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Reingewaschen: Roman
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eBook289 Seiten3 Stunden

Reingewaschen: Roman

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Über dieses E-Book

Berlin 1984. Sebastian findet den Nachlass seines Großvaters aus einer anderen Zeit: zehn Briefe, geschrieben von einem ehemaligen Häftling während des Zweiten Weltkrieges. Er setzt alles in Bewegung, um das Geheimnis um den Gefangenen zu entschlüsseln - Brief für Brief rekonstruiert er das Geschehene. Wäre da nicht Sebastians Vater, der die Nachforschungen verhindern will. Wer war sein Großvater wirklich? Die Suche nach Antworten führt Sebastian in eine geheime Abteilung der deutschen Verwaltung, deren Spuren fast vollständig verwischt wurden.
SpracheDeutsch
HerausgeberGMEINER
Erscheinungsdatum8. Apr. 2020
ISBN9783839263662
Reingewaschen: Roman

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    Buchvorschau

    Reingewaschen - Claus Wechselmann

    Zum Buch

    Pflicht und Schuld Berlin 1984. Sebastian findet den Nachlass seines Großvaters aus der Nazi-Zeit: zehn Briefe, geschrieben von einem Häftling während des Zweiten Weltkrieges. Im Zuge seiner Nachforschungen kommt ein besonderer Fall der Verwaltung zutage, in den sein verstorbener Großvater offenbar involviert war. All das rückt die Beziehung zu seinem eigenen Vater in ein anderes Licht und es wird klar, dass ein furchtbarer Schatten über der Familie liegt. Welche Rolle spielte sein Großvater in einer Zeit, die von Dunkelheit und Machtmissbrauch geprägt war? Und weshalb versucht Sebastians Vater, ihn von der Wahrheit fernzuhalten? Er beschließt, das Rätsel um die Briefe zu lösen, und spürt dabei Mosaiksteine seiner eigenen Vergangenheit auf. Seine Suche führt Sebastian in die nazi-deutsche Verwaltung und schon bald stößt er neben Antworten auch auf menschliche Abgründe, die die Zeit überdauert haben …

    Claus Wechselmann, 1963 in Berlin geboren, studierte dort Linguistik und Kommunikationswissenschaften und startete danach beruflich in der Welt der großen Konzerne. So arbeitete er für Siemens und IBM, ehe es ihn in eine Berliner Beratungsfirma zog. Seit 2015 macht er aus seinen Erfahrungen und Gedanken spannende Geschichten und schafft mit seinem Erstlingswerk „Reingewaschen" einen Roman, der Spannung und Anspruch in selten gelungener Balance hält. Claus Wechselmann ist Vater von zwei Töchtern, die nicht nur mit ihrer Inspiration seine Bücher bereichern, sondern gleichzeitig kritisches Publikum sind.

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    info@gmeiner-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    1. Auflage 2020

    Lektorat: Teresa Storkenmaier

    Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

    Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

    unter Verwendung eines Fotos von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Denazification-street.jpg

    ISBN 978-3-8392-6366-2

    Haftungsausschluss

    Personen und Handlung sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

    sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Prolog

    Als ich als Jugendlicher zehn Briefe eher zufällig im Schreibtisch meines Großvaters fand, brachten mich diese dazu, eine Suche nach einem Täter der Vergangenheit zu beginnen. Insgesamt nicht so bedeutsam, wäre es nicht um den Vater meines Vaters gegangen. Alles, was mich ausmacht, erklärt sich aus meiner Herkunft, aus meiner Vergangenheit und aus den Schatten, die die eigene Herkunft bis ins Heute wirft. Was wir tun, erscheint uns notwendig, dabei ist es in Wirklichkeit das, wozu wir eher geneigt sind; sozusagen eine Auswahl aus einem gut gefüllten Regal. Dabei steht das Regal für die Pflicht, von der wir glauben, dass diese über der Freiheit des Einzelnen stünde.

    Beide, meinen Vater und meinen Großvater, hatte das Leben mit Macht ausgestattet, und beide missbrauchten diese; jedoch aus ganz unterschiedlichen Motiven. Daraus ist eine Geschichte entstanden, mit der sich nicht angeben lässt oder die gar dazu taugte, ein gutes Beispiel zu sein. Der Mensch ist anpassungsfähig und sucht seinen Vorteil; die Möglichkeiten seines Verhaltens, seiner Entscheidungen und Handlungen sind über lange Zeit stets ähnlich gewesen. Den Unterschied macht die innere Unabhängigkeit. Wer in Balance lebt, ist nicht käuflich und vermag, Eigennutz und Gemeinwohl für sich in Einklang zu bringen. Doch allzu verführerisch sind die Systeme, die durch die Zeit hinweg robust bestehen bleiben und in immer neuem Gewand erscheinen.

    Deshalb erzähle ich, so genau es eben geht, was sich von dem Tag an, an dem meine Erinnerungen einsetzen, zugetragen hat, und überlasse es dem Leser zu urteilen.

    1

    Wenn ich an meinen Vater denke und daran, was sich mir am stärksten eingeprägt hat, dann ist es seine Disziplin. Die Art, wie er morgens immer zum gleichen Zeitpunkt die Wohnung verließ und es schaffte, jeden Tag um 17 Uhr zum Abendbrot wieder zu Hause zu sein. Dazwischen war er im Büro. Er arbeitete für die öffentliche Verwaltung, als Angestellter im gehobenen Dienst. Je weiter mein kindliches Bewusstsein sich entwickelte und eigene Reflexionen in mir entstanden, desto mehr sah ich ihn als einen Mann, an dem die Verwaltung haftete wie ein Geruch, der sich über die Zeit verstärkte und den er nicht mehr loswurde. Wie er mit mir sprach, wie er die Dinge anging, all das wirkte auf mich nüchtern, pragmatisch, als hätte er nicht seinen eigenen Sohn, sondern einen Kollegen vor sich.

    Mein Vater war mein Held und ich zweifelte keine Sekunde daran, dass er im Amt sehr wichtigen Aufgaben nachging; ein bedeutender Mann, von dem die Verwaltung wusste, dass sie ihn brauchte. Als er mich das erste Mal mitnahm, ich ging gerade erst in die Vorschule, beeindruckte mich einfach alles. Die Büros mit den großen Schreibtischen, die Flure, von denen die vielen kleinen Zimmer abgingen und in denen die Schritte beim Gehen unnatürlich laut hallten. Das Gebäude, das von außen mächtig wirkte und nicht jedem Einlass gewährte, imponierte mir sehr. Mein Vater war Teil dieses machtvollen Gebildes, konnte hinein- und hinausgehen, wann er wollte, und ich durfte an seiner Seite mit, was während meiner Kindheit einige Male vorkam.

    Im Büro trug er jeden Tag einen Anzug und ein einfarbiges Hemd, nie ohne Krawatte. In seinem Schrank hingen unzählige davon, doch er wechselte nur zwischen ein paar wenigen, die ich bald alle kannte. Seine Oberhemden waren immer weiß oder hellblau, eng anliegend, und manche mit Achselklappen – so chic in meinen kindlichen Augen, dass ich mir auch solche wünschte. Mein Vater war mein Held und diesen Status behielt er sehr lange. Erst viel später sollte sich das ändern, als ich fast ein Erwachsener war und vieles anders sah als aus der wunderbar naiven Perspektive eines Kindes.

    Bei uns zu Hause erzählte er manchmal von seiner Arbeit, nie davon, was er dort tat, womit er sich beschäftigte, sondern mit einer gewissen Regelmäßigkeit von Kolleginnen und Kollegen, deren Namen so oft genannt wurden, dass ich diese gut kannte und bildliche Vorstellungen von Gesichtern und Körpern entwickelte. Allen voran sein Chef, dessen Name am häufigsten fiel. Herr Dr. Stubbe, mit dem ich eine gefühlte Epoche lang ausschließlich die Unterwürfigkeit und Ehrerbietung meines Vaters verband. Dieser Herr Dr. Stubbe war eine Instanz für meinen Vater, einer, der noch viel mächtiger zu sein schien als er selbst. Wie das sein konnte, erschloss sich mir damals überhaupt nicht, denn wozu brauchte mein Vater, der für mich über allem stand, jemanden, der ihn führte? Wenn mein Vater erzählte, wurde Herr Dr. Stubbe als eine Autorität dargestellt, zu der er, und jeder andere, gerufen wurde und die in einem Zimmer saß, in das man nicht einfach so eintreten durfte. Mit einer machtvollen Mystik konnte dieser Herr Dr. Stubbe die Gedanken aller anderen dahin lenken, wo sich seine eigenen längst befanden, und so wurde seine Meinung zu der aller anderen. Manchmal hielt meine Mutter dagegen – was vor uns Kindern nur selten vorkam – und erklärte engagiert, dass meinem Vater durch Herrn Dr. Stubbe manche Ungerechtigkeit widerfahren sei. Damit rüttelte sie mächtig an dessen Sockel. Dann reagierte mein Vater ungewöhnlich heftig und verteidigte nicht nur seinen Chef, sondern machte sich selbst für das Geschehene verantwortlich. Außerdem betonte er ziemlich oft, dass es unmöglich für meine Mutter sei, die Zusammenhänge bei ihm im Büro richtig einzuschätzen. In meinen kindlichen Augen war Herr Dr. Stubbe unerreichbar. Das Band, das zwischen meinem Vater und ihm bestand, verstand ich nicht, aber damit konnte ich gut leben. Es gab eben immer einen Menschen, der wichtiger war. Weil er nicht darüber sprach, verstand ich nichts von den Aufgaben, mit denen mein Vater im Büro betraut wurde. Fragte ich ihn danach, antwortete er in der Regel, er würde es mir später einmal erklären; wenn ich älter wäre. Dadurch wurde seine Arbeit für mich noch größer, noch fantastischer, denn ich nahm an, dass nur Erwachsene verstehen könnten, was er dort machte.

    Neben Stubbe sprach er oft von einer Kollegin, Frau Münstermann. Sie schien mit meinem Vater auf einer Stufe zu stehen. Er klagte oft darüber, wie häufig Frau Münstermann fehlte und dass sie sich gerade dann krankmeldete, wenn besonders viel und schwierige Arbeit anfiel. Er, der stolz darauf war, in seinem gesamten Beamtenleben bis dahin erst fünf Tage wegen Krankheit gefehlt zu haben, musste es dann ausbaden. Er sprach oft abfällig über sie, darüber, dass sie keine Gelegenheit ausließ, um an einer der vielen Festivitäten in der Behörde teilzunehmen, einer Urlaubsrunde, einem Geburtstag, einem Ausstand oder Jubiläum. In einem großen Haus gäbe es nahezu immer etwas zu feiern. Mein Vater selbst ging nur auf sehr wenige dieser Anlässe und machte sich durch sein Fernbleiben bei seinen Kollegen nicht wirklich beliebt. Frau Münstermann war etwas jünger als er und so, wie er sie beschrieb, musste sie eine gut aussehende Frau gewesen sein. Meine Mutter mochte es nicht, wenn er über das Aussehen seiner Kollegin sprach. Dabei wollte er nur herausstellen, dass sie die kurzen Röcke und offenherzigen Blusen für sich einzusetzen wusste. In meiner jungenhaften Vorstellung entstand Frau Münstermann als eine wunderschöne Erscheinung, die ich zu gern einmal getroffen hätte. Irgendwann wurde sie befördert; im Gegensatz zu meinem Vater, der dies als große Ungerechtigkeit empfand. Dieser Vorfall veränderte ihn. Es entstand ein Riss in der Fassade der Unantastbarkeit seiner Berufswelt.

    Natürlich war da noch Herr Strober, ein Kollege, den mein Vater manchmal als Freund bezeichnete. Herr Strober arbeitete in einem anderen Bereich. Er schien über fast alles Bescheid zu wissen und teilte meinem Vater einiges davon mit. Heute weiß ich, dass es sich um Gerüchte gehandelt haben musste, doch damals beeindruckte mich das sehr. Dabei verstand ich nicht, warum es so wichtig war, etwas früher als die anderen zu wissen, und wie jemand an diese Informationen kommen konnte. Manchmal schien es, als wenn mein Vater Herrn Strober bat, etwas für ihn persönlich zu tun, weil dieser vielleicht mehr Einfluss hatte. Bestand die Freundschaft daraus, dass mein Vater sich etwas von ihm erhoffte? Für mich als seinen Sohn fühlte es sich komisch an, wenn er von einem Kollegen sprach, den er zu brauchen und auf dessen Bereitschaft dazu er zu hoffen schien.

    An die anderen Namen, die bisweilen fielen, erinnere ich mich nicht mehr, doch diese drei, über die ich im Laufe der Zeit viel gehört hatte, mussten die wichtigsten für ihn gewesen sein. Menschen, denen mein Vater in seiner Arbeitswelt täglich begegnete, die für ihn auf ihre Art eine Bedeutung hatten, auf eine andere Weise als wir, seine Familie, oder ich, sein Sohn. In mir lebte schon sehr früh der Wunsch, dass ich auch so werden wollte. Ich wollte auch in schicken Anzügen morgens das Haus verlassen und in einem großen unzugänglichen Gebäude, einem Amt, arbeiten. Einer wichtigen Tätigkeit nachgehen und etwas bedeuten. Wenn ich später in der Schule gefragt wurde, was ich werden wollte, dann musste ich nicht lange überlegen; und wenn wir als Kinder Berufe spielten, dann spielte ich den Beamten am Schreibtisch, der eilig Dinge aufschrieb oder mit flüsternder Stimme am Telefon ausschließlich Wichtiges austauschte. Das Vorbild meines Vaters hatte sich zu meinem Bild von mir selbst entwickelt, einem Bild, das sich in mir konkretisierte und in meinen Träumen dazu führte, dass ich mich in der Zukunft ebenso als ein Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung sah.

    2

    »Wie geht es Ihnen heute? Ich habe gehört, dass Sie nachts einige Male gestört worden sind. Ich werde mich darum kümmern, dass das aufhört und Sie wenigstens ordentlich schlafen können.«

    Ihm saß ein freundlicher Mann mittleren Alters gegenüber, vielleicht um die 40, zu dem man ihn schon viele Male gebracht hatte, um ihn zu vernehmen. Er saß in Untersuchungshaft, weil es Hinweise dafür gab, dass er gegen die Regierung, gegen den Krieg und gegen den Glauben am Endsieg »öffentliche Äußerungen« gemacht hatte. Seit die Polizei ihn hierhergebracht hatte, waren viele Wochen vergangen, und wie an diesem Ort mit seiner Zeit umgegangen wurde, folgte keinem Beispiel, das er bis dahin kannte. Ohne die geringste Ahnung über die Tragweite, keine Informationen darüber, wie lange er bleiben müsste, keine Gelegenheit, ein Recht in eigener Sache geltend zu machen. Die Verhöre fanden immer ohne Ankündigung und zu unregelmäßigen Zeiten statt. Die große Aufregung, das Gemisch aus Wut und starken Worten, die voller Ohnmacht von ihm hervorgebracht worden waren, waren einer Stille und einer immer größer werdenden Angst gewichen; einer Angst, die ihn nicht mehr verließ und verhinderte, dass er auch nur einen Augenblick des Friedens erlebte. Alle hier, ausnahmslos Offizielle, standen ihm mit größter Distanz gegenüber; in ihm wuchs eine Mischung aus Respekt, Furcht und Verachtung. Nur bei dem Beamten, der ihn verhörte, vermischte sich dies mit einer gewissen Zuversicht, denn dieser näherte sich ihm bisweilen als Mensch, der ihn in seiner Not berührte, ihn hoffen ließ; etwas, worauf er bauen wollte. Die Unverbindlichkeit, die er sonst ausmachte, die Kälte und die von ihm so empfundene systematische Willkür machten alles unerträglich, schrieben direkt in das ungeschützt offenliegende Buch seiner Seele, nicht sanft mit Tinte, sondern brutal ritzend, wie mit einem Griffel. Er konnte kaum begreifen, in was er geraten war, und unmöglich beschreiben, was die Totalität dieser Situation ausmachte. Einerseits gab es auch dort doch ausschließlich Menschen wie ihn selbst, und andererseits waren da Funktionen, Macht und Gewalt, die vollkommen unberechenbar und mit einer ungezügelten Freiheit direkt auf ihn einwirkten, wie auch immer es ihnen beliebte.

    »Warum sind Sie so schweigsam? Wollen Sie nicht, dass ich mich für Sie einsetze?«

    Er hatte bisher nicht bemerkt, dass der, der in verhörte, ihm eine Frage gestellt hatte. Jetzt sollte er eine Antwort geben; die Frage musste rhetorischer Natur gewesen sein, wer würde in seiner Situation keine Vorteile, und seien sie noch so gering, wollen? Er schwieg, denn die bereits durchgeführten Verhöre hatten ihn gelehrt, dass es mehr als ratsam war, defensiv und zurückhaltend zu agieren, sich in keinem Fall vorschnell zu äußern. Der andere hatte ein fast unnatürliches Gespür dafür, wann sich jemand mit Unüberlegtem oder Halbwahrheiten auf dünnes Eis begab. Er widerlegte das Gesagte in einer Geschwindigkeit und mit einer Präzision, die Angst machte und einschüchterte. Stille blieb die einzige Form der Entfaltung eigener Bestimmtheit, von der er noch einen Rest hatte, doch er wusste, dass das nur so lange funktionierte, wie der andere sich darauf einließe. Er rang danach, seinem Gegenüber auf Augenhöhe zu begegnen, trotz all der Erniedrigungen, die nicht mehr rückgängig zu machen waren, die seinen Selbstwert bereits auf ein unerträgliches Minimum verkleinert hatten.

    Er wollte etwas erwidern, die Frage des anderen beantworten, doch der Versuch misslang. Seine Stimme gehorchte ihm nicht. Den anderen schien sein Schweigen nicht zu irritieren. Wer wusste, was der schon alles in solchen Verhören erlebt hatte? Der Beamte klappte die schlanke Aktenmappe auf und nahm einige Blätter heraus. Nachdem er sie studiert hatte, blickte er wieder auf und mit seinen warmen, freundlichen Augen zu dem Gefangenen. »Kommen wir noch einmal zu Ihrer Aussage, dass Sie ›keine Bedenken‹ gegen die Partei haben und sich nicht erinnern können, jemals despektierlich über die NSDAP und deren Führungsmannschaft gesprochen zu haben. Was genau meinen Sie mit ›keine Bedenken‹?«

    Hatte er sich wirklich so geäußert?

    »Meine Erinnerung verschwimmt. Habe ich das wirklich gesagt?« Keine Antwort vom Gegenüber. Schweigen, immer dieses Stakkato aus Fragen und Vorwürfen. »Und außerdem hatten Sie mir versprochen, mir zu sagen, wie es meiner Familie geht. Weiß meine Frau, wo ich bin?«

    »Herr Müller, Sie wissen doch, wer die Fragen stellt und wer zu antworten hat. Wenn ich ganz ehrlich mit Ihnen sein darf, hatte ich gehofft, dass wir schon weiter wären. Wieso zeigen Sie nicht einfach Reue und bringen damit die Sache hier schnell hinter sich? Mehr, als Ihnen Brücken zu bauen und Angebote zu machen, kann ich nicht tun. Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, dass ich hier meine Pflicht als deutscher Beamter erfülle.« Er stand auf, ging zur Tür, rief einen der auf dem Gang stehenden jungen Soldaten in den Raum und befahl diesem, Herrn Müller zurück in seine Zelle zu bringen.

    Als der Beamte sich wieder allein im Raum befand, ging er kurz zum Fenster seines ausladenden Büros und blickte in den sonnigen Vormittag. Das Ministerium, in dem er arbeitete, lag mitten in der Stadt, und der Blick aus dem Fenster erfüllte ihn immer wieder mit einem wohligen Gefühl. Seinen Stolz darüber, an diesem Ort der Macht jemand mit Befugnissen zu sein und dazuzugehören, empfand er bereits als Entlohnung für seine Arbeit. Außerdem gefiel es ihm, ein Teil der Stadt und ihres Treibens zu sein; beides gehörte untrennbar zusammen. Seine Gedanken beschäftigten sich noch mit Herrn Müller, der nicht mehr lange Widerstand leisten würde. Seiner Erfahrung nach handelte es sich um einen armen Tropf, der zum falschen Zeitpunkt und am falschen Ort – vielleicht unter dem Einfluss von Alkohol – den Mund einfach zu voll genommen hatte. Aber seine Einschätzung änderte nichts daran, was zu geschehen hätte. Das Gesetz musste angewendet werden; und er war ein wichtiges Teil in diesem Konstrukt, das nicht notwendigerweise auf Güte basierte, sondern auf Verlässlichkeit, Recht und Ordnung. Herr Müller würde bald zugeben, dass er sich despektierlich und volksverhetzend geäußert hatte, und kurz danach würde sich eine Strafkammer routiniert mit ihm beschäftigen. Das Urteil würde hart ausfallen, aller Voraussicht nach, endgültig. Vorgänge wie dieser stellten seit einiger Zeit etwas Alltägliches dar, und wenn es notwendig wäre, bliebe es so. Über diesen letzten Gedanken vergaß er den Mann, der eben noch bei ihm gesessen hatte und auf dessen Akte lediglich »Müller« stand. Ein Fall von vielen, der erst später wieder in sein Bewusstsein zurückkehren würde. Mit Blick auf seine Armbanduhr, die er von seinem Vater zum bestandenen juristischen Examen geschenkt bekommen hatte, wog er für sich ab, ob er sich noch einen dieser Fälle vor der Mittagspause vornehmen sollte. Er kam zu dem Schluss, dass die 30 Minuten, bis es zwölf wäre, nicht ausreichten, und setzte sich auf seinen Bürostuhl, lehnte sich bequem nach hinten und sah sich versonnen im Raum um. 1941; mit seinen 37 Jahren hatte er eine steile Karriere als Beamter hingelegt. Angefangen als Referent im Finanzministerium, hatte er bereits die Position eines Unterabteilungsleiters erreicht. In dieses Haus hatte er es aufgrund seiner rhetorischen Fähigkeiten geschafft und wegen seiner emphatischen Veranlagung, sodass er sich hier, umgeben von ausgebildeten Polizisten, als Quereinsteiger eine Führungsposition verdient hatte. Seine Tätigkeit hatte inhaltlich nichts mit der zu tun, der im Finanzministerium nachgegangen wurde, lediglich die Strukturen des Apparats, die Abläufe und Hierarchien, glichen einander.

    Am Anfang noch, nachdem er schon eine Zeit lang hier gearbeitet hatte, verfolgten ihn manche Fälle bis in den Schlaf. Im Traum verzerrten sie sich so sehr, dass er sich schuldig fühlte und von den schlimmen Folgen träumte, die sich unweigerlich für die Gefangenen und deren zumeist unschuldige Familien ergaben. Doch lange hielt das nicht an. Bald hatte er in sich den Schwachpunkt lokalisiert und schüttelte alles ab, was ihn zuvor schwer gemacht hatte, verlor die Skrupel, hörte auf, etwas dabei zu empfinden, Gegner des Reiches ihrem Schicksal zu übergeben. Er konzentrierte sich darauf, die modernen Methoden der Verhörkunst immer besser anzuwenden, um bei jedem seiner Fälle schließlich einen weiteren, möglichst schnellen Erfolg vermelden zu können.

    Es klopfte an der Tür, wodurch er abrupt aus seinen Überlegungen ins Jetzt zurückgeholt wurde. »Herein«, rief er mechanisch.

    Vor ihm stand eine Mitarbeiterin aus dem Bereich, den er verantwortete. Sie fragte ihn, ob er sich einer kleinen Gruppe anschließen wolle, die sich verabredet hatte, ausnahmsweise in ein Gartenlokal zur Mittagspause zu gehen. Nichts Besonderes, außer, dass eigentlich hätte bekannt sein sollen, dass er normalerweise nicht mit seinen Mitarbeitern zum Essen ging. Es musste der Zauber des Moments gewesen sein oder die Stimmung, in der er sich befand, jedenfalls machte er eine Ausnahme. Diese bestand darin, der jungen Frau, die auf eine Antwort wartete, ganz einfach zuzunicken.

    3

    Wir saßen zusammen am Tisch, um wie jeden Tag gegen 17 Uhr das Abendbrot gemeinsam einzunehmen. Eigentlich handelte es sich um kein richtiges Abendbrot, denn meine Mutter kochte abends für meinen Vater und tagsüber aß er die Stullen, die er sich morgens liebevoll zubereitet und mitgenommen hatte. Unser Esstisch befand sich im Wohnzimmer und jeder von uns saß dort immer auf demselben Platz, demselben Stuhl, egal ob wir dort am Wochenende frühstückten oder eben abends zu »Mittag« aßen. Der schwere Tisch, den ich kaum anheben konnte, war rund und die schmalen Stühle passten zu ihm in Form und Farbe. Alles bestand aus Holz. Meine Eltern hatten diese Sitzgruppe vor längerer Zeit gekauft, um sich etwas Besonderes, etwas ganz nach ihrem Geschmack zu leisten. Wir wohnten in einer Dreizimmerwohnung im Norden Berlins und meine Eltern sprachen

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