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Circes Tod
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eBook255 Seiten3 Stunden

Circes Tod

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Über dieses E-Book

Im Alter von 94 Jahren war die Frau, die mein Leben am meisten beeinträchtigt, die dem Paradies meiner Kindheit und der heilen Welt meines Zuhauses ein jähes Ende bereitet hatte, unvermittelt gestorben. Was ich mir in jungen Jahren so sehr gewünscht hatte, war eingetreten. Ihr Tod brachte zwar einiges durcheinander, veränderte jedoch entgegen all meinen Hoffnungen nicht viel. Ich flog öfters nach Madrid um ihre Wohnung aufzulösen, um mich endgültig von meiner Vergangenheit zu verabschieden. Es war unwiderruflich Herbst geworden; für Madrid und auch für mein Leben.

Wie in einem Kaleidoskop reihten sich Erinnerungen aneinander, vergessene Episoden meiner Kindheit, Geschichten, die mir meine Großeltern ein halbes Jahrhundert zuvor erzählt hatten, verblasste Bilder eines Spaniens aus den 60er und 70er Jahren, in denen die Gewalt des spanischen, gehobenen Mittelstandes alles bestimmte, Embleme meiner geliebten und gefürchteten Geburtsstadt Madrid und all seiner Pracht, Reminiszenzen aus meiner Pubertät, Ereignisse, die meinen Lebensweg mitbestimmt hatten, Versprechen, die ich mir vor Jahrzehnten gegeben hatte, und deren Gültigkeit abgelaufen war.

In der herbstlichen Einsamkeit meines Familienhauses hatte ich sechs Wochen Zeit, mich mit all dem Gewesenen von Angesicht zu Angesicht auseinander zu setzen, mich von vielem zu lösen und eine definitive Entscheidung zu treffen: Madrid und die Vergangenheit endlich hinter mir zu lassen und mich ganz meinem gegenwärtigen Leben zu widmen.

In bunten Skizzen, Tagebucheintragungen und Erzählungen aus meiner Kindheit und Jugend, augenzwinkernden Visionen, anhand von beherzten Gesprächen mit Lama Rinzin und Beschreibungen meines spanischen Geburtshauses und meines geliebten Madrids, erzähle ich in Romanform von dieser intensiven Zeit - während der die Symmetrie der Vergänglichkeit alles umspannte - und erläutere die Erkenntnisse, mit denen ich trotz aller Enttäuschungen und schmerzhaften Prozesse beschenkt wurde.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum21. Sept. 2016
ISBN9783734540745
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    Buchvorschau

    Circes Tod - Cristina Schaaf

    30. Oktober 2015

    Der Auktionsraum wird von Tag zu Tag voller. Von der Eingangstür, die nach fünf Stufen bis zum Souterrain und bis zu Nurias Tisch führt, ist nur noch ein schmaler Weg frei. Ich muss aufpassen, dass ich an nichts anstoße. Links und rechts stehen lauter Kostbarkeiten: alte Vasen, gediegene Stühle im Biedermeierstil, kleine Likörgläschen in dunkelgrüner und karamellbrauner Farbe, prächtig glänzende, silberne Suppenterrinen, alles kreuz und quer auf dunklen Kommoden drapiert, zwischen Ölgemälden, die romantische Landschaften darstellen oder etwas zerknirscht schauende, ältere Menschen wie eine schwarz gekleidete, verschleierte Frau oder ein Pfeife rauchender Holländer.

    Nuria grüßt mich schon von Weitem, sobald sie mich durch die Tür kommen sieht. „Guten Morgen! Bist du wieder da? Wie jeden Morgen! Du kannst es wohl nicht lassen!"

    Ich möchte endlich meinen Lieferschein abholen.

    Nuria hat einen kleinen Schreibtisch in die Ecke gestellt – den meisten Platz räumt sie den Schätzen ein, die sie bei den vielen Besuchen in alten, herrschaftlichen Madrider Wohnungen ausgesucht hat, um sie hier zu versteigern. Hinter ihr hängen nun einige Gemälde aus meinen zwei Wohnungen, Gemälde, die mich während meiner gesamten Kindheit und Jugend begleitet haben. Wie anders sie doch in dieser Umgebung aussehen! In zwei Wochen findet die Auktion statt.

    „Die bunten, kleinen Likörgläschen habe ich bereits auf der Liste. Dafür kannst du allerdings nur 40 Euro erwarten." Nuria ist knallhart in der Preisgestaltung. Was sie aber aussucht, das schätzt sie sehr. Jedes Teil holt sie bedächtig in die Hand, betrachtet es aufmerksam, dreht es, hebt es, schaut auf dessen Basis und dahinter, überlegt. So hat sie in meinen beiden Wohnungen über drei Stunden verbracht, bis sie sich für 20 Teile entschieden hat.

    Während sie nun mit leicht in Falten gelegter Stirn alles in den Computer eingibt, sehe ich mich in einem mit schweren, silbernen, verschnörkelten Rahmen versehenen Spiegel. Über mir glitzern Kristall-Lüster. „Ich bin wirklich alt geworden", schießt mir durch den Kopf. Ich passe gut in den Raum. Nuria ist recht jung; ich schätze, sie ist etwas über dreißig. Sie liebt Altertümer, das habe ich sofort bemerkt. Ich schaue ihr über die Schulter.

    „Und was ist mit der Bronzefigur von Bonheur?", fragt sie, und sie scheint etwas enttäuscht zu sein.

    Die Bronzefigur kommt nach Berlin, dort hat sich ein Interessent gefunden. Aus ihrem CD-Player ertönt leise Musik, Satís Klavieretüden. Draußen wirft die Sonne des Herbstes ein wunderschönes, kaleidoskopartiges Spiegelbild gelb-rot-braun gefärbter Bäume auf das Schaufenster. Ich sehe mich im Spiegel und denke, dass es nun wirklich Herbst geworden ist, unwiderruflich.

    Rosales

    Wenn man aus dem Portal heraustritt – im Sommer tanzen gegen die etwas matte Glasscheibe der Eingangstür ovale, goldfarbene Lichtflecken, und im Winter hat man das Gefühl, dass das graue Licht auf den dunkelroten Marmorplatten der Portalwand silberne Schlieren zieht –, gehe ich am liebsten rechter Hand die paar Schritte hinunter bis zum Paseo de Rosales, die große Allee, die an dem Parque del Oeste angrenzt. Meistens, sommers wie auch winters, weht einem direkt die frische Sierra-Luft ins Gesicht.

    Die Straße öffnet den Blick auf zwei breite Bürgersteige und eine gerade, sehr geräumige, baumbepflanzte Allee. Ich habe immer den Eindruck, als hätte man Glitzersteinchen in die großen, weißen Steinplatten mit eingearbeitet, so edel mutet mir die Straße in den letzten Jahren an.

    Damals, 1959, als ich an der Hand des Yayos in Rosales spazieren gehen durfte, war es lange nicht so. In der Erinnerung ist der Paseo de Rosales eher grau in grau. Es wehte eine fahlgraue Luft durch Francos Madrid. Die Bilder, die ich im Kopf habe, sind schwarz-weiß wie die Fotografien von damals, die es inzwischen, nach Circes Vernichtungswut, nicht mehr gibt. Es war eine Zeit, in der nichts geschah. Alles lief in gewohnter Routine. Ich werde etwas schläfrig, wenn ich an diese Zeit denke, alles war vorhersehbar und vertraut. Es war friedlich, aber fade. Man glaubte gerne an Feen-Märchen und war besonders begeistert von der Hochzeit von Grace Kelly und Prinz Rainier.

    Viele hatten geglaubt, Francos Macht würde nur eine vorübergehende Lösung sein, um den Frieden wieder zu etablieren. Aber es änderte sich nichts. Und Franco blieb – bis zum bitteren Ende.

    Wo sich heute der Kinderspielplatz mit Rutschbahn und Schaukeln für die Kinder des Viertels befindet, stand damals ein kleines, buntes Karussell. Ich kann mich eher über die Fotos aus jener Zeit daran erinnern, als dass ich im Geiste wirklich noch Bilder abrufbereit hätte. Ich laufe an Yayos Hand und meine Großmutter, die Yaya, schiebt einen großen Kinderwagen mit ausladenden Rädern und grauem Bezug. Darin liegt meine kleine Schwester Paloma. Es ist Sonntag, und wir gehen nach dem Besuch der Heiligen Messe zum Karussell. Die Eltern und Großeltern, samt meiner kleinen Schwester im Kinderwagen, stehen davor, lächeln glücklich, und ich drehe mich und drehe mich, und jedes Mal, wenn ich sie nach der Kurve erblicke, rufe ich mit lautem, hellem Stimmchen: „Pa-pá! Pa-pá!" Und mein Vater winkt mir zu und ist der stolzeste Mann am Platz.

    Die Allee ist mit einigen sogenannten quioscos bestückt. Das sind quaderförmige Baracken. Sie sehen aus wie kleine Häuschen, umgeben von Tischen, versehen mit schweren, weißgrauen Marmorplatten und Stühlen aus dunkelgrünem, verziertem Eisen. Bevor wir an dem damaligen Sonntag nach Hause gingen, saßen wir alle fünf an einem dieser Kioske und tranken einen Aperitif: die Großen einen Vermouth und ich ein Glas selbst gemachte Zitronenlimonade. Damals gab es weder Coca Cola noch Fanta.

    Einige dieser quioscos haben überlebt, nur haben sie inzwischen leichte Designer-Stühle aus schwarzem Aluminium, etwas asiatisch angehaucht, große, viereckige, weiße Sonnenschirme, und neben dem Kiosk wurden Toilettenhäuschen gebaut, ein Luxus, an den damals kein Mensch gedacht hätte.

    Auf dem linken Bürgersteig sind in den letzten Jahren einige vornehme Restaurants entstanden mit so wohlklingenden, englischen Namen wie „Charing Cross oder „Seven and Six.

    Der Paseo de Rosales war damals schon sehr beliebt, aber keine Luxus-Meile wie heute. Vor den sechs- bis siebenstöckigen Wohngebäuden stehen jetzt manchmal feine Limousinen. Ein Chauffeur lehnt sich an den blitzblanken BMW und wartet auf die Herrschaften, die irgendwann aus den verschlossenen Portalen herausschleichen, kleine Pekinesen an der Leine und große Ray Ban Brillen auf der Nase, um in der Sonne lächelnd sich was weiß ich wohin kutschieren zu lassen.

    Wie sehr hat sich doch alles verändert!

    Wenn mich meine deutschen Freunde in Madrid besuchen, staunen sie sehr über diese wunderschöne Allee, bedrängen mich, mein Elternhaus doch nicht zu verkaufen. „Das ist doch viel zu schade! Wer hat schon so ein Haus in einer so aufregenden Stadt und in so einer Lage? Du bist verrückt, wenn du diese Wohnung aufgibst!"

    Der Paseo de Rosales war für mich nie ein Statussymbol. Wir gingen hier am späten Nachmittag oder vor der Abenddämmerung mit der Chacha spazieren – das war unsere Hausangestellte. Später, als wir etwas älter waren, führten wir hier unseren Cocker Spaniel aus.

    Ende der siebziger Jahre wurde die Allee Rosales zu einer der vornehmsten Straßen der Stadt. In dieser bewegten Zeit bekam Madrid auch seinen ägyptischen Tempel, den Debod-Tempel, als Dank dafür, dass sich Spanien an dem Bau des Assuan-Damms beteiligte. Das war schon beinahe am Ende der Diktatur Francos. Die exotische Gartenanlage um den Debod-Tempel war seinerzeit eine Sensation.

    Heutzutage kommen jeden Abend viele junge Madrider hierher spazieren, da der Sonnenuntergang mit der Sierra de Madrid im Hintergrund eine Augenweide ist, besonders um die Weihnachtszeit und am Neujahrstag, wenn der Sonnenhimmel meines Madrids, mein azurfarbener Velázquez-Himmel, im winterlichen Hellblau gekleidet, durchtränkt ist von der Kühle der Berge und der Lichtheit der Hochebene. Immer wenn wir aus Deutschland kamen, um Weihnachten bei den Eltern zu verbringen, gehörte es regelrecht zu den Feierlichkeiten, am Weihnachtsmorgen durch die Rosales-Allee zu spazieren, um am Debod-Tempel die schneebedeckte Sierra zu bestaunen, bevor man wieder ins Haus zurückkehrte um sich dem Weihnachtsschmaus zu widmen.

    Der Debod-Tempel und die schicken Lokale in der Rosales-Allee gehören zu einem Spanien, in dem der Wohlstand und die Freiheit sich langsam aber sicher etablierten. Madrid wurde bunter. Mein Vater, der sein Leben lang ein fleißiger Mensch gewesen war, brachte es zu großem Erfolg. So war es ihm möglich, das Haus in der Altamirano-Straße, das schon meinem Großvater Jaime und seinen Brüdern gehört hatte, auf vier Etagen zu vergrößern. Später kam noch der gesamte hintere Hausblock hinzu. Dort waren alle Abteilungen seiner Firma untergebracht.

    Oliver, Julia und Sohn Isak haben uns hier vorige Woche spontan besucht. Sie gehören zu den vielen Freunden, denen ich meine Heimatstadt zeigen durfte und die dadurch zu großen Liebhabern von Madrid geworden sind. Da sie auch schon im Frühling bei uns waren, sehnten sie sich nach einem Spaziergang durch die Rosales-Allee am Abend, nun im Herbst. Wir kehrten bei „Marius" ein, eines dieser schicken Lokale, die Ende der 70er Jahren entstanden sind, während der sogenannten transición, dem Übergang von der Diktatur in die Demokratie. Alle diese Lokale hatten damals schon einen leicht verruchten Beigeschmack. Was waren das denn überhaupt für Lokale, ohne richtige Esstische? Stattdessen standen niedrige, mit dunkelbraunem Cordstoff gepolsterte, schlichte Sofas an kleinen Couch-Tischen, an denen Gin-Tonic und Erdnüsse serviert wurden. Dekoriert ist das Ganze – und das schon seit über 40 Jahren – im englischen Pub-Stil, holzvertäfelt und mit Jockey-Bildern an den Wänden, links und rechts davon Metalllämpchen, die eine intime Atmosphäre verbreiten. In jener Zeit wollte man sich im Eiltempo den mitteleuropäischen, fortschrittlicheren Sitten und Gebräuchen anpassen. „Bar de copas" nannte man damals diese Etablissements, die es heute noch gibt und in denen sich anscheinend absolut nichts verändert hat.

    Am markantesten ist hier jedoch das Klientel: nach wie vor recht betagte Geschäftsmänner in Anzug und Krawatte, graumeliertes Haar oder Glatze und Brille, manchmal auch etwas salopper in beiger Buntfaltenhose, Lottusse-Schuhen und hellgrünem Lacoste-Polohemd. Sie haben hier nur eines im Sinn: mit Frauen – ein paar Jahre jünger als sie – zu knutschen. Es ist eine Art Zeitreise, auf die ich mich in solchen Lokalen begebe, und ich fühle mich sofort in die siebziger Jahre zurückversetzt.

    Mein Vater und viele andere Menschen seiner Generation schauten 1973 mit Argwohn und gerümpfter Nase auf diese Lokale, in denen nur sogenanntes zahlungskräftiges Klientel anzutreffen war. Sie waren ihm sehr suspekt. „Wie die Moral in letzter Zeit nachlässt!", beklagte er sich. Esther pflichtete ihm bei.

    Bei unserem Besuch mit Oliver und Julia war es faszinierend, genau dasselbe Szenario wie damals vor Augen zu haben. Anscheinend ist diese spanische Rasse und deren Balzverhalten nicht ausgestorben: Ältere, gestandene, gut situierte Männer treffen hier ihre Geliebten, um sich bei einem Gin Tonic oder einem Whisky der Knutscherei zu widmen. Stilecht. Im Ausland nennt man sie „Machos". Hauptmerkmal ist, und das ist längst bekannt, dass sie nicht treu sind.

    Als ich erfahren habe, dass angeblich jeder spanische Mann eine Nebenfrau hat, war ich teils getröstet, teils schockiert. Getröstet, als sich herausstellte, dass nicht nur mein Papa, den ich über alles geliebt hatte und den ich für über alles erhaben hielt, ein notorischer Fremdgänger war; schockiert, weil diese original spanischmännlichen Machenschaften von sämtlichen spanischen Ehefrauen anscheinend mit resignierter Gelassenheit ertragen wurden – zumindest in der damaligen Zeit. Es ist eine versteckte Geilheit, die man dort spürt, eine heimliche Geilheit, die noch aus der Zeit der sehr katholisch gefärbten Diktatur zu stammen scheint, übrig geblieben wie eine unbewusste Zwangshandlung.

    Als Oliver in der Herrentoilette gerade dabei war, sich die Hände zu waschen, erschien einer dieser kuriosen, grauhaarigen Männer in aller Eile, beugte sich über das Waschbecken, zog das Gebiss aus dem Mund und begann es mit großer Hingabe unter dem fließenden Wasserhahn auszuwaschen. Dabei achtete er peinlichst genau darauf, dass das Wasser weder seine Jacke noch die Krawatte benetzte, die er vorsichtshalber über die Schulter legte. Die Wangen waren ihm eingefallen und er schien es eilig zu haben, wieder an den Tisch zu seiner Liebsten zu kommen, um weiterzuknutschen.

    Oliver bestätigte mir leicht betreten, dass ihn diese Szene sehr befremdet hätte und dass diese Stadt zweifellos surrealistisch gefärbt sei.

    Daraufhin meinte Sohn Isak mit seinen elf Jahren: „Das andere Leben beginnt, wenn du in Madrid bist. Er ist ein schlaues Kerlchen und genießt Spanien in vollen Zügen. Als wir uns verabschiedeten meinte er dann noch abschließend: „Paris ist die Liebe, aber Madrid ist das Erleben.

    Día del Carmen – 16. Juli 2015

    In zahlreichen Ortschaften entlang der spanischen Mittelmeerküste wird die Heilige María del Carmen, die Jungfrau des Berges Karmel, verehrt. Die Fischer feiern dort am 16. Juli ein Fest zu Ehren ihrer geliebten Schutzpatronin. Mit ihrem Bild fahren sie in bunten Booten aufs Meer hinaus, damit das Wasser gesegnet werde und sie die Fischerfamilien schütze, vor allem Bösen, vor allen Unbilden. Es heißt auch, dass die Heilige María del Carmen jede Seele aus dem Fegefeuer befreit.

    „Lama wartet bereits auf dich", sagt Steffi lächelnd und zieht den Vorhang beiseite.

    Es ist uns zur lieben Gewohnheit geworden, unseren Meister „Lama" zu nennen, als sei es sein Vorname und nicht sein Titel.

    Er sitzt im Lotussitz auf seinem Bett, das mit einer dicken, dunkelroten Tagesdecke bezogen ist. Die Läden sind etwas geschlossen, sodass das Zimmer im Halbdunkeln liegt. Sein gelbes Hemd lässt seinen dunklen Teint samtgleich leuchten. Er strahlt mich an und sogleich fühle ich mich heimisch.

    Ich habe kaum etwas essen können, weil mich während des Mittagessens immer wieder ungewollte Tränen überraschten und mir die Kehle zuschnürten.

    „Hallo, Cristina", sagt er freundlich und zeigt auf ein rundes, dunkelrotes Kissen vor seinem Bett.

    Ich lasse mich vor ihm nieder und er beugt sich etwas zu mir. Ich schaue in sein offenes Gesicht.

    „Today is a very important day in my life", schieße ich direkt los.

    Und er lacht unvermittelt, herzlich.

    „Today my biggest enemy died", erläutere ich ihm in meinem ungeschickten Englisch.

    Und wieder lacht er und wiederholt diesen Satz, als sei es ein Kuriosum: „Today my biggest enemy died –"

    „Heute Morgen rief mich meine Schwester aus Madrid an. Der Anruf überraschte mich, da wir seit unserem Streit im Februar nicht mehr viel Kontakt miteinander hatten. Sie erzählte mir unvermittelt, dass Esther am frühen Morgen verstorben sei. Esther begleitet mich seit meiner Kindheit. Sie war die Sekretärin meines Vaters. Sie hat für ihn gearbeitet und viel für seine Firma getan. Mein Vater erzählte uns immer, dass Esthers Engagement und Fleiß maßgeblich zum Erfolg seines Unternehmens und damit auch zu unser aller Wohlstand beigetragen haben.

    Wir sahen sie auch Tag für Tag an Papas Seite, sei es im Büro, in der Firma oder auf seinen vielen Deutschlandreisen. Selbst am späten Abend noch machte sie Überstunden. Manchmal kam sie sogar am Sonntag zu uns nach Hause. Sie saß dann mit Papa in seinem Arbeitszimmer und wir mussten etwas leiser spielen als sonst. Als ich dann älter war, kam sie auch an Weihnachten zu uns in die Familie, und sie brachte für meine Schwester und für mich großzügige Geschenke mit. Wir mochten sie sehr, weil auch Papa sie so mochte, und weil sie uns immer zugewandter wurde. Hatten wir irgendwelche Probleme mit den Schulaufgaben, dann half sie uns, weil sie früher Lehrerin gewesen war, bevor sie Papas Sekretärin wurde.

    Manchmal lud sie uns auch ein, mit ihr in die Cafetería zu gehen, wo wir nach Herzenslust Kuchen essen konnten. Immer war sie guter Laune. Sie wollte mit uns Freundschaft schließen, das merkten wir ihr an.

    Irgendwann begannen die Eltern, sie zu jedem Geburtstag einzuladen. Schrittchen für Schrittchen wurde ihre Präsenz in unserer Familie immer größer. Wir fanden das selbstverständlich, es war nichts Sonderbares daran. Papa freute sich auch, dass wir uns wohl mit ihr fühlten. Das war noch eine Zeit, als mir mein Vater strahlend und gerecht erschien, das Bewundernswerteste, das es zwischen dem Himmel und der Erde meines Universums gab.

    Es dauerte noch ein paar Jahre, bis es große Auseinandersetzungen mit meiner Großmutter gab, bei denen auffällig oft der Name „Esther" fiel. Ich muss so um die zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sein, als mich der Verdacht überfiel – und ich bekam dabei so eine Gänsehaut, dass ich den Gedanken ganz schnell wieder fallen lassen wollte –, dass mein Vater, mein Gott-Vater, etwas mehr mit ihr zu tun hatte als die bloße Büroarbeit. Als ich jedoch meine Mutter zusehends trauriger werden sah, fragte ich sie, weil ich die Verzweiflung nicht mehr ertragen konnte, ob Esther die Geliebte meines Vaters, ihres Mannes, war.

    Ich erinnere mich sehr genau daran, dass es in den Sommerferien war, während eines langen Spaziergangs am Strand von San Juan. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und fragte meine Mutter geradeheraus. Ich erinnere mich daran, dass sie weinte und weder Ja, noch Nein sagte und dass mein gesamtes Weltsystem ab diesem Moment ein anderes, viel düstereres wurde. Ich erinnere mich daran, wie groß auf einmal das weite, bleierne, tintenblaue Meer wirkte, wie sehr die Sonne erbarmungslos darauf glitzerte und wie machtlos, wie verloren und schutzlos ich mich fühlte.

    Eines Tages war das Liebesverhältnis zwischen Vater und Esther offensichtlich. Dennoch wurde es von beiden vehement abgestritten. Jeder wusste es, und alle taten so, als wüssten sie von nichts. Wer es laut aussprach, hatte schlechte Karten: Entweder man wurde gefeuert oder verbannt. Einige Angestellte verloren ihren Arbeitsplatz, auch Freundschaften wurden gekündigt.

    Währenddessen entwickelte sich Esther zu einer Art Faktotum in unserem Haus. Sie arbeitete sich sogar bis in die Küche meines Elternhauses vor. Es stellte sich heraus, dass sie sogar besser kochen konnte als Mama, sodass sie das Küchenkommando ganz übernahm. Sie kontrollierte unsere Hausaufgaben, weil sie als studierte Pädagogin schlauer war als Mama. Sie entschied, welche Möbel, Teppiche, Gemälde und Gläser zu kaufen seien, weil sie den besseren Geschmack hatte als Mama. Bald war Esther nicht mehr aus unserem Leben wegzudenken, und so zog sie bei uns ein und bekam ein eigenes Zimmer.

    Alle gut gemeinten Warnungen meiner Oma meiner Mutter gegenüber nutzten nichts; auch sie wurde gefeuert und kam ins Altersheim, um die Ehe meiner Eltern nicht zu gefährden. In Francos Spanien war es undenkbar, dass sich eine Frau scheiden ließ. Es gab überhaupt keine Scheidung im ehrwürdigen Spanien Francisco Francos, dem großen Wohltäter des spanischen Volkes und Garant der spanischen Ehre. Meine Mutter hätte höchstens meinen Vater verlassen können. Sie hätte dadurch alle Rechte verloren; wir wären beim Vater geblieben – und bei Esther. Das

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