lehne mich zurück, schließe die Augen, Bilder tauchen auf, verschwinden wieder, aber sie kommen zurück. Ich sehe Vater und Mutter, besonders die Mutter. Jetzt: Nur noch die Mutter. Eine energische Frau mit eisgrauen Augen, dem markanten Gesicht und der langen, gebogenen Nase. Eisgraue Augen! War es das, was mich so unsicher machte?

    Bilder malen, in alle Hefte, aber der Aufsatz, den ihr morgen abgeben müsst, den hast Du vergessen. Du Träumer, nichts wird aus Dir werden, rein gar nichts. Weiß Du denn nicht, was wichtig ist, im Leben. Das Wichtigste? Tränen, Geheul, weitere Schimpfworte, eine Waschschüssel mit kaltem Wasser. Ich bin bis aufs Hemd durchnäßt. Ihr Jähzorn, bis ins hohe Alter, ein schlimmer Fluch.

    Was ist das Wichtigste im Leben? Wie ist Ihr Name,

    Herr Ober?

    Ich stehe auf, presse die Stirn an die kalte Fensterscheibe und schaue in das Dunkel da draußen. Gelbe, rötliche, blaue Vierecke, größere, kleinere leuchten durch die Nacht. Überall dahinter sind Menschen und gehen ihren abendlichen Verrichtungen nach. In ihren Menschenwaben, Termitenbauten aus Stein, Glas und Beton. Was für Gedanken, schwirrenden, winzigen Insekten gleich, mögen in diesem Augenblick in den Menschenköpfen geboren, wieder vergessen, gespeichert und wieder gelöscht werden? Was für Glück, was für Unglück wird aus ihnen hervor gehen?

    Ein blinkender leuchtender Punkt schwebt am nächtlichen Himmel von Nord nach Süd. Irgendein Flugzeug. Wo mag es ankommen? Wird es erwartet? Freut man sich dort auf die Menschen, die es durch die Lüfte trägt? Wer sitzt da oben, im Bauch aus Aluminium und Stahl?

    Eisgraue Augen, dunkles, grau gesträhntes, hinten geknotetes Haar. Sich kringelnde silberne Löckchen im Nacken. Eine Stimme brüchig und rau. Ohne einen erkennbaren Dialekt. Sechzig Jahre oder mehr. Wer ist diese Frau in Schwarz? Kinder sind das wichtigste, sind der eigentliche Sinn unseres Lebens? Eine trauernde Großmutter, die ihren Enkel, einen Buben von fünf Jahren, plötzlich verloren hat? Oder eine zu Tode betrübte Mutter, die hinauf schaut zu den Fenstern des Hauses, gerade über dem Café. Ich durchwühle mein Gedächtnis nach Einzelheiten, nach kleinen Bruchstücken, die mir womöglich entgangen sein könnten, die mir Rat geben, wer ist, was ist mit dieser Frau. Wieso hat sie mich so angestarrt? Durchbohrt mit einem Blick als ob sie in mir jemanden erkannt zu haben glaubt? Mein Name?

    Wieder habe ich mit dem Schreiben aufgehört.

    Die Uhr zeigt viertel nach Elf.

    Ich gehe zu meinem Fischglas. Die vielen bunten Fischlein paddeln scheinbar planlos und ohne Sorgen darin herum. Manche jagen sich. Dann lassen sie wieder davon ab und schießen in eine andere Richtung weiter. Mein großer Gelber, ein prächtiger Malawi Barsch, steht ruhig in der Mitte des Beckens. Seine Kiemendeckel klappen gleichmäßig langsam auf und zu. Mit den Brustflossen rudert er, um seinen Standplatz zu halten. Manchmal rede ich mit ihm. Ob er das wahrnimmt? Natürlich erkenne ich keine Reaktion. Ab und zu bewegt er die schwarzen Fischaugen unabhängig voneinander nach oben und hinten. Alles geschieht ruhig und ohne Hast, ohne Aufregung und Hektik, die uns Menschen so zu schaffen macht. Was meinst Du, sage ich zu ihm, was hat es mit dieser Frau auf sich? Soll ich mich darüber aufregen, versuchen dahinter zu kommen und dabei selbst keine Ruhe finden? Der große gelbe Barsch, klappt sein Maul auf, als ob er gähne und gleitet dann ganz sacht und elegant in seine steinerne Wohnhöhle.

    Ich will sie fragen. Ich muß es wissen. Mich plagt nicht nur Neugier, sondern auch eine unbestimmte Vorahnung von etwas, das für mich ganz wichtig und bedeutend zu sein scheint. Vielleicht sehe ich sie ja auch nicht wieder? Vielleicht war es nur eine Touristin? Nein, unmöglich.

    Ich lege mich schlafen. Doch, ich wache in dieser Nacht drei vier Mal auf, grübele über gerade Geträumtes. Traum und Wirklichkeit vermischen sich. Mir ist als ob ich schliefe, doch dann glaube ich mich wach. Die Augen weit offen, blicken ins Dunkel des Zimmers.

    2

    Habe die letzten Eintragungen korrigiert und ergänzt.

    Vier Tage hatte ich nichts mehr geschrieben.

    Vorgestern bekam ich plötzlich einen Aushilfsshop im Hotel Maritim über einen alten Bekannten angeboten. Zwei Schichten in sechsunddreißig Stunden. Bin jetzt noch ziemlich müde und abgearbeitet. Fast ein Jahr geht das nun schon so: Mal einen Hilfsshop, dann ein paar Wochen zur Probe, am Ende wieder nichts.

    Aber irgendwie muß ich doch leben, essen, mich kleiden, die Miete zahlen. Die kleine Unterstützung vom Staat reicht hinten und vorn nicht.

    Heute war der Karl bei mir. Hat wieder tolle Ideen, der Junge. Erlebnisgastronomie, irgendwo auf dem Lande. Trotzdem wirkte er schlaff, Tränensäcke, gelbliche welke Haut. Die Haare noch mehr gelichtet und grauer. Ich werd´s mir überlegen, hab ich gesagt. Doch ich wusste sofort. Das wird nichts. Und ich fühle mich auch nicht frei für so was. Erst muß ich meine Geschichte zu Ende bringen, muß mir von der Seele schreiben, was ich wie eine Zentnerlast mit mir herumtrage. Zu nichts anderem habe ich Lust als zu dieser nervenaufreibenden, und vielleicht nutzlosen Schreiberei. Ich kann nicht anders, so lange ich bedrängt werde wie noch nie in meinem Leben.

    Aber stimmt denn das, denkt ein anderes ich in mir.

    Oder ist es nicht vielmehr die Furcht vor neuen Niederlagen, Anstrengungen und Plagen? Mach ich mir nur etwas vor? Rede ich mir das nur ein, nur um nicht das tun zu müssen, worauf es ankommt? Denn ich bin jetzt seit unserem vorzeitigen Aus schon fast zwei Jahre ohne feste Aufgabe, richtigen Job.

    Mir fällt ein wie antriebslos und träge ich während der Studienzeit und auch in den ersten Wochen der Wende war.

    Stundenlang kann ich meinen Fischen im Aquarium zuschauen, mich freuen an ihrer Wendigkeit und ihrer Gleichgültigkeit allen Aufregungen gegenüber. Oft habe ich in warmen Sommertagen an der Elbe gelegen und minutenlang einen Käfer bestaunt, der sich mühte, einen Grashalm hinauf zu klettern, oder auf dem Rücken liegend, die Veränderungen und phantastischen Wandlungen der Wolken betrachtet. Manchmal habe ich dann auch die Lider halb geschlossen und das Sonnenlicht durch die Tränenflüssigkeit der Augen wie einen Regenbogen schillern lassen.

    Was wird nur aus Dir Du Träumer. Diese Frage habe ich in meiner Jugend allzu oft gehört.

    Eine Woche war vergangen, seit jenem Sonnabend. Ich hatte keine Ruhe gefunden, mich zergrübelt, nachgedacht und war zu keinem vernünftigen Schluß gekommen. Wer ist diese Frau in Schwarz, was wollte sie, warum, ja warum hatte sie mich nach meinem Namen gefragt?

    Wieder samstags Vormittag, wieder wenig oder über Viertelstunden keine Gäste.

    Dabei hatte ich an diesem Tag eine Aushilfe. Eine Pauschalkraft, Studentin, viertes Semester, Psychologie. Ganz nettes Mädchen. Flink, freundlich, aber eben ohne das Feeling, was man als Bedienung in so einem Laden wie dem unseren braucht. Na, vielleicht bekommt sie´s noch mit. Karl hatte sie ausgegraben. Er meinte: Letztes Wochenende vor dem Ferienstart. Da geht die Saison los. Da wirst´e jemanden brauchen.

    Das Wetter zeigte sich freundlich. Die süße, laue Luft des Spätfrühlingstages war selbst hier mitten in der Stadt zu spüren, zu riechen. Ich hatte die Pendeltür geöffnet, ihre Flügel festgehakt. Der Frühling strömte mit seiner ganzen Macht herein. Von fern tirillierte durch den beginnenden Großstadtlärm eine Amsel, die sich einen Platz hoch oben auf den Zinnen der Kirche gesucht hatte. Man fühlte sich von einer Freundlichkeit und einer unbestimmten Sehnsucht erfüllt. Am liebsten hätte ich das Café zugesperrt und wäre hinaus vor die Stadt ins üppig sprießende Grün und den betörenden Duft blühender Apfelhaine gefahren. Meine Seele durchwanderte die saftigen Elbwiesen, freute sich am zarten Grün der sanften, baumbewachsenen Hänge. Hoch oben die erste Lerche. Auf dem Flusses ein weißer Ausflugsdampfer. Fröhliche Stimmen, Lachen weht herüber.

    Da plötzlich war sie wieder, die schwarze Fee. An ihrem alten Stammplatz, mit dem Rücken zur Außenmauer der Kirche, den traurigen Blick nach oben zu den Fenstern über dem Café gerichtet, stand sie, die unbekannte Frau in Schwarz.

    Ein Schauer durchlief mich. Doch wie von einer magischen Kraft getrieben, stürzte ich auf die Straße, blieb vor ihr ein wenig außer Atem stehen und rief:

    Wenn Sie Lust haben, darf ich Sie zu einer Tasse Tee und einem Likör einladen?

    Für eine Sekunde erschrak sie, dann trat wieder der musternde, vergleichende Blick in ihre Augen. Doch sie nickte eine Spur verlegen und antwortete:

    Ja, vielen Dank. Ich komme.

    Wir gingen über die Straße und es kam mir vor als ginge ich mit einer alten Bekannten. Wie von einer Welle warmer Vertrautheit eingehüllt, fühlte ich diese alte Frau neben mir.

    Sie setzte sich an den bekannten Tisch gleich neben der Tür und wartete, dass ich mit dem Angekündigten käme. Heute trug sie ein schwarzes Kostüm älteren Zuschnitts, was ihr jedoch vorteilhaft stand und die volle frauliche Figur angenehm zur Geltung brachte. Eine weiße Rüschenbluse, geschmückt mit einer fast modernen Brosche gab ihr ein elegantes Aussehen, das von einer zierlichen schwarzen Kappe, die sie mit mehreren Nadeln im Haar befestigt hatte, ergänzt und noch hervor gehoben wurde.

    Als ich an ihren Tisch trat, hatte ich sofort den Eindruck, dass sie heute gelöster, befreiter und nicht mehr so abgesperrt wirkte wie vor einer Woche. Ihre Züge waren weicher, die Haut weniger blaß. Die eisgrauen Augen nicht so starr und stählern. Ich wagte einen Vorstoß, während ich den Tee eingoss:

    Der Frühling ist selbst hier in der Stadt nicht zu unterdrücken. Man kann machen, was man will, aber es gelingt einem einfach nicht, bei so einem Wetter schlechte Laune zu kriegen. Sie gefallen mir heute viel besser als noch vor einer Woche, wenn es erlaubt ist, das zu sagen, meine Dame.

    Sie schaute etwas verwundert zu mir auf, runzelte für einen Augenblick die Stirn.

    Ich begann mich schon über mich zu ärgern; so ein geschraubter Quatsch!, und glaubte, sie könnte meinen, ich mache mich über sie lustig, da antwortete sie:

    Sie haben recht. Daran könnte es liegen, doch ich glaube nicht.

    Sie rührte mit dem Löffel im Tee, ihre hellen Augen suchten die meinen und unvermittelt sagte sie:

    Ich glaube, ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig. Haben Sie einen Moment Zeit? Könnten Sie sich zu mir setzen?

    Wieder stand ich, wie am letzten Samstag ein wenig verdattert und hilflos da. Und ohne zunächst weiter nachzudenken, rief ich, mechanisch fast, die Aushilfe: Yvonne, übernimm mal den Laden für eine Weile. Ich bin nur im Notfall da, wenn´s zu voll wird. Aber das glaube ich für die nächste Stunde nicht. Ich muß hier mal mit dieser Dame etwas... Den Rest murmelte ich unverständlich in mich hinein, zeigte aber dem Mädchen mit dem Daumen, dass ich jetzt dort bei der Dame in Schwarz zu finden sei. (Ich weiß, das mit dem Daumen, war eine Unhöflichkeit, aber auch ich bin eben nicht immer perfekt.) Dann rief ich noch: Bring mir bitte einen Kaffee!

    Ich wartete stehend bis der Kaffee kam, setzte mich der Frau gegenüber und blickte sie erwartungsvoll an. Im Geist rekapitulierte ich ähnliche Situationen in meinem Leben. Wie verhält man sich jetzt? Muß ich betont natürlich, oder mehr herablassend wirken. Wie halte ich die Hände, den Kopf, wie setze ich mich? Wo blieb die Routine, auf die ich mir immer so viel einbildete. Ich fand keine vergleichbare Situation und wusste selbstverständlich nicht mit meinen Händen wohin. Mal drehte ich sie ineinander, mal fasste ich die Kaffeetasse an, dann strich ich über die Tischplatte. Schließlich fiel mit irgendetwas von Körpersprache ein. Ich hatte da vor kurzem etwas gelesen.

    Ich lehnte mich also langsam zurück, nicht zu sehr, damit ich nicht überheblich wirkte, legte die linke Hand an den Henkel der Tasse, die rechte steckte ich in die Hosentasche, wo ich sofort nach dem Taschentuch griff, denn ich spürte, dass die Handfläche naß wurden. So mit mir beschäftigt, übersah ich, dass die Frau sehr wohl meine Unsicherheit bemerkt hatte und wartete bis ich so weit war, dass sie mich ansprechen konnte. Als ich nun aufblickte, fühlte ich mich ertappt, errötete und ein kalter Schauer Peinlichkeit fuhr mir den Rücken hinab.

    Die Frau lächelte mich an wie einen Sohn, der sich zum ersten Mal den Schlips gebunden hat. Dann sagte sie, und ihre Stimme klang nicht mehr so brüchig und gepresst wie das letzte Mal:

    Wissen Sie, ich bin eine alte Frau, und als ich abwehrend die Hände hob (hätte ich auch das nur unterlassen, denn ich fühlte, dass sie mich wie eine Mutter vollkommen durchschaute), schüttelte sie den Kopf: Doch, doch ich werde in diesem Herbst vierundsechzig. Wieder wollte ich eine höfliche Floskel, wie das sieht man Ihnen ja gar nicht an oder ich hätte sie höchstens auf...geschätzt, einflechten, doch ich beherrschte mich im letzten Moment, biß mir auf die Lippen und schwieg unter einem leichten, mir angebracht scheinenden, Kopfnicken.

    Da ist man nicht mehr so eitel, setzte sie fort und als ob sie erriete, was ich hatte sagen wollen; da ist man nicht mehr so sehr auf Komplimente aus, auch, wenn sie einem immer noch gut tun.

    Wieder schwieg ich, diesmal mit einem zustimmenden Augenzwinkern.

    Ich muß am vergangenen Samstag einen ziemlich verheerenden Eindruck auf Sie gemacht haben. Aber ich will es Ihnen erklären, obwohl mich nichts auf der Welt dazu zwingen könnte. Dennoch will ich es tun. Und zwar zunächst aus diesem Grund...

    Und sie langte sich ihre Handtasche auf die Knie, knipste sie auf, holte eine zierliche Brieftasche daraus hervor, ergriff ein kleines Bild von der Größe einer halben Postkarte und schob es mir über den Tisch.

    Deswegen!, sagte sie mit Entschlossenheit.

    Ich nahm die Fotografie und erschrak. Ich musste förmlich zusammengezuckt sein, so dass mein Gegenüber triumphierend ausrief: Sehen Sie! Erstaunlich, nicht wahr?

    Auf dem Bild lächelte mir ein Mann entgegen. Doch dieser Mann war ich. Etwa um die Mitte Dreißig, dunkles gewelltes Haar, das an den Schläfen schon die berühmten ausgefallenen Ecken zeigte. Dieselben starken geschwungenen Augenbrauen, der gleiche sinnliche Mund, die stark gewölbten Nasenflügel. Selbst die Augen, die gleiche Farbe, der gleiche blitzende Glanz darin. Auch die kleine Narbe an der linken Stirn fehlte nicht, nur war sie etwas länger und deutlicher als bei mir. Nur das Kinn hatte nicht diese Eckigkeit und Entschlossenheit, die ein Zeichen meiner Sturheit, aber auch ein Erbmerkmal meines Großvaters ist. Es war bei diesem Mann weicher, fraulicher fast.

    Aber er lächelte wie ich, verzog den Mund wie ich es von meinen Passbildern her kenne.

    Ich gab der Frau das Bild zurück, rückte ihr auf meinem Stuhl entgegen, vergaß Körpersprache und Verstellung und konnte nur noch ausrufen:

    Phaah, das gibt´s doch gar nicht!

    Ich habe es bis vor einer Woche auch nicht geglaubt. Nur deshalb, bin ich heute wieder gekommen. Ich wollte Sie noch mal sehen und kennenlernen, einen Mann, der meinem Sohn zum Verwechseln ähnlich sieht. Denn dieser da ist mein Sohn, und sie zeigte mit einem Finger auf die Fotografie. ...war mein Sohn, verbesserte sie nach einer kleinen Pause, in der sich ihr Gesicht wieder verdüstert hatte und die graue Blässe der vergangenen Woche zeigte.

    Habe ich es mir doch gedacht, überlegte ich, nicht ohne einen Anflug von Altklugheit, und war erneut versucht eine Floskel wie Oh, das tut mir aber leid. Mein herzlichstes Beileid! los zu werden.

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