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Alles, was wir verloren haben
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eBook543 Seiten7 Stunden

Alles, was wir verloren haben

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Über dieses E-Book

Lucy Durant war erst vierzehn Jahre alt, als sie ihren älteren Bruder Nolan verlor. Zuerst an seine paranoiden Wahnvorstellungen, als er zunehmend von UFOs und Verschwörungstheorien besessen war. Dann, als er spurlos verschwand.
Zehn Jahre später kämpft Lucy immer noch mit dem Verlust. Sie fühlt sich wie in einer Warteschleife gefangen und tut, was sie kann, um nicht an Nolan zu denken. Aber als eine Reihe mysteriöser Ereignisse Lucy in ihre Heimatstadt Bishop zurückführen, ist sie gezwungen, sich mit den verworrenen Erinnerungen ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen, um endlich herauszufinden, was wirklich mit ihrem Bruder passiert ist.

Gone Girl" trifft auf "Akte X", bei diesem faszinierenden Sprung in die Tiefen der Erinnerung und des Schmerzes.«
Carrie La Seur, Autorin von »Denn wir waren Schwestern«

«Meisterhaft schafft es die Autorin zwei mögliche Szenarien vorzugeben: Entweder war Nolan paranoid - oder er wurde tatsächlich von den »Men in Black« verfolgt. Der Leser sollte niemandem trauen und alles infrage stellen! Perfekt für Fans von Joyce Maynard und Jennifer McMahon.«
Booklist

SpracheDeutsch
HerausgeberHarperCollins
Erscheinungsdatum1. Okt. 2018
ISBN9783959677936
Alles, was wir verloren haben
Autor

Valerie Geary

Die Autorin Valerie Geary machte sich in den USA bereits mit ihren tiefgründigen Kurzgeschichten einen Namen in den großen Literaturmagazinen. »Das Schweigen der Bienen«, ihr vielbeachtetes Romandebüt, war 2016 für den »Ken Kesey Award« nominiert. Valerie Geary lebt mit ihrer Familie in Portland, Oregon.

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    Buchvorschau

    Alles, was wir verloren haben - Valerie Geary

    HarperCollins®

    Copyright © 2018 für die deutsche Ausgabe by HarperCollins

    in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

    Copyright © 2017 by Valerie Geary

    Originaltitel: »Everything We Lost«

    erschienen bei: William Morrow, New York

    Published by arrangement with

    HarperCollins Publishers L.L.C., New York

    Covergestaltung: zero-media.net, München

    Coverabbildung: FinePic / München, Luciano Lozano / Getty Images

    Lektorat: Maya Gause

    E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

    ISBN E-Book 9783959677936

    www.harpercollins.de

    Widmung

    Für dich, Dad, in Liebe

    1

       1   

    Lucy Durant stand auf dem Haus ihres Vaters, mit den Fußspitzen an der Dachkante, und blickte in einen schwarzen Abgrund hinunter. Es war fast Mitternacht, der Himmel mondlos. Tiefe Dunkelheit erfüllte den Vorgarten. Die Schwerkraft zog an ihren Schultern. Wie leicht es doch wäre, sich einfach fallen zu lassen, sich ins Vergessen zu stürzen. Wie hoch war es wohl? Sechs Meter? Zehn? Hoch genug jedenfalls, um sich alle Knochen zu brechen. Doch ihr war, als würde sie womöglich ewig in die Finsternis hinabstürzen, ohne je am Boden aufzuschlagen, falls sie wirklich springen würde.

    Im Haus erklang lautes Gelächter. Gläser klirrten. Jazzmusik strömte hinter ihr aus dem offenen Dachbodenfenster. Die Verlobungsparty lief seit vier Stunden, und nichts deutete darauf hin, dass sie bald vorüber sein würde. Niemand hatte es bemerkt, als sie hinausgegangen war. Davor hatte sie auch niemand beachtet, während sie in der Wohnzimmerecke herumgestanden und auf ihre Füße gestarrt hatte. Das Augenmerk der Gäste galt allein Robert und Marnie, den glückstrunkenen Bald-Vermählten. An jedem anderen Tag wäre nichts dagegen einzuwenden gewesen. Aber die Party hatte ja ausgerechnet heute stattfinden müssen, am fünften Dezember – dem Tag, an dem vor zehn Jahren ihr Bruder verschwunden war.

    Sie hatte Robert gebeten, einen anderen Termin zu finden. Jeder andere Samstag wäre in Ordnung gewesen, aber Marnie hatte auf dem Fünften bestanden. Sie und Robert hatten sich vor fünf Monaten am fünften Juli um 17.55 Uhr kennengelernt, als der Fahrstuhl, in dem sie standen, zwischen dem fünften und sechsten Stock stecken geblieben war. Sie hatten fünfundfünfzig Minuten festgesessen, ehe die Feuerwehr sie schließlich befreit hatte. Auf dem Feuerwehrfahrzeug hatte die Nummer 55 gestanden. Es sei Schicksal, sagte Marnie. Ihre Glückszahl sei immer die Fünf gewesen, und wenn das jetzt kein Zeichen war, dann wüsste sie auch nicht mehr. Das Universum habe sie und Robert zusammengeführt; nun wollte sie ihr märchenhaftes Happy End und sie bekam es auch.

    »Wir haben nie großes Aufheben darum gemacht«, hatte Robert zu Lucy gesagt, als sie zu bedenken gab, wie unpassend es sei, dass die Verlobungsparty ausgerechnet an ihrem inoffiziellen Trauertag stattfinden sollte.

    Es stimmte ja. In den letzten Jahren war der fünfte Dezember immer ohne großes Brimborium vergangen. Robert hatte den Tag nie erwähnt, und einige Male hatte selbst Lucy ihn vergessen, und hinterher hatte sie ein schlechtes Gewissen gehabt, weil sie dieses wichtige Datum verschwitzt hatte. Aber es gab auch die anderen Jahre, wo sie in den Tagen vor und nach dem fünften Dezember eine düstere Schwermut erfasste. Die Jahre, in denen sie keinen Sinn darin sah, überhaupt aus dem Bett zu steigen. Zehn Jahre waren eine lange Zeit, um jemanden zu vermissen, und doch wurde der hohle Schmerz in ihrem Inneren nicht weniger.

    Nachdem ihr Vater sich geweigert hatte, die Verlobungsparty zu verschieben, hatte Lucy versucht sich abzulenken, indem sie bei den Vorbereitungen mithalf. Sie verschickte die Einladungen und half beim Dekorieren des Hauses. Am Morgen des großes Ereignisses erbot sie sich sogar, Marnies fünfstöckige, achthundert Dollar teure Verlobungstorte von der Bäckerei abzuholen. Was danach geschah, war nicht ihre Schuld.

    Ein paar Schritte neben dem Bäckereieingang hatte ein Straßenprediger sein Podium aufgebaut, einen umgedrehten Dreißig-Liter-Farbeimer, auf dem er barfuß stand und der sich unter dem Gewicht des Mannes bog. Die weiße Schmuddeldecke, die er sich wie eine Toga umgelegt hatte, war mit rosa Gänseblümchen gemustert und am Saum völlig ausgefranst gewesen. Mit weit aufgerissenen Augen blickte er auf die kleine Schar der Neugierigen, zeigte seine spitzen gelben Zähne. Sein schwarzes ungewaschenes Haar fiel ihm in knotigen Zotteln wirr auf die Schultern, im Bart hingen Essensreste. Er roch säuerlich von zu viel Sonne, überreif und schwärend. Mit krummen Fingern winkte er die Leute näher und verkündete: »Wir sind Teil von etwas Größerem, was ihr mit eurem armseligen kleinen Verstand nicht einmal ansatzweise begreift.«

    Lucy blieb am Rand der Menge stehen und betrachtete den Mann. Sie hatte schon vor Jahren aufgehört, in den Gesichtern von Fremden nach ihrem Bruder Ausschau zu halten, aber der Straßenprediger war etwa in Nolans Alter, Mitte zwanzig, und obwohl sie ihren Bruder nie mit Bart gesehen hatte, stellte sie sich ihn bärtig ungefähr so vor wie diesen Typen dort. Sie musterte ihn genauer, die hängenden Schultern und schlaksigen langen Arme, erkannte den vertrauten Tonfall seiner Stimme, die Wut und den Schmerz einer gebrochenen Seele, eines Mann-Kindes, das einer größenwahnsinnigen Psychose erlegen war.

    »Ich habe ein Geschenk erhalten«, erklärte der Straßenprediger mit einem Kifferlächeln. »Es besteht darin, die Zusammenhänge erkennen zu können.« Er hob eine Hand und ahmte mit wackelnden Fingern einen davonfliegenden Vogel nach. »Ich weiß, was kommen wird, und ich bin hier, um dafür den Weg zu bereiten.«

    Dann richtete er seinen Blick auf Lucy. Die kalten blauen Augen sahen aus wie gefrorene abgrundtiefe Seen, umrandet von dunklem Indigo. Ganz anders als Nolans warme braune Augen.

    Der Straßenprediger winkte ihr zu und rief: »Du und du und ich, wir drei. Sonne, Mond und Sterne … wir drei … so frei.«

    Jemand warf ein paar Münzen in eine Dose, die vor dem Mann stand. Das Klimpern riss Lucy aus der Erstarrung. Sie wandte sich ab, voller Scham dafür, dass sie den Mann mit ihrem Bruder in Verbindung gebracht hatte, und ging in die Bäckerei, wo sie die Torte bezahlte, ohne sie sich vorher anzuschauen. Mit zitternden Händen trug sie sie zum Wagen. Sie fuhr zügig, hoffte, dadurch den Schuldgefühlen zu entkommen, die sie erfasst hatten. Der Straßenprediger war nicht ihr Bruder, aber wäre er es gewesen, hätte Lucy sich wahrscheinlich keinen Deut anders verhalten. Sie wäre weitergegangen, hätte den Blick gesenkt, hätte so getan, als würde sie ihn nicht erkennen – nur einer von Hunderten von Landstreichern, die in Los Angeles County auf ein paar schnelle Dollars aus sind.

    Zu Hause lieferte sie die Torte in der Küche ab. Marnie hob den Deckel und schaute hinein. Sie stöhnte auf, fasste sich an die Brust. »Oh, Lucy«, entfuhr es ihr. Doch es war nicht die Stimme einer Frau, die sich über eine perfekte Verlobungstorte freute, sondern sie klang bestürzt.

    »Was hast du getan?« Robert schaute in den Karton.

    Die fliederfarbene Glasur war genau in der Mitte aufgebrochen. Die aufgetürmten Etagen waren abgesackt und verrutscht, offenbarten nun eine profane Schokotorte mit glänzender Himbeerfüllung. Lucy versuchte sie wieder zurechtzuschieben und die Glasur mit einem Buttermesser glatt zu streichen. Aber dann zeigte sich der nächste Riss und gleich noch einer, schmale, Unheil verbreitende Verwerfungslinien in der Glasur.

    Sie versuchte zu erklären, was geschehen war. »Da war dieser Straßenprediger und all die Leute. Ich musste mich durch das Gedränge schieben, um durchzukommen.«

    Dass der Mann sie an Nolan erinnert hatte, erwähnte sie nicht, denn ihr Vater hatte klargestellt, dass dies Marnies Tag sei und dass er nichts darüber hören wolle, was vor zehn Jahren geschehen war, nichts Deprimierendes, Unerfreuliches, Beunruhigendes. Schluss, aus.

    Marnie seufzte, und als ihr Blick abermals auf die Torte fiel, hingen Tränen an ihren Wimpern.

    »Wir können sie schneiden, ehe die Gäste eintreffen«, schlug Lucy vor. »Zu jedem Stück legen wir eine der hübschen lila Gartenblumen auf den Teller. Wie heißen die noch gleich?«

    »Stiefmütterchen.« Robert hob die Tortenschachtel.

    »Genau, Stiefmütterchen.« Lucy lächelte Marnie an, die reagierte jedoch nicht. »Ist ein wenig unkonventionell, aber bestimmt merkt es niemand, und falls doch, ist es denen eh egal, wenn sie einmal zu essen angefangen haben. Die Torte schmeckt noch genauso lecker. Sie hat halt einen leichten kosmetischen Schaden genommen, das ist alles. Sie ist bestimmt noch köstlich.«

    Während sie noch plapperte, trug Robert die Torte durch die Küche und warf sie in den Müll.

    Lucy wollte protestieren, doch Robert hob mahnend die Hand. »Ich weigere mich, meinen Gästen so ein Desaster zu servieren.«

    »Robert …«, sagte Marnie, doch er verbot auch ihr das Wort.

    »Ich rufe Donna an. Sie hat bestimmt die rettende Idee.«

    Donna war die für das Party-Catering zuständige Frau. Sie war gut in ihrer Arbeit, aber wie sie das Wunder bewerkstelligen sollte, auf den letzten Drücker eine derart hochwertige Verlobungstorte herbeizuzaubern, konnte Lucy sich beim besten Willen nicht vorstellen. Doch Robert wollte sie nicht mit den Einzelheiten behelligen und verscheuchte sie aus der Küche wie ein kleines Kind. »Für heute hast du genug geholfen. Mach dich doch einfach rar, bis die Party beginnt. Und versuche bitte, heute Abend nicht noch irgendeinen Fauxpas hinzulegen. Meinst du, das schaffst du?«

    Sie würde es jedenfalls versuchen.

    Lucy blieb in ihrem Zimmer, bis um kurz nach acht die ersten Gäste eintrudelten. Dann ging sie nach unten. Ein Tisch nahe der Eingangstür war bald vollgestellt mit teuren Weinflaschen und aufwendig verpackten Geschenken. Auf einem kleineren Tisch in der Zimmermitte stand eine exakte Nachbildung der Torte, die Lucy zerstört hatte. Lucy ging hinüber; sie wollte nachschauen, ob die Torte echt war, doch eine groß gewachsene Frau im Anzug verscheuchte sie. Marnie wirbelte von Gast zu Gast, ein schimmernder Regenbogen aus Violett und Blau, das elegante Kleid schmiegte sich perfekt an ihre Kurven, das Haar war gestylt wie bei einer Königin, der Drei-Karat-Diamantring schillerte an ihrem Finger, heller noch strahlte ihr Lächeln. Sie hauchte den Leuten Küsse auf die Wangen, plauderte und lachte und verzauberte Robert und die Gäste mit ihrer Jugendlichkeit und Heiterkeit. Einst war sie Ballerina gewesen, das behauptete sie jedenfalls, und heute Abend bewegte sie sich auch wie eine, voller Anmut und in dem Bewusstsein, dass alle im Raum sie beobachteten.

    Außer Lucy waren alle gekleidet, als würden sie bei einem Gala-Event über den roten Teppich schreiten. Lange fließende Kleider, Juwelen, maßgeschneiderte Anzüge, Krawatten, polierte Schuhe. Lucy wirkte deplatziert in ihrer schwarzen Röhrenjeans und dem marineblauen Schlabberpulli, ihr rostrotes Haar zu einem unauffälligen Pferdeschwanz zurückgebunden. Aber die Klamotten waren bequem. Es war Roberts einziges Zugeständnis, ein Weg, um das leise Schuldgefühl zu lindern, das er noch verspüren mochte, weil er die Verlobungsparty auf den fünften Dezember gelegt hatte: Lucy durfte anziehen, was sie wollte. Ohne die neongrün und knallrosa Laufschuhe an ihren Füßen hätte sie sich kaum von der preußischblau gemusterten Wandtapete abgehoben, wäre nahezu darin verschwunden. Marnie verzog das Gesicht, als sie Lucys Schuhe sah, sagte aber nichts.

    Lucys abergläubischer Eifer, nichts anderes an den Füßen zu tragen, war beinahe schon lächerlich. Keine Ballerinas, keine Sandalen, absolut keine Stöckelschuhe. Selbst in Hausschuhen oder barfuß fühlte sie sich schon nach kurzer Zeit unwohl. Sie wusste, dass es irgendwie krank war, aber sie konnte nicht anders; die Fersenpolster und straff gebundenen Schnürsenkel gaben ihr ein Gefühl von Sicherheit, und sie wusste, dass sie, falls alle anderen Methoden der Fortbewegung versagten, zumindest die richtigen Schuhe anhätte. Zu Fuß war sie nämlich schnell wie der Wind.

    Lucy verdrückte sich in eine Ecke und sah zu, wie immer neue Leute eintrafen, die meisten waren ihr fremd. Sie erkannte einige von Roberts Geschäftsfreunden, konnte sich aber nicht an die Namen erinnern. Sie stellten sich ihr nicht vor, sie bemerkten sie gar nicht. Robert hatte ihr angeboten, einige ihrer eigenen Freunde einzuladen. Er hatte es so gesagt, als ob sie aus einem riesigen Freundeskreis hätte auswählen können. Manchmal unterhielt sie sich im Coffeeshop unten an der Straße mit der Bedienung, redete mit ihr über Bücher und das Wetter und über die Frau, die jeden Tag erschien und nichts außer Milchschaum bestellte; aber die Bedienung zur Verlobungsfeier ihres Vaters einzuladen wäre dann doch ein bisschen zu viel des Guten gewesen, zu persönlich für jemanden, der nur nett mit einem redete, weil er sich davon ein höheres Trinkgeld versprach. Dann gab es noch die Leute in ihrer Laufgruppe, aber auch die waren nur lose Bekanntschaften, mit denen sie lediglich die Vorliebe zum Joggen teilte. Vielleicht war sie ja wirklich asozial. Vielleicht gefiel es ihr ja so. Solange sie zu ihren Mitmenschen Distanz wahrte, musste sie nicht über persönliche Dinge reden, wurde nicht mit den unweigerlichen Fragen nach Familie und Geschwistern und ihrer Kindheit konfrontiert, musste sich nicht erklären.

    Die Party wurde lauter und lauter, während immer neue Gäste eintrafen und die ersten beim dritten oder vierten Drink angelangt waren. Die Kronleuchter warfen goldene Prismen auf das frisch gebohnerte Eichenparkett. Jemand fragte mit lauter, für alle hörbarer Stimme, wie es möglich sei, dass eine so schöne junge Frau einen so hässlichen alten Sack heiraten wolle. Jemand anderes antwortete, Geld habe die Eigenschaft, jeden gut aussehen zu lassen. Robert und Marnie stimmten lautstark ins anschließende Gelächter ein. Dann schmiegte sie sich an ihn, schaute ihm in die Augen und sagte: »Ich glaube, Liebe macht verrückt. Denn so fühle ich mich, völlig verrückt, wie durchgedreht. Das kommt nur von deiner Liebe zu mir.«

    Ein Raunen ging durch die Schar der Partygäste. Robert schwang Marnie zurück, beugte sich über sie und küsste sie wie ein verknallter Teenager, dem es völlig egal war, wer ihm beim Knutschen zusah. Pfiffe und Gejohle, ein Trinkspruch; die Party nahm ihren Lauf.

    Es war zu viel für Lucy. Die Musik, das Glitzern, die paillettenbesetzten Kleider und geschminkten Gesichter, der Alkoholgeruch im Atem eines jeden, Marnies kurze Rede. Nach diesem Scheißtag nun mit ansehen zu müssen, wie glücklich Robert und Marnie waren, wie sie im Jetzt lebten, unbelastet von der Vergangenheit, ließ etwas in Lucy aufbrechen und sie musste die Flucht ergreifen. Sie brauchte frische Luft. Sie trug ihr Gingerale-Glas die Treppe hinauf, nahm zwei Stufen auf einmal und stieg in ihrem Zimmer aus dem Fenster auf das schräge Hausdach, wo sie endlich allein war.

    Lucy bezweifelte, dass irgendeiner von Roberts Freunden über Nolan Bescheid wusste, und sie bezweifelte sogar, dass Marnie viel mehr über Nolan wusste als diese Leute da unten. Robert war ein wohlhabender Selfmade-Mann, der sein Geld mit cleveren Investitionen in Hightech-Firmen gemacht hatte, der in einem hübschen Haus in einem hübschen Viertel wohnte, der ein zweites Haus in Aspen besaß, der einen Mercedes und manchmal einen Porsche fuhr, der noch immer volles Haar und ein markantes Aussehen hatte und der demnächst eine ehemalige Balletttänzerin heiraten würde, die halb so alt war wie er. Von außen betrachtet war sein Leben perfekt. Es war nicht verwunderlich, dass er nicht über seinen peinlichen Sohn sprach. Lucy war ihm schon peinlich genug. Mit vierundzwanzig wohnte sie noch bei ihrem Vater, arbeitete für ihn als Teilzeit-Sekretärin, hatte keinen College-Abschluss, keinen festen Freund und keine Zukunftsaussichten.

    Trotz der späten Stunde war der Himmel über ihr trübe, sienafarben, ein Püree aus Meeresnebel und Stadtlichtern, der die meisten Sterne verdeckte. Venus und Mars und einige der nächsten und hellsten Sterne erkannte man zwar, aber auch sie waren wässrig und blass und schwer auszumachen. Einst hatte sie die Namen dieser Handvoll von Punkten gekannt, und dazu noch die einiger anderer, deren Licht zu schwach war, um den Smog über Los Angeles zu durchdringen. Als Mädchen hatte sie an einem viel dunkleren Ort gewohnt, und an lauen Sommerabenden hatten sie und ihr Bruder draußen im Sand gelegen und mit den Fingern die Sternenkonstellationen nachgezeichnet. Lang, lang war es her, und sie hatte keine Anstalten gemacht, sich die Namen der Sterne einzuprägen. Die Sterne und ihre Geschichten waren verloren für sie.

    Auf der anderen Straßenseite erstrahlten die von einem Bewegungsmelder gesteuerten Lichter und illuminierten ein Garagentor und eine leere Einfahrt. Lucy blickte prüfend auf die Straße und den Gehsteig und in die enge Gasse zwischen dem Haus und dem daneben. Doch sie sah nichts, was das Angehen der Lichter ausgelöst haben könnte. Kurz darauf gingen sie wieder aus, überließen die Einfahrt wieder der Dunkelheit.

    Sie nahm einen Schluck vom Gingerale und schwenkte die Eiswürfel, die klirrend ans Glas stießen. Jetzt bereute sie, nicht den Champagner genommen zu haben, den ihr Vater ihr angeboten hatte. Sie war sorgsam darauf bedacht, Alkohol zu meiden; sie wusste, wie er sie veränderte, sie schwummerig und ihrer Mutter zu ähnlich machte, aber heute war ein Tag, an dem sie nichts dagegen gehabt hätte, alles zu vergessen. Es wäre nicht schlecht, morgen aufzuwachen und sich nicht mehr an die Party und Marnies kaputte Torte zu erinnern, oder an den verrückten Straßenprediger, der sie viel zu sehr an ihren Bruder erinnert hatte. Es wäre nicht schlecht, die Worte verstummen zu lassen, die ihr in einer Endlosschleife durch den Kopf gingen, pulsierend im Rhythmus der Musik von unten. Zehn Jahre heute, zehn Jahre heute, zehn Jahre heute.

    Sie war schon im Begriff, wieder hineinzuklettern und nach unten zu gehen, um sich irgendetwas Starkes in ihr Gingerale zu schütten und den Schleier des Vergessens über alles zu breiten, als unvermittelt der Strom ausfiel. Man hörte ein lautes Ploppen, und dann wurde die ganze Straße schwarz. Auf den Veranden der Nachbarn ging simultan das Licht aus, die Häuser versanken im Dunkel. Unten verstummte die Musik, die Gäste seufzten überrascht auf.

    Stromausfälle waren nichts Ungewöhnliches, besonders wenn im Hochsommer die Klimaanlagen auf Hochtouren liefen, aber es war Dezember und durchschnittlich warm, vielleicht etwas kühler als normal. Man hatte keine quietschenden Bremsen gehört, kein metallisches Knirschen, keinen Hinweis darauf, dass jemand gegen einen Strommast gerast war. Von ihrer Position aus konnte Lucy über die Dächer der Nachbarn hinwegblicken und sah, dass die umliegenden Straßenzüge hell erleuchtet waren. Nur in ihrer Straße lagen eine Reihe von Häusern rechts und links neben dem ihres Vaters im Dunkeln.

    Der Strom blieb nicht lange weg. Es reichte, um ein paarmal verwirrt zu blinzeln, dann ertönte ein weiteres Ploppen und die Straßenlichter erwachten wieder flackernd zum Leben. Im selben Moment erstrahlte auf den Veranden das Licht, unten explodierte die Musik. Saxofone und Trompeten setzten an der Stelle ein, wo sie aufgehört hatten. Die Gäste jubelten, ein anschwellendes Crescendo, gefolgt von Gläserklirren und rauschendem Gelächter.

    Auch Lucy versuchte, den Vorfall wegzulachen, doch etwas weckte ihre Aufmerksamkeit – am Ende der Einfahrt neben der Hecke, die ihren Rasen vom Gehsteig trennte. Etwas oder jemand versteckte sich in einem Tupfer tiefer Dunkelheit, dort, wo das Straßenlicht nicht hingelangte. Vielleicht war es gar nichts, nur eine optische Täuschung. Dann aber bewegte sich der Schatten. Er schob sich etwas vor und zog sich wieder zurück, als hätte er gespürt, dass man ihn beobachtete. Ein Waschbär. Es war nur ein Waschbär. Was sollte es sonst sein? Doch noch während sie dies dachte, rief ein anderer Teil ihres Verstands, dass der Schatten viel zu groß für einen Waschbären war.

    Sie starrte darauf, wartete auf die nächste Bewegung, wollte den Schatten kraft ihres Willens dazu zwingen, sich und sein Waschbärenantlitz zu zeigen, aber der Schatten hielt sich geduckt, rührte sich nicht. Je länger sie hinsah, desto größer wurden ihre Zweifel. Da war nichts, nur ein dunkler Fleck im toten Winkel, das war alles. Ihr Verstand schlug Kapriolen, weil ihr Vater wieder heiraten würde, weil heute der fünfte Dezember war und weil sie einem Straßenprediger begegnet war, der sie an Nolan erinnert hatte. Ihr Verstand suchte nach Mustern, erfand Gestalten, verwandelte Leere in Materie, füllte die Welt mit Monstern.

    Ob Einbildung oder nicht, Lucy schleuderte ihr Glas auf was immer sich an der Hecke versteckte. Der Wurf war zu kurz. Das Glas schlug mitten in der betonierten Einfahrt auf und explodierte in Myriaden winziger Splitter, deren Funkeln man besser erkannte als das Funkeln der Sterne am Nachthimmel.

    2

       2   

    Der Pfad führte mitten durchs Unterholz, an den Eichen entlang. Lucy lief mit lockeren Armen und erhobenem Kopf, machte lange Schritte, verschlang die Strecke förmlich. Die Sonne stand hoch genug, um sie zu blenden und ins Schwitzen zu bringen. Aber auch im schattigen Abschnitt verlangsamte sie ihre Schritte nicht, im Gegenteil. Sie zog scharf an. Irgendwo in der Nähe plätscherte ein Bach. Sie rannte an einem alten Mann und seinem Jack-Russell-Terrier vorbei. Der Hund jagte ihr hinterher und schnappte nach ihren Beinen, war aber nicht schnell genug. Zwei Meilen waren geschafft. Drei weitere lagen vor ihr, ehe sie umkehren und vielleicht erwägen würde, das Tempo ein wenig zu drosseln.

    Sie versuchte, dem dunklen Stichfaden davonzulaufen, der sich anschickte, sich ihr Rückgrat hinaufzufressen und in Gestalt einer Migräne in ihr Hirn zu gelangen. Sie zog das Tempo erneut an, gab Gas, bis es nur noch ihre Schuhe auf dem Erdboden gab, ihren schmerzenden Brustkorb, die Bewegung und die verschwommen vorbeifliegenden Bäume.

    Zwei Tage vor ihrem achtzehnten Geburtstag hatte Lucy geglaubt, Nolan zu sehen. Robert hatte sie für eine Campus-Tour zur University of Washington geschleift, obwohl er wusste, dass sie sich vor ihrer endgültigen Wahl eine einjährige Auszeit nehmen wollte. Robert echauffierte sich darüber. Natürlich würde sie aufs College gehen. Keines seiner Kinder würde Teil der ungebildeten Unterschicht werden. Außerdem habe man ihr ein Sport-Stipendium angeboten, und das dürfe sie sich keinesfalls entgehen lassen. Sie verriet ihm nicht, dass sie es längst abgelehnt hatte.

    Sie gingen über das Campus-Gelände, als sie ein vertrautes Lachen vernahm. Ein lockeres, ansteckendes, lautes Lachen, dessen Urheber es nicht kümmerte, ob Fremde ihn hörten. Sie verfolgte das Lachen zu einem dunkelhaarigen Jungen, der sich vor der Bibliothek mit einem Mädchen unterhielt, das braune Locken hatte und eine schwarz gerahmte Brille trug. Der Junge war groß und schlaksig und strich sich ständig das Haar aus den Augen. Das Mädchen sagte etwas, und der Junge warf den Kopf in den Nacken und lachte erneut, lud die ganze Welt zum Mitlachen ein. Und in dem Moment schien alles ganz einfach zu sein: Nolan war am Leben. Er hatte sich in Seattle etwas Neues aufgebaut. Er war Student an der University of Washington. Er hatte eine Freundin, die ihn zum Lachen brachte.

    Es hätte Lucy genügt, wenn er es denn wirklich gewesen wäre. Sie hätte keine Erklärung von ihm gebraucht, keine Angabe von Gründen oder das Versprechen, sich wieder zusammenzutun, wenn die Zeit dafür gekommen wäre. Sie hätte nichts anderes gebraucht als das Wissen, dass es ihm gut ging. Dass er lebte und glücklich war. Aber dann blickte der Junge in ihre Richtung und das Wunschbild verlosch. Sein Gesicht war zu rund, die Nase zu breit, die Lippen waren zu voll, die Augen zu hell. Lucy machte auf dem Absatz kehrt, rannte zur nächsten Toilette und übergab sich. Ihrem Vater sagte sie, es sei eine Lebensmittelvergiftung, sie habe verdorbenen Kartoffelsalat gegessen. Sie flogen einen Tag früher zurück und redeten während des dreistündigen Flugs kein einziges Wort miteinander.

    Nach anderthalb Stunden überflogen sie die Berge der Sierra Nevada. Aus dieser Höhe sah das weitläufige Gebiet menschenleer und bar jeden Lebens aus, obwohl sie wusste, dass es nicht so war. Lucy starrte auf das Terrain herab, das ihr einst so vertraut gewesen war, nun aber einer lebensfeindlichen Marsoberfläche glich. Sie stellte sich vor, dass ihr Bruder irgendwo dort unten herumirrte, dass er Jahr um Jahr im Gestrüpp zwischen den Dünen im Kreis lief, gegen Hitze und Sandstürme kämpfte, nach Wasser grub, ab und an ein paar Regentropfen auffing, Blätter kaute, sich von Ameisen und Käfern ernährte und versuchte, nach Hause zu finden. Dann kehrten ihre Gedanken zu dem Jungen vor der Bibliothek zurück, zu ihrer Hoffnung und Verzweiflung. Und in diesem Moment beschloss sie, nicht mehr überall nach Nolan Ausschau zu halten; es musste aufhören. Falls er irgendwo dort draußen wäre – wovon sie nicht überzeugt war –, dann könnte er sie mühelos ausfindig machen, wo immer er sich aufhielt und was immer er ansonsten tat. Nach dem Washington-Trip hatte sie sich sechs Jahre lang am selben Ort aufgehalten. Sie war nicht gereist, hatte selten den Zehn-Meilen-Radius um das Haus ihres Vaters verlassen. Aber das würde sich nun ändern.

    Am frühen Morgen rief Robert sie in sein Arbeitszimmer. Sie glaubte, er wolle mit ihr über die Torte reden, sich vielleicht entschuldigen, aber als sie sich auf den hochlehnigen antiken Stuhl setzte, den Marnie bei einer Haushaltsauflösung gekauft hatte, hob er zu dem Vortrag an, den er Lucy jedes Jahr um diese Zeit hielt. »Als ich so alt war wie du, war ich verheiratet, hatte eine Hypothek und war zum Leiter der Kundenberatung befördert worden. Ich überlegte, mich selbstständig zu machen und Kinder in die Welt zu setzen. Ich hatte Pläne.«

    »Ich habe auch Pläne«, sagte Lucy.

    »Die würde ich gerne hören.« Robert verschränkte die Finger und lehnte sich in seinen schwarzen Bürosessel zurück. Der Mahagoni-Schreibtisch nahm das halbe Zimmer ein, trotzdem wirkte ihr Vater dahinter nicht klein. Im Gegenteil, der Schreibtisch hatte Puppenhausgröße, und Robert war der Riese.

    Sie wusste, was er dachte. Hier war sie, vierundzwanzig, in der Blüte ihres Lebens. Sie sollte auf eigenen Beinen stehen, sollte tun, was vierundzwanzigjährige Frauen eben tun. Die Welt bereisen, mit älteren Männern schlafen, einen Einstiegsjob bei einem Fortune-500-Unternehmen haben, ihren Chef bezirzen, berufliche Erfolge sammeln, in Bars und Clubs gehen, auf Underground-Rockkonzerte, neue Leute treffen, tanzen, trinken, Erfahrungen sammeln. Robert wollte nur das, was jeder Vater für seine Tochter wollte. Berufliches Fortkommen. Ausreichend Geld für ein sorgenfreies Leben. Eine erfüllende Liebesbeziehung. Er wollte sie glücklich sehen. Doch er schien nicht zu begreifen, wie leicht ein Mensch hängen bleiben konnte. Es gab so viele Sackgassen im Leben, so viele falsche Schritte, die man versehentlich tun konnte, so viele Abwege, und das alles und noch viel mehr lähmte sie. Es war sicherer, sich nicht vom Fleck zu rühren. So konnte man sich nicht verirren.

    Auf dem Schreibtisch stand eine große Bronze-Statue, ein Weißkopfseeadler mit ausgebreiteten Schwingen, die Krallen um einen Ast geschlossen. Lucy schaute auf die Statue, statt ihren Vater anzusehen, als sie sagte: »Hast du mal wieder mit Detective Mueller gesprochen?«

    Robert beugte sich vor und verschob die Statue ein wenig, sodass der Sockel nun genau mit der Tischkante abschloss. »Du weißt doch, wie es läuft. Wenn es etwas Neues gibt, rufen sie an.«

    »Aber wir können doch auch anrufen.« Sie wusste, dass es verschwendete Zeit wäre. Der Detective würde ihnen das Gleiche erzählen, was er von Beginn an erzählt hatte. Ohne neue Spuren, Hinweise, einen neuen Augenzeugen wären sie in einer Sackgasse und könnten nichts anderes tun, als abzuwarten. Manche Vermisstenfälle würden sich Jahre später aufklären. Manche würden nie aufgeklärt. Oft hing es von ein wenig Glück und dem richtigen Timing ab.

    »Ich habe dich nicht hereingerufen, um über deinen Bruder zu reden.« Robert stützte die Ellbogen auf die Tischplatte. Er musterte sie stirnrunzelnd, überlegte, welchen Fehler er mit ihr gemacht hatte, wie er an so ein Versagerkind hatte geraten können, an zwei Versager, wenn man Nolan dazuzählte.

    »Wir wollen nur das Beste für dich, Luce«, sagte er.

    Wobei »wir« er und Marnie waren. Als würde deren Meinung zählen, als ob sie mit ihren neunundzwanzig Jahren so viel mehr Lebenserfahrung besäße als Lucy.

    »Vielleicht hätte ich strenger mit dir sein sollen«, sagte er. »Aber ich weiß, wie schwer es für dich war, und ich wollte dir Zeit zum Trauern lassen – und um dir Gedanken über deine Zukunft zu machen. Ich denke, das habe ich getan. Ich denke, ich habe dir mehr als genug Zeit gegeben. Und da Marnie und ich nun bald heiraten … tja, sie findet …« Robert verschränkte die Finger. »Wir halten es für den richtigen Zeitpunkt.«

    Lucy versuchte zu begreifen. Der richtige Zeitpunkt wofür? Ihr schauderte bei der Vorstellung, wie eine hochschwangere Marnie durch das Haus watschelte, oder so tun zu müssen, als würde sie sich auf das neue Geschwisterchen freuen, das ihr nicht einmal ansatzweise den verlorenen Bruder ersetzen würde.

    »Bis Ende des Monats kannst du natürlich bleiben«, sagte Robert. »Weihnachten verbringst du noch bei uns. Und wenn du möchtest, helfen wir dir mit der Kaution und der ersten Monatsmiete. Sozusagen als Einweihungsgeschenk für dein erstes eigenes Apartment.«

    Er setzte sie vor die Tür. Sie hatte es kommen sehen. Sie war überrascht, dass es nicht längst geschehen war, etwa als sie gleich im ersten Jahr das College geschmissen hatte. Dennoch traten ihr Tränen in die Augen.

    »Außerdem solltest du dir demnächst einen neuen Job suchen.« Zumindest dieser Teil schien ihm leidzutun. »Eine richtige Arbeitsstelle. Etwas mit einem guten Gehalt und vernünftigen Sozialleistungen. Du kannst deinen Minijob bei mir natürlich behalten, falls du das Extrageld brauchst. Aber ich glaube, es wird dir guttun, mal rauszukommen und zu sehen, wie die Dinge im Rest der Welt laufen.«

    Was hätte sie anderes tun können? Sie hatte seinem Plan zugestimmt und höflich gelächelt, dann hatte sie ihre Laufschuhe geschnürt und war in den Park am Ende der Straße gerannt.

    Zehn Jahre lang hatte Robert sie vor der erbarmungslosen Neugier der Öffentlichkeit geschützt, ihr erlaubt, sich vor ihren Erinnerungen zu verstecken, einer verworrenen Vergangenheit, die sie nicht mehr verstand – falls sie sie überhaupt je verstanden hatte. Zehn Jahre lang hatte sie sich verkrochen, alles verdrängt, versucht, nicht an Nolan zu denken, an die Nacht, in der er verschwunden war. Zehn Jahre lang hatte sie gehofft, jemand würde das Rätsel schließlich lösen. Vergebens. Niemandem war es gelungen, einen konkreten Anhaltspunkt zu liefern, und ihre Hoffnung hatte sich in Verzweiflung verwandelt, eine dornige Ranke, die ihr Herz umschlang und es langsam ausbluten ließ.

    Lucy erreichte das Ende des Pfads, drehte um und lief zurück. Im ersten Jahr auf der Highschool war sie dem Leichtathletik-Team beigetreten, um einen Jungen zu beeindrucken, von dem sie gedacht hatte, dass sie ihn für immer lieben würde. Ein paar Mal hatte sie es sogar aufs Treppchen geschafft, aber ein Star wie Patrick war sie nicht geworden. Keiner von ihnen. Er war ein geborener Läufer, war immer Erster, egal ob beim Training oder bei Wettbewerben, während sich die anderen die Lunge aus dem Leib hechelten. Nach Nolans Verschwinden hatte sie den Kontakt zu ihren alten Freundinnen und Freunden verloren, ebenso wie zu Patrick, doch mit dem Laufen hatte sie weitergemacht – die einzige Liebe, die ihr geblieben war.

    Merkwürdig, wie deutlich sie sich an manche Dinge erinnern konnte, während anderes vor ihrem inneren Auge verschwamm, im Nebel der Jahre verblasst oder schlicht der Vergessenheit anheimgefallen war. Der Tag, an dem Nolan verschwunden war: Sie wusste noch genau, wann sie an jenem Morgen aufgewacht war, was sie zum Frühstück gegessen und wann sie das Haus verlassen hatte. Doch wie sie nachts nach Hause gekommen war – mehrere Stunden schienen wie ausradiert, komplett aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Zwar erinnerte sie sich, was sie den anderen nach seinem Verschwinden erzählt hatte, doch manches hatte sie einfach nur so dahergeplappert, einfach um irgendetwas zu sagen, um nicht wie eine Idiotin dazustehen, die sich plötzlich nicht mehr an ihren Tagesablauf erinnern konnte. Wie auch immer, die Erinnerung an das, was wirklich geschehen war, würde ihn auch nicht zurückbringen, wenngleich sie sich manchmal Was, wenn doch? fragte.

    Ein paar Dinge wusste sie ganz sicher, durch Zeugenaussagen und Beweismittel erhärtete Fakten, an denen es nichts zu rütteln gab. Ja, genau so ist es passiert.

    Am fünften Dezember 1999 hatte der sechzehnjährige Nolan Durant sein Elternhaus verlassen, mit einem Rucksack, in dem sich Klamotten, Proviant, seine Zahnbürste und mehrere Hundert Dollar in bar befunden hatten. Er war nie zurückgekehrt. Vier Tage später, am neunten Dezember, hatte Nolans Mutter ihn beim Inyo County Sheriff’s Department offiziell als vermisst gemeldet, nachdem ihr klar geworden war, dass Nolan sich weder bei seinem Vater noch bei Freunden aufhielt und auch nicht irgendwo allein in der Wüste zeltete. Nachrichtenagenturen und Zeitungen wurden informiert. Ein paar Tage später meldete sich ein Nachbar der Durants, Mr. Stuart Tomlinson, bei der Polizei und gab zu Protokoll, dass er am fünften Dezember gegen Mitternacht Schreie gehört und vom Fenster aus gesehen habe, wie Nolan jemanden in seinen Pick-up schubste und dann mit kreischenden Reifen losfuhr. Über diese zweite Person konnte er allerdings nichts Genaueres sagen – es sei zu dunkel gewesen, und von seiner Position aus habe er sie nicht richtig erkennen können. Er wusste nur, dass Nolan mit seinem Pick-up davongefahren und nicht allein gewesen war. Vielleicht hätte die Polizei unter anderen Umständen intensiver ermittelt. Vielleicht wäre alles ganz anders gelaufen, wäre Nolan ein Mädchen oder erst sechs Jahre alt gewesen. Doch das Sheriff’s Department, das aufgrund der bevorstehenden Feiertage ohnehin unterbesetzt war, wurde plötzlich mit panischen Anrufen wegen Y2K, des befürchteten Computerchaos zur Jahrtausendwende mit möglichen Netzausfällen, bombardiert, und so wurde Nolans Fall erst einmal auf Eis gelegt, bis sich drei Wochen später ein Wissenschaftler vom Owens Valley Radio Observatory meldete, um ein herrenloses Fahrzeug zu melden, das unweit des Observatoriums abgestellt worden war. Es handelte sich um einen marineblauen GMC Sierra, Baujahr 1989, exakt dasselbe Fabrikat und Modell, das Nolan gefahren hatte. Im Nu hatte die Polizei das Kennzeichen überprüft und ihn als den Halter des Fahrzeugs identifiziert.

    Der Pick-up stand auf dem Randstreifen der Leighton Road, weniger als hundert Meter von den Radioteleskopen entfernt. Die Türen waren zu, aber nicht verschlossen. Der Tank war noch zu einem Viertel voll. Der Schlüssel steckte im Zündschloss, aber Nolans Rucksack, sein Portemonnaie und das Geld waren verschwunden, woraus die Polizei den Schluss zog, dass er die Stadt aus freien Stücken verlassen hatte. Außerdem wurde noch etwas in dem Fahrzeug gefunden, wovon die Öffentlichkeit aber nie erfuhr. Am nächsten Morgen war ein Officer bei Lucy und ihrer Mutter vorbeigekommen; er hatte einen Asservatenbeutel dabei, in dem sich ein schwarz-weiß marmoriertes Notizbuch befand. Als er fragte, ob sie das Buch kennen würden, begann Sandra unkontrolliert zu schluchzen, sodass Lucy gezwungen war, anstelle ihrer Mutter zu antworten. Es war Nolans Notizbuch, ein Journal, das er überallhin mitnahm, um sich akribisch Notizen über UFO-Sichtungen und Dinge zu machen, die er »Phänomene« nannte. Der Beamte zog ein Paar Plastikhandschuhe über, ehe er das Buch aus dem Beutel nahm, und zeigte ihnen den letzten Eintrag. An die genauen Worte konnte sich Lucy nicht erinnern, aber in etwa hatte dort gestanden, dass seine Welt komplett aus den Fugen geraten war, er zwischen Fantasie und Realität nicht mehr unterscheiden konnte. Nur an die letzte Zeile erinnerte sie sich genau. Er hatte den Stift so fest aufgedrückt, dass die Seite eingerissen war. Tut mir leid.

    Niemand außer Lucy, ihren Eltern und den zuständigen Ermittlern kannte diesen letzten Eintrag. Die Medien wussten nichts davon, doch das Notizbuch lag nach wie vor, wenn auch längst vergessen, zusammen mit den anderen Funden der Spurensicherung in einem Karton in einer Asservatenkammer.

    Nachdem Nolans Pick-up entdeckt worden war, hatte die Polizei die Gegend um das Observatorium durchkämmt, aber nichts von Interesse gefunden. In der Nacht seines Verschwindens hatte es ein Gewitter gegeben, und auch in den folgenden Tagen hatte es mehrmals wie aus Eimern geschüttet, und alles, was die Polizei womöglich weitergebracht hätte – Fußabdrücke, Reifenspuren –, war von den Regengüssen fortgespült worden. Die Polizei hängte Suchplakate auf und bat um Mithilfe, und eine Zeit lang war Nolan Stadtgespräch. Die Leute spekulierten, stellten ihre eigenen Theorien auf. Manche glaubten an Selbstmord. Andere argwöhnten, er habe sich einer Sekte angeschlossen. Steckte ein schiefgegangener Drogendeal hinter Nolans Verschwinden, ein Bandenmord, war er in einem Zeugenschutzprogramm? Die meisten gingen davon aus, dass er tot war. Eine Hellseherin verlangte tausend Dollar für eine Botschaft von Nolans gequälter Seele. Dann kam endlich ein Hinweis; jemand schwor Stein und Bein, ihn quicklebendig in Reno gesehen zu haben. Nichts davon entsprach der Wahrheit. Niemand wusste etwas, und wie es mit Spekulationen nun einmal so ist, begannen sich die Leute schließlich zu langweilen. Insbesondere, weil es keine Leiche gab, keinerlei Anhaltspunkt für ein schreckliches Verbrechen, für überhaupt irgendein Verbrechen. Und Nolan war ohnehin immer ein Außenseiter gewesen.

    Die Medien wandten sich anderen Geschichten zu. Dann fing jemand an, fliegende Untertassen auf die Suchplakate zu malen, Nolan mit Fühlern und Strahlenwaffe zu versehen. Bald darauf wurden die Plakate abgenommen und weggeworfen. Schließlich gab die Polizei auf und erklärte schulterzuckend, nach Stand der Beweislage sei Nolan höchstwahrscheinlich schlicht ausgerissen. Über kurz oder lang würde er schon wieder zu Hause auftauchen; vielleicht auch nicht, aber das sei dann eben seine Entscheidung. Sie begannen sich wieder auf andere Fälle zu konzentrieren. Ende Januar verschwand eine hübsche blonde Frau, Mutter zweier kleiner Kinder, und der Rest der Welt vergaß Nolan. Robert gab sich mit der Erklärung der Polizei zufrieden und hörte auf, jeden Tag auf dem Revier anzurufen. Sandra aber weigerte sich zu glauben, dass Nolan sich einfach so aus dem Staub gemacht hatte. Er war ein guter Junge, der seine Familie liebte. Sie heuerte einen Privatdetektiv an und rief eine Website ins Leben, um das Interesse der Öffentlichkeit an Nolans Fall wachzuhalten. Aber sie konnte nicht mehr schlafen und begann zu trinken, und schon im Februar war es ihr unmöglich, länger ihren Pflichten als Mutter nachzukommen. Im März zog Lucy nach Los Angeles zu ihrem Vater und versuchte, den schlimmsten Tag ihres Lebens irgendwie zu vergessen.

    Das waren die »Fakten«. Die Dinge, die Lucy sich nicht in Erinnerung zu rufen brauchte, weil sie in den Polizeiakten festgehalten waren und sie jeder im Internet finden konnte. Und der Rest? Die Dinge, an die sie sich nicht erinnern, die vagen Bruchstücke, die sie nicht zusammensetzen konnte, die flüchtigen Bilder, die ihr mehr wie ein Traum denn wie Realität vorkamen? Sie waren der Grund, warum sie sich regelmäßig die Seele aus dem Leib joggte.

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    Lucys Handy vibrierte. Sie ignorierte es, nahm weiter Shirts und Blusen von Kleiderbügeln und warf sie auf drei verschiedene Stapel. Behalten, Altkleidersammlung, Müll. Erstaunlich, wie viel Zeug sich in null Komma nichts ansammelte, selbst wenn man gar keine Modepuppe war. Sie hätte sich natürlich einen Transporter mieten, all ihre Habseligkeiten darin verstauen, den ganzen Kram in einem Studio-Apartment unterbringen und den Rest irgendwo einlagern können. Aber das erschien ihr doch etwas zu viel Aufwand für lauter Dinge, die sich problemlos ersetzen ließen. Abermals vibrierte ihr Handy und begann dann zu klingeln. Sie nahm es vom Bett. Eine weitere Nummer, die sie nicht kannte. Den ganzen Morgen über hatte sie einen Anruf nach dem anderen erhalten und irgendwann aufgehört zu zählen. Sie schaltete auf Voicemail und widmete sich wieder ihren Sachen.

    Sie hatten ein ruhiges Weihnachten verlebt, sich morgens gegenseitig beschenkt, bevor Robert und Marnie nach San Diego gefahren waren, um übers Wochenende mit Marnies Eltern zu feiern. Lucy hatte die meiste Zeit allein verbracht, es sich auf dem Sofa bequem gemacht, alte

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