Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Mein Sonntag in Münster: Science-Fiction-Erzählungen 1978–2014
Mein Sonntag in Münster: Science-Fiction-Erzählungen 1978–2014
Mein Sonntag in Münster: Science-Fiction-Erzählungen 1978–2014
eBook396 Seiten5 Stunden

Mein Sonntag in Münster: Science-Fiction-Erzählungen 1978–2014

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Es fällt mir ein wenig schwer, von all dem zu erzählen. Aber dennoch – es ist so: Seit über zehn Jahren, seit ich in Münster lebe, treffe ich sie jeden Sonntag. In der Regel am Nachmittag, und sie ist, wie ich verlässlich weiß, von einem fremden Planeten. Ich erinnere mich: Vor einigen Jahren habe ich einmal gefragt: "Woher kommst du?" Damals habe ich gesagt: "Deine Heimat muss viele Lichtjahre von der Erde entfernt sein. Unsere Astronomen hätten sie sonst ja längst entdeckt." Sie hat darauf nur geantwortet: "Mach' dir darüber keine Gedanken. Entfernung und Zeit, das sind irdische Begriffe. Für uns liegt die Erde sozusagen – direkt um die Ecke. Verstehst du?" (Mein Sonntag in Münster)

Diese Zusammenstellung enthält alle Science-Fiction-Geschichten, die Werner Zillig zwischen 1978 und 2001 veröffentlicht hat. Und dazu eine für diesen Band geschriebene Erzählung, die den ›Sonntag in Münster‹ abschließt und erklärt.
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum13. Juni 2017
ISBN9783957659590
Mein Sonntag in Münster: Science-Fiction-Erzählungen 1978–2014

Mehr von Werner Zillig lesen

Ähnlich wie Mein Sonntag in Münster

Ähnliche E-Books

Science-Fiction für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Mein Sonntag in Münster

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Mein Sonntag in Münster - Werner Zillig

    Die Finger im Licht

    »Hier bist du verloren!«, sagte er.

    Er trat auf mich zu, als ich versuchte, durch die Tür zu gehen. Er wollte mich nicht einlassen. Er versuchte, mich durch seine Worte am Weitergehen zu hindern. Er trat mir in den Weg, als ich dennoch weiterging. Ich sagte ihm nur den einen Satz. Ich sagte ihm, ich sei nicht der, den er sehe, ich sei überhaupt nicht da. Er schaute mich starr und ohne Verständnis an. Ich ging an ihm vorbei.

    Der Raum ist leer. Er ist so vollkommen leer, dass es mir jetzt, nachdem ich mich zwei- oder dreimal gedreht habe, unmöglich ist zu sagen, woher ich gekommen bin. Ich drehe mich um, ich suche. Ich höre ein Lied. Das hat man an dem Feuer gesungen, in dem ich verbrannt bin. Das Lied weist mir keinen Weg. Ein Bündel Papier fällt ganz langsam auf einem schräg gestellten Kissen, gleitet mit einem kratzenden Geräusch, das ihm Leben eingibt. Auch das unbeschriebene Papier weist mir keinen Weg. Das Papier, auf dem Worte geschrieben sind, ist nur beschrieben, um mich zu verwirren. Die Tür ist ins Schloss gefallen. Sie ist von der Wand aufgenommen worden. Die Tür gibt es nicht mehr. Es gab nie eine Tür, es wird keine Tür geben. Aber ich bin stark genug, dieses Wissen zu ertragen, und ich suche nach der Tür, durch die ich gekommen bin und die es trotzdem nicht gab und nicht gibt und nicht geben wird. Der Raum ist dunkel, so dunkel, als gäbe es kein Licht. Es flackern nur Gedanken auf, ich denke an das Feuer, in dem ich verbrannt bin. Und ich glaube, zu leben.

    Ich habe hierher kommen müssen, ich hatte nie eine Wahl. Der Mann vor der Tür war der Letzte, der mich hätte aufhalten können, aber er war nicht unüberwindlich. Er war nicht unbezwingbar, ja, er war nicht einmal stark. Er hatte die Gewissheit, und ich nahm sie ihm, und er verging. Draußen, außerhalb des Raumes, haben sie immer gewusst, dass es, steht man vor einer Tür, möglich ist, einzutreten oder wegzugehen.

    Aber Wissen ist nichts. Es gibt diese Möglichkeit nicht, was hätte ich tun sollen? Ob ich aus einer Höhle komme oder von einem Berg, ob ich blind bin oder halb sehe, es gibt keinen anderen Weg. Ich bin in einem Raum und war nie außerhalb des Raumes. Ja, ich rede von draußen, aber warum eigentlich? Ich könnte von Städten reden, von den Menschen und ihren Gesichtern, ihren Haaren. Ich könnte von den Steinen reden. Aber alles ist draußen, nicht hier. Und dennoch: Nichts ist draußen, überhaupt nichts. Es ist nicht leicht zu sprechen. Wie schlägt man ein Licht, wenn man weiß, dass es kein Licht gibt? Es ist schwer, ein Wort zu sagen, ein Wort zu schreiben, wenn man weiß, dass es in einem Raum steht, den es nie verlassen wird.

    Hier geschieht nichts. Hier lohnt es sich nicht, einen anderen zu kennen. Hier kann nichts heraus, und hier kann nichts herein. Hier gibt es nichts, worin ich mich betrachten könnte. Es gibt keine Spiegel. Es gibt die Erinnerung an das Feuer.

    Ich kenne ihren Unglauben.

    Ich kenne ihren Unglauben, und deshalb habe ich ihre Gesichter aufgesetzt, wenn ich auf die Straße ging. Nun gibt es die Straßen nicht mehr, und weder Unglaube noch Glaube existieren. Es gibt die Furcht, aber die ist nicht in diesem Raum. Jahrelang bin ich durch sie hindurchgegangen, seit dem Tag, an dem er mich von der Tür abzuhalten suchte. Aber es gibt den Mann vor der Tür nicht.

    Zuerst ging ich mit ausgestreckten Händen, weil ich erwartete, an eine Wand zu stoßen. Jetzt gehe ich immer noch, doch ich strecke die Hände schon lange nicht mehr aus. Ich wollte, ich liefe gegen eine Wand. Ich wollte, ich zerschlüge mir daran mein Gesicht, ganz.

    Irgendwo steht auf einem runden Tisch, auf dem ein rotes Wachstuch liegt, eine braune Limonadenflasche, ein kleines Blechgefäß mit Curry gefüllt, ein Band von Marcel Prevost, Lettres à Françoise, ein weiteres Buch. Eine Anzahl von Zetteln liegt neben einem niedrigen Glas. Vielleicht steht auf einem dieser Zettel, dass ich M. nicht kenne. Auf einem jedenfalls habe ich einen Satz, ein Zitat geschrieben, überflüssigerweise.

    Und ich gehe. Und es gibt nicht den Tisch und nicht den Satz. Es gibt keine kleine Tänzerin, die in einem Loch aus Licht eine sehr schnelle Pirouette versucht, mit ausgebreiteten Armen. Diese Arme reichen in das Dunkel.

    Ich habe gerufen. Ich wollte durch ein Echo, durch die Rückkehr meiner eigenen Stimme aus der Ferne eine Wand spüren, ein Ende. Nirgendwo stieß meine Stimme an eine Wand, nirgendwo war ein Hindernis.

    Ich lache oft jetzt. Mein Lachen ist ein dauerndes Rufen, das mich nicht anstrengt. Mein Lachen wartet auf kein Echo. Das ist das Entscheidende.

    In diesem Raum gibt es keine Wege. Überall ist der Weg, ein sorgfältig geebneter Weg ohne Steine. Nicht das kleinste Hindernis steht mir im Weg.

    Der Raum: An einem Abend bemerke ich überrascht, dass eine der beiden Glühbirnen meiner Lampe nicht mehr brennt. Ich gehe zur Lampe und versuche, die Birne fester in die Fassung zu drehen. Ich spüre, dass sie fest darin steckt. Aber sie brennt dennoch nicht. Ich nehme die Birne heraus und lege sie ans Ohr. Ich vernehme ein kleines, dünnes Geräusch, das immer weiter bestehen wird, ohne Ende. Von nun an wird mich dieses Geräusch begleiten. Ich denke daran, dass die zweite, jetzt noch intakte Glühbirne auch kaputtgehen könnte. Dann wäre es plötzlich finster, und anstelle des Lichts träte ein doppeltes kleines Geräusch. Dann wäre die Tür endgültig verschlossen, keiner könnte sie mehr öffnen. Die Vorhänge vor dem Fenster blieben zugezogen, keiner könnte sie mehr bewegen.

    Meine Bücher, in denen ich nicht mehr lesen könnte, rückten weiter und immer weiter von mir fort. Auch die anderen Gegenstände entfernten sich. Zuerst geschieht dies sehr langsam, dann immer schneller. Am Anfang brauche ich, um vom Tisch zu dem Sessel, der daneben steht, zu gelangen, eine Minute. Dann zwei Minuten. Irgendwann brauche ich einen vollen Tag. Das ist die Zeit, in der ich beginne, auf dem Fußboden zu schlafen, weil das Bett inzwischen so weit von mir entfernt ist, dass ich nicht mehr hinkommen kann, ohne unterwegs vor lauter Müdigkeit und Schwäche hinzufallen und einzuschlafen. Eines Morgens dann – ich nenne diese Zeit den Morgen, weil ich eben erwacht bin – gehe ich in die Richtung, in der ich meinen Sessel vermute. Und der Sessel, der bei meinem Einschlafen nur so weit von mir entfernt war, dass ich ihn, wenn ich meinen Arm ausstreckte, leicht berühren konnte, hat sich in der Nacht so weit entfernt, dass ich ihn nicht mehr erreiche. Der Abend ist die Zeit, in der ich müde bin. Als ich erwache und mich auf den Weg mache, habe ich jeglichen Orientierungssinn verloren. Ich gehe trotzdem, aber ich weiß jetzt, dass ich den Sessel nie mehr erreichen werde. Und auch der Tisch mit den nutzlosen Büchern darauf bleibt für immer unerreichbar. Die Kreisbögen zwischen Tisch und Bett werden mit jedem Tag größer, die Wahrscheinlichkeit, durch Zufall an einen Gegenstand zu stoßen, wird ständig geringer. Ich gehe dennoch.

    In meinen Gedanken habe ich mir den Freudenschrei ausgemalt, den ich ausstoßen würde, wenn ich plötzlich an den Sessel stieße oder sogar an die Wand. Doch mit der Zeit verblasst auch die Erinnerung an diesen erdachten Schrei. Das Geräusch der Glühbirnen wird immer lauter. Wie bei vielen leisen und sehr gleichmäßigen Geräuschen kann ich ein Lauter- und Leiserwerden in regelmäßigen Abständen bemerken.

    Im Zimmer war, daran erinnere ich mich noch, ein heller Teppichboden, die genaue Farbe habe ich vergessen. Jetzt, wenn ich niederknie und mit den Händen den Boden berühre, bemerke ich nicht die kleinste Rauheit. Selbst wenn ich mit einem Finger leicht über den Boden fahre, höre ich keinen Unterschied, in welche Richtung ich die Hand auch bewege. Also stehe ich auf und gehe weiter. Während ich gehe, rufe ich mir Gedichte oder Zeilen von Gedichten ins Gedächtnis. Die Erinnerung an ein Gedicht hält sich am längsten, doch auch sie vergeht mit der Zeit. Ich finde daraufhin in meinem Kopf nur noch Ausdrücke, von denen ich nicht mehr weiß, was sie bedeuten. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, was es heißt, mit der Diligence nach Drusenheim zu fahren. Ich bemerke, dass die Namen nicht mehr zählen, kein Wort hat mehr Sinn. Es ist nur noch eine alte Gewohnheit, die sich bis jetzt gehalten hat: Ich sage einen Satz, von dem ich glaube, dass er aus meiner Erinnerung aufgestiegen ist. Aber ich bin mir nicht mehr sicher. Ich erwache, ich gehe, ich werde müde, ich schlafe wieder. Und über allem, was ich tue, liegt das Geräusch der Glühbirnen. Oder ist das kein Geräusch?

    Und an einem Morgen erwache ich und habe geträumt, alles sei hell. In einem Raum mit lichten, grünen Wänden stehen die Gegenstände eng beieinander. Ich habe deutlich einen Tisch gesehen, ein rotes Wachstuch darauf, eine Glasschale stand in meinem Traum auf einem gelben Teppichboden. Ein Buch mit einem hellblauen Einband, in dem Buch steckte ein Küchenmesser als Lesezeichen. Der schwarze Griff des Messers war auf der Unterseite des Buches, dort wo die Zeilen in die nächste Seite springen, deutlich sichtbar. Ich sitze noch eine Weile da und denke benommen über meinen Traum nach. Ich kann keinen Wert darin entdecken, nichts, was mir in meiner Lage helfen könnte. Ich stehe also auf, strecke die Arme, die während der Nacht steif geworden sind, weit von mir und höre, wie die Gelenke der Ellbogen knacken. Ich spreize die Finger. Ich lasse die Arme wieder fallen. Meine ersten Schritte an diesem Morgen sind unsicherer noch als sonst. Ich bin noch unentschlossen. Am Morgen, beim Erwachen, denke ich immer noch, dass ich eine Richtung finden muss, für die ich mich entscheide. Ich muss, während ich laufe, das Gefühl haben, dass ich mich von der Mitte des Zimmers entferne. Ich drehe mich und habe nach kurzer Zeit das untrügliche Gefühl: Das ist die Richtung! Ich gehe weiter.

    Ich erlebe heute eine Überraschung. Ich gehe etwa in der Mitte der Zeit, die zwischen Morgen und Abend liegt, und spüre den Wind zuerst nur ganz leicht, sodass ich im ersten Augenblick glaube, ich hätte nur eine schnelle Bewegung gemacht. Aber der Wind wird bald stärker. Er ist kalt. Ich bleibe wie vor einem steilen Abhang stehen. Ich blicke mich um, ich starre in die Nacht. Meine Augen, die jetzt schon, während ich gehe, halb geschlossen sind, habe ich weit geöffnet. Der Wind macht meine Augen tränen. Und er wird immer stärker und immer kälter. Aber dennoch hoffe ich, dass der Wind bleibt. Vielleicht bin ich in ein Gebiet gekommen, in dem der Wind dauernd weht, immer aus der gleichen Richtung. Damit böte sich eine einfache Orientierungsmöglichkeit. Möglicherweise gibt es hinter dieser Stelle, an der ich jetzt bin, eine Region, in der es regnet, schneit, gefriert. Da müsste es also Wasser geben. Ich habe, seit ich vom Mittelpunkt weggegangen bin, noch keinen Tropfen getrunken. Erst jetzt merke ich, dass ich großen Durst habe. Ich versuche, diesen brennenden Durst zu löschen, indem ich den Mund öffne und den Wind hineinströmen lasse. Er kommt bis zu meinem Gaumen, fährt zwischen den Zähnen herum, unter die Zunge. Ich spüre den Wind immer deutlicher. Er ist eine Art Gefühl, ein Gefühl wie die Dankbarkeit, die ich früher immer gegenüber dem Zufall hegte.

    Der Wind wird mir die Richtung zeigen. Ich werde mich nicht mehr drehen, früh, wenn ich vom Boden aufgestanden bin. Ich werde einfach aufstehen und gegen den Wind gehen. Das ist die Richtung, von diesem Tag an. Ich greife mit meiner linken Hand in mein Haar. Es ist staubig. Der Wind wird den Staub in wenigen Tagen aus meinem Haar geweht haben. Die Haare werden sich mit der Zeit nach hinten legen und mir nicht mehr ins Gesicht fallen. Und da ich weiter und immer weiter gegen den Wind gehe, wird der Wind meine Haare eng an meinen Kopf pressen, sodass sie, auch wenn ich mich niederlege, um zu schlafen, wie ein Helm meinen Kopf umschließen.

    Ich beschließe, einen Tag lang zu laufen. Nicht zu schnell, nicht so, dass ich früher müde sein werde als an den anderen Tagen. Der Wind weht immer noch. Es ist nicht anstrengend zu laufen, jedenfalls wird es nicht viel anstrengender sein als das langsame oder schnelle Gehen. Am Abend werde ich müde sein, aber nicht müder, als ich es sein werde, wenn ich gehe. So, einen Fuß immer vor den anderen. Ja, ich werde laufen.

    Während des Laufens habe ich Zeit, daran zu denken, was ich tun werde, wenn ich die Wand erreiche. Ich gehe, berühre sie immerzu mit den Fingerspitzen. Ich gehe ganz langsam und bemerke plötzlich eine kleine Unebenheit. Meine Finger tasten jetzt ganz langsam weiter, noch langsamer als vorher. Sie betasten mit Ehrfurcht den Türrahmen und gehen weiter bis zum Türgriff. Wenn ich die Tür nicht an der Seite erreiche, an der sich der Griff befindet, muss ich mich erst über die breite Fläche, die die Tür bildet, vortasten. Die Tür wird nicht verschlossen sein. Ich öffne sie und verlasse diesen Raum, gehe auf die Straße. Vielleicht schneit es. Ich gehe zu einer Telefonzelle und stelle mich für eine Weile hinein. Anschließend schlendere ich weiter und merke, dass es langsam dunkel wird. Ich erkenne es an den Fenstern, die immer heller werden. Hinter diesen Fenstern sitzen Menschen und essen. Hinter einem Fenster mit zugezogenen Vorhängen badet ein junges Mädchen. Es ist Samstag, und in dieser Straße baden die Menschen an den Samstagen. Morgen wird Sonntag sein. Hier erleben die Menschen nach den Samstagen, an denen sie baden, einen Sonntag, Woche für Woche. Sie unterscheiden die Tage und sagen nicht nur: Tag, wenn sie gehen, und: Nacht, wenn sie schlafen. Ich gehe weiter und halte einen Schlüssel in der Hand. Ich habe ein Zimmer in einem Haus, am Ende der Straße. Ich habe Angst vor diesem Zimmer, und so gehe ich an dem Haus vorüber. Eine kleinere Straße führt nach rechts, und ich gehe nach rechts. Die Straße endet bald. Es gibt nur noch einen Feldweg anschließend. Die Straße, auf der ich mich jetzt befinde, führt zu den Hochhäusern. Sie ist leicht abschüssig, diese Straße. Am Schild, das dort steht, sehe ich, dass sie zwölf Prozent Gefälle hat. Ich gehe an den Hochhäusern vorbei und versuche mir vorzustellen, wie die Wohnungen hinter diesen Wänden aussehen. Dann wieder nach rechts, jetzt eine lange Straße entlang. Da bin ich wieder an der Telefonzelle. Am Ende der Straße habe ich ein Zimmer. Ich schließe es nie ab. Ich gehe in das Haus, öffne die Tür meines Zimmers, warte kurze Zeit und schließe sie dann hinter mir. Der Wind ist geblieben. Der Teppichboden trägt die Spuren des nassen Schnees, der mir schon vom Mantel getaut ist. Woran habe ich auf dem Weg hierher gedacht? Warum ist das Fenster offen, dass der Wind die Gardinen fast zerreißt? Ich habe einen Sessel, einen Stuhl, ein Bett und einen Tisch. Wann ist das Licht erloschen?

    Ich warte auf den Regen. Den Wind spüre und begreife ich nicht mehr. Der Wind treibt mir entgegen, dass es Regen geben wird. Ich gehe hastig jetzt, aber ich laufe nicht mehr. Der Regen kommt nicht. Ich werde mich bald zum Schlafen hinlegen. Hier, nach diesem Schritt, nach diesem Schritt muss ich mich hinlegen. Ich bin schon müde. Ich kann den Regen nicht mehr erreichen, heute nicht mehr. Ich setze eine Hand auf den Boden, um mich niederzulassen. Ich versuche, mich auf diese Hand zu stützen. Ich ziehe sie wieder zurück, denn ich spüre den Boden nicht. Meine Hand ist in Wasser eingetaucht. Als ich die Hand erneut ausstrecke, ertaste ich wieder Wasser. Ich vermute mich am Rande eines Sees. Es war nicht der Geruch des Regens, was mir der Wind zugetragen hat, es war der Geruch des Sees. Ich will sehen – fühlen, wo überall dieser See ist. Hier, hier, auch da. Ich bin sicher, dass ich mich bereits einmal um mich selbst gedreht habe. Überall war Wasser. Ich drehe mich weiter, Wasser, Wasser, überall. Ringsumher ist Wasser, aber ich stehe fest, ich habe noch Boden unter den Füßen. Ich strecke meine Hand abermals aus, um den Boden, auf dem ich stehe, zu ertasten. Meine Finger berühren meine Füße, kriechen über die Füße hinunter zum Boden und tauchen wieder in Wasser. Jetzt ziehe ich meine Hände an mich heran, berühre meine Füße. Ich kann meine Füße von unten her umfassen. Ich begreife: Ich stehe auf dem Wasser, das zwar meine Füße trägt, das aber meine Hände, meinen Rücken, meinen Kopf nicht tragen kann. Ich habe den Regen nicht gefunden, nein. Für die neue Gewissheit, dass es Wasser gibt, habe ich den Schlaf eingetauscht. Ich werde von nun an nicht mehr schlafen können, ohne zu versinken. Ich werde nie mehr schlafen, sondern nur noch gehen.

    Ein geröstetes Brot stelle ich mir vor, als ich weitergehe. Draußen vor dem Fenster liegt Schinken. Ich kann Gewürz über den Schinken und das Brot streuen. Unter dem Deckel der kleinen Dose, in der ich das Gewürz aufbewahre, sammelt sich immer ein Rest. Ich muss achtgeben, dass ich ihn nicht, wenn ich den Deckel abnehme, aus Unachtsamkeit auf das Brot fallen lasse. Es wäre zu viel für eine Scheibe Brot. Ich wünsche mir das Brot und kann mir diesen Wunsch erfüllen. Bin ich müde? Warum bin ich nicht ganz wach? Warum gehe ich weiter? Warum bleibe ich nicht stehen, lasse mich hier, gerade hier, nieder mit der Gewissheit: Ich werde versinken. Gibt es noch eine Erklärung? Gibt es eine andere Erklärung als die, dass ich nicht bloß der bin, der immer wieder aufsteht, ohne dass er weiß, warum er aufsteht? Ich freue mich unsäglich, wenn ich auf dem Weg fremde Worte sprechen kann, deren Herkunft ich nicht kenne. Die Worte sagen dennoch genau das, was ich sagen will. Ich habe alle Worte gefunden, die keine Sprache mehr haben, die sie aufnehmen könnte. Ich weiß nicht, wann es war, dass ich diese Worte gefunden habe. Plötzlich waren sie in mir, heute, gestern? Schon immer vielleicht, ich weiß es nicht. Das Wasser kam, und es war doch schon immer da.

    Die Wand wird kommen. Ich glaube daran, weil ich noch lebe. Ich lebe, weil ich noch daran glaube. Ich kann Brot, das ich gekauft habe, essen. Ich glaube daran. Ich kann sterben, weil ich lebe. Ich kann über die Straße gehen, weil die Straße wirklich da ist. Es muss die Straße geben. Der Geruch des Wassers liegt über meinem Wunsch. Ich esse das Brot. Ich rieche die Kälte. Das Geräusch fahrender Autos gefriert. Alles wird, während ich gehe, stehen bleiben und sich nicht mehr bewegen.

    Während der Tage besinne ich mich darauf, dass noch vieles zu tun bleibt.

    Ich bin müde, denn ich schlafe nicht mehr.

    Ich bleibe ein immerwährendes, gleichbleibendes Auge.

    Ich gehe über salziges Wasser. Das Meer trägt mich noch. Vielleicht schauen sie herüber, vom Ufer aus, und sehen mich wie ein dunkles Wunder. Ich kann ihnen nichts sagen. Sie sagen sich selbst, dass das, was auf dem Wasser geht, das sie nicht trägt, ein Wind sein muss und ein Gott. Sie umfassen die Knie und die Hüften derer, die über das Meer zu ihnen kommen. Sie weinen und bleichen unter den Tränen ihre Gesichter. Die Sonne macht die Tränen trocken.

    Ich aber, ich weiß, dass ich ihr Gefangener bin. Ich weiß, dass ich untergehe, wenn ich nicht mehr gehe. Die Wand wird alt sein, sie wird Wurzeln haben und Runzeln. Die Wand wird ein einziges Gesicht haben. Alle alten Gesichter zusammen werden diese Wand bilden. Die Worte werden nur noch die Bedeutung des Augenblicks haben. Sie der Zeit zu erhalten, ist zwecklos.

    Nur die Worte der Augen werden Bestand haben. Sie werden wieder denen gehören, die im flirrenden Licht auf das Wasser hinausstarren. Mit zusammengekniffenen Augen halten sie Ausschau. Stumm fragen sie sich, wann er auftauchen wird. Die Worte gehören jetzt nur noch denen, die auf das Wasser hinaussehen, den Wartenden.

    1978 Die Finger im Licht. Aus: Science Fiction Story Reader 10. Hrsg. von Herbert W. Franke. München: Heyne. (Heyne TB 3602). – Unter dem Pseudonym Heinrich Werner.

    Das Familientreffen

    Im Laufe des Nachmittags sind wir alle angekommen. Am Abend war die ganze Familie versammelt. Es ist mehr als fünf Jahre her, seit wir uns das letzte Mal getroffen haben. Bea, die Jüngste von uns, Siria, meine Lieblingsschwester, Gulo und Misra, die Zwillinge. Und ich, ich bin die Älteste von allen. Wir sitzen um den Kamin und sprechen leise miteinander, berichten von den Erfahrungen der letzten fünf Jahre. Zum Telefonieren fehlt meistens die Zeit. Gulo ist der Einzige, der jedes Jahr einmal jedem von uns einen Brief schreibt. Er ist aus Prestigegründen altmodisch, denn er handelt mit Antiquitäten. Im letzten Jahr kam sein Brief sogar versiegelt. Woher er den Siegellack hatte, weiß ich wirklich nicht. Vermutlich ist er ihm auf einer Auktion in die Hände gefallen. Das Petschaft hatte ein zierliches Wort in den Lack gedrückt: Gulo. Ob er auch mit derselben Frau gekommen ist, weil er uns beweisen will, dass seine Liebe zum Vergangenen vor dem Privatleben nicht haltmacht? Alle meine Schwestern haben neue Männer mitgebracht. Das heißt: Bea hat erstmals einen Mann dabei. Sie ist erst sechzehn. Er heißt Seno – oder Semo, ich weiß nicht mehr genau. Ein dunkelhaariger Knabe, vielleicht ein Jahr jünger noch als sie.

    Es ist spät geworden. Mutter sitzt in ihrem Stuhl, wir anderen auf dem Teppich zu ihren Füßen. Sie lächelt und fragt mit leiser Stimme, ob es nicht Zeit wäre, zu Bett zu gehen. Niemand widerspricht. Schließlich haben wir eine ganze Woche Zeit, um uns die Neuigkeiten zu erzählen. Wir beginnen also mit der Abendzeremonie. Die Männer begeben sich zu der dunklen Wand auf der Kaminseite und setzen sich dort nieder. Die Frauen sitzen ihnen gegenüber. Dugua, die Frau, die mit Gulo gekommen ist, hat als der Gast das Recht der ersten Wahl. Sie nimmt Seno. Seno – so heißt er also – lächelt, steht auf und geht zu ihr. Schade, ich hätte auch Seno genommen. Aber ich habe erst jetzt das Recht zu wählen. Ich wähle Gulo und nehme mir vor, ihn zu fragen, woher er den Siegellack genommen hat. Gulo glättet mit einer raschen Bewegung sein weites Gewand und kommt dann zu mir. Ich streiche ihm über das Haar, er lächelt und küsst mich auf die Wange. Ich bemerke, dass er exotisch duftet, vermutlich nach einem alten Parfüm, das er nach einem Originalrezept aus den Duftstoffen von kostbaren Blumen herstellen lässt.

    Es dauert nicht lange, und auch die anderen haben ihre Wahl getroffen. Auf Bea, die als Letzte ihren Mann für diese Nacht findet und der also im eigentlichen Sinne keine Wahl mehr bleibt, fällt Misras Mann, ein großer, blonder Bursche. Sie scheint mit dem Los nicht unzufrieden zu sein. Wir küssen Mama noch auf die Wange und ziehen uns dann in unsere Zimmer zurück.

    Durch die Papierwand, rechts neben meinem Bett, höre ich Beas leise Stimme, dann nur noch ihren Atem, der immer schneller wird, schließlich nur noch einen kleinen Schrei und ihr Stöhnen, das lange und tief nachklingt. Ich spreche noch ein wenig mit Gulo. Den Siegellack hat er tatsächlich auf einer Auktion ersteigert. Er hat vor, ihn bei einer Produktionsgenossenschaft in großem Stil herstellen zu lassen, und ist sicher, dass es ein Verkaufsschlager wird. Ja, Gulo ist ein geschäftstüchtiger Mann. Das Parfüm hat ihm Dugua geschenkt. Es ist synthetisch, allerdings sehr teuer. Die Hersteller bemühen sich, den Duft der Blumen völlig naturgetreu nachzuahmen. Nur bei den sehr teuren Markenartikeln gelingt das.

    Gulo ist ein guter Mann, ich habe ihn mit einer Art wehmütiger Stimmung gewählt, weil ich mich an die frühere Zeit erinnert fühle.

    Er war vierzehn Jahre alt, ich einundzwanzig, nein, zweiundzwanzig. Ich habe ihn genommen. Ja, ich war ein Jahr lang seine Lehrerin. Er war sehr begabt, wenn ich so sagen soll. Und seine Begabung ist in all den Jahren nicht geschwunden. Er will seine Zärtlichkeit nicht an das Geschäft verraten. Seine Hände streicheln noch immer mit kaum merkbarer Sanftheit über meinen Rücken, dass ich mich voller Verwunderung frage, wie man in aller Geschäftigkeit sich diese Sanftheit der Hände erhalten kann. O ja, ich liebe meinen Bruder Gulo! Während meine Begierde unter seinen Händen in viele einzelne Gefühle zerspringt, bin ich dem Zufall denkbar, dass ich neben Gulo liege. Wäre es nicht schön, ein Kind zu haben, das mich mit ebenso sanften Bewegungen streichelt? Doch ich werde kein Kind haben. Diesmal nicht.

    Manchmal stelle ich mir vor, dass es vielleicht für Fremde und für die Menschen vergangener Zeiten seltsam sein könnte, wenn sie unsere Form des Zusammenlebens in der heutigen Gesellschaft erlebten. Oder ist es nicht seltsam für jemanden, der vor zweihundert Jahren sein ganzes Leben mit ein und demselben Mann verbracht hat, zu sehen, dass jede Frau heute das Recht hat, zu jeder Zeit einen anderen Mann zu nehmen? Und auch die Folgen dieser Freiheit müssten sich für Fremde sehr seltsam ausnehmen. So, dass wir alle keine Väter haben. Das heißt: Natürlich haben wir alle einen Vater. Die eine oder andere weiß sogar einiges über den Mann, der sie gezeugt hat. Aber das ist natürlich unwichtig. Ich zum Beispiel weiß nicht, wer damals der Urheber meines Lebens war. Wozu sollte ich mich dafür interessieren? Meine Geschwister sind, wie man früher gesagt hätte, Stiefschwestern von mir. Gulo ist ein Stiefbruder. Da dies jedoch selbstverständlich ist, brauche ich es nicht gesondert zu betonen, und ich spreche deshalb von meinem Bruder Gulo und von meinen Schwestern Bea, Siria und Misra. Während ich meine Arme um Gulo lege, begreife ich plötzlich, warum Dugua immer noch mit Gulo zusammenlebt. Gibt es einen zärtlicheren und zugleich stärkeren Mann als ihn? Er hatte ja, ich muss es aufrichtig sagen, keinerlei Einfluss auf Duguas Entscheidung. Aber ich begreife sie, ja, ja, ich begreife sie. Und in aller Lust bin ich ein wenig stolz, denn ich war seine Lehrerin.

    Am nächsten Morgen sitzen alle anderen schon beim Frühmahl, als ich zusammen mit Gulo das große Zimmer betrete. Ehe ich mich auf die Frauenseite des Tisches begebe, küsst er mich auf die Wange und sagt, dass er mich liebt. Das ist der Morgengruß für mich wie für alle anderen, nichts weiter. Da wir nun vollzählig am Tisch sitzen, beginnt Mutter mit den Erläuterungen zum Ablauf des Vorbereitungstages. Zwar sind die wichtigen Ereignisse von vornherein festgelegt, aber unsere Mutter weiß sehr geschickt die kleinen, unwichtigen und der freien Entscheidung der Mutter überlassenen Möglichkeiten zu nutzen. So ist es selbstverständlich, dass das Vorbereitungsbad getrennt stattfindet. Dugua, meine Schwestern und ich baden vor den Männern. Aber ist es kein wunderbarer Einfall unserer Mutter, dass sie uns bittet, wir möchten den Mann bestimmen, der die Duftöle mischen soll? Natürlich gibt es viele fertig gemischte Öle. Will man das Bad des Vorbereitungstages individueller und kostbarer gestalten, so kann man auch nach einem Verzeichnis der Charakterprotokolle aller Teilnehmer ein eigenes Öl synthetisieren lassen. Viel aufregender aber ist es ohne Zweifel, wenn man einen Mann bestimmen kann, der sich ganz im Vertrauen auf sein Gefühl daranmacht, eine neue Mischung nur für diesen Tag zu erfinden.

    Traditionell beginnt das Frauenbad um die Mittagszeit. In einer längeren Beratung haben wir Seno dazu bestimmt, das Öl zu mischen. In seinem schmalen Gesicht konnte man die unterdrückte Freude sehen, als Bea ihm sagte, dass wir ihn erwählt hätten. Wie sich zeigt, hätten wir keinen Besseren als Seno finden können. Als wir den Baderaum betreten, liegt der Badeteich in einem smaragdfarbenen Grün da und es entströmt ihm ein fremdartiger Duft. Obwohl niemand während des Badens spricht, erkenne ich, dass auch meine Schwestern voller Begeisterung sind. Dugua, die neben mir steht, schließt die Augen und atmet lächelnd in tiefen Zügen ein. Alle lösen jetzt zugleich die Kordeln, die die schwarzen Badeumhänge am Hals zusammenhalten, wir legen einander die Hände auf die Schultern und schreiten mit kleinen Schritten hinab zum Wasser, auf dem in einer dünnen Schicht das dampfende Duftöl liegt. Das Wasser ist sehr heiß. Das Bad des Vorbereitungstages ist immer so heiß, dass es gerade noch ohne Schmerz ertragen werden kann. Senos Öl aber scheint die Hitze noch zu verstärken. Es ist kein Schmerz in dieser Hitze, nur dieser Geruch, der die Blumen eines riesigen Urwalds in diese kleinen Ölflächen zu vereinen scheint. Als wir bis zu den Hüften im Wasser stehen, beginnt aus den Wänden die Musik wie Nebel auf uns herabzusinken. Manchmal staune ich über diese kleine, kunstreiche Vorrichtung der Badezimmer, die aus dem Herzrhythmus und den Bewegungen der Badenden solch eindringliche und harmonische Töne formt. Ich, als die Älteste, habe die Aufgabe, den Tanz zu beginnen. Meine Arme schweben wie ohne mein Zutun von den Schultern Duguas und Misras herab und beschreiben eine weite Bewegung, die darin endet, dass ich die Arme vor der Brust kreuze. Damit löse ich eine Tonfolge des Synharmonicums aus. Wie eine nicht endende, fallende Harfenmelodie kommen immer neue Töne aus den Wänden, brechen sich in den Sensoren zu anderen und immer wieder anderen Arpeggien, die aufsteigen und uns alle im Verein mit dem Duft des Öls zu tragen scheinen. Meine Schwestern und Dugua ahmen meine Tanzfigur nach. Die Musik wird nicht lauter, nur dichter. Es sind mehr und feinere Ober- und Untertöne in der Luft. Und unmerklich nimmt das Synharmonicum, das die Melodie bisher ohne klare Gliederung geformt hat, die Schläge unserer Herzen und die Bewegungen unserer Körper auf und errechnet

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1