Lektüren in Sarajevo
Von Tiny Stricker
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Über dieses E-Book
Heinrich "Tiny" Stricker, der fünf Jahre dort lebte und arbeitete, besuchte besondere Orte, bekannte und unbekannte, die osmanische Altstadt von Sarajevo natürlich, aber auch Derwisch-Tekken und denkwürdige Cafés oder das "Kino Bosna", wo der ursprüngliche Sevdah, der Balkanblues, gespielt wird.
Er versteht es meisterhaft, Atmosphären und Stimmungen einzufangen, macht Lust, dieses eindrucksvolle, aber lange Zeit schwer zugängliche und immer noch zerrissene Land neu zu entdecken. Dazu liest er antike und orientalische Texte, die wie weise Kommentare klingen und wie von selbst überleiten zur Hauptsache: der "Lektüre" von Stadt und Land.
Tiny Stricker wurde bekannt durch Romane wie "Trip Generation" und "Soultime", aber auch sein Reisebuch "Vom Gehen in griechischen Städten" ist schon Kultlektüre geworden.
Die "Werkausgabe Tiny Stricker" präsentiert seine Klassiker und seine neuesten Werke in einer überarbeiteten Neu- und einer exklusiven Erstausgabe.
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Buchvorschau
Lektüren in Sarajevo - Tiny Stricker
(Hardcover)
Ein Vorspiel
Im Januar war ich für eine Nacht und einen halben Tag in Sarajevo gewesen. Wir waren mit gewaltiger Verzögerung wegen Schneefall aus Zagreb angekommen und fuhren, ohne die Stadt richtig wahrzunehmen, unter viel Gerede vom Flughafen direkt zum Seminar, das sofort losging. So plötzlich war die Ankunft, dass mir bei der Begrüßung der Name der Gastgeberin entfiel und ich sogar beim Namen der Stadt überlegen musste.
Mitten in der Nacht schaute ich aus dem Fenster des alten Hotel Europa, jetzt mit Touchscreen und anderen modernen Geräten ausgestattet, hinaus auf die verschneite, im Mondlicht daliegende Stadt. Man sah die große Moschee, den gedeckten Basar, den Uhrturm, der eine versunkene Zeit anzeigte, darüber die Glitzerketten der Berge … Sarajevo war in diesem Augenblick buchstäblich märchenhaft schön, man hätte hinausfliegen können. Das Bild ging unter in den Träumen, die ja auf Reisen besonders heftig sind, und am anderen Morgen begann wieder das Seminar mit seiner eigenen, alles überlagernden Wichtigkeit.
Gegen Mittag war die Veranstaltung zu Ende, und es blieb noch eine Stunde Zeit, sich freizumachen und »wegen eines Souvenirs« in die Stadt hinein zu laufen, bevor man zum Flughafen aufbrach. In der Basarstraße löste sich die Gruppe auf, da jedem etwas anderes gefiel. Ich erstand ein Kaffeetässchen und eine alte Postkarte und kam damit in den Vorhof der großen Moschee, die ich in der Mondnacht gesehen hatte. Durch den Schnee waren alle Gebäude miteinander verbunden, alles wirkte wie ein einziger, lang gestreckter Palast.
Ein Junge von fünf oder sechs Jahren thronte auf einem der kleinen Schneeberge im Hof neben dem Brunnen, und man sah ihm an, dass er ganz in seiner Traumwelt gefangen war, wobei »gefangen« eigentlich der falsche Ausdruck war, »darin aufgehend« wäre viel richtiger. Jedenfalls war er für die Außenwelt nicht verfügbar, man konnte dicht an ihm vorbeigehen, ohne dass er einen bemerkte. Der Schnee schien ihm ein formbares Märchenelement zu sein und die Vorhalle der Moschee mit ihren Säulen, Malereien und prächtigen Teppichen eine zauberhafte Anlage. Im Basar selbst waren wegen des Wetters nicht viele Menschen unterwegs, aber ein paar Zigeuner, die einen mangels anderer Besucher fast ansprangen. Auch dies betonte jedoch die märchenhafte Atmosphäre.
Ich weiß nicht, was mir in dieser Stunde durch den Kopf ging, jedenfalls war kurz darauf eine Stelle in Sarajevo ausgeschrieben. Da es hieß, dass die Stelle längst vergeben sei, bewarb ich mich mehr nebenbei darauf und dachte schon bald nicht mehr daran. Drei Monate später befanden wir uns auf Wohnungssuche in Sarajevo.
Die Ankunft – ein Zustand
Die Rubaijat des Omar Khajjam sind Vierzeiler. Oft »Sinnsprüche« genannt, bezeichnen sie doch eher Gedichte. Die ersten beiden Zeilen sind gereimt, erzeugen einen Gleichklang, eine scheinbare Gültigkeit, die Wiederkehr des Gleichen (dies noch konventioneller in der Übersetzung, denn gereimte Übersetzungen in der Absicht, geschmeidig zu sein, klingen fast immer gefällig konventionell). Die dritte Zeile ist wie ein Riss, ungereimt, ein neuer Gedanke, quer gestellt zum bisherigen Lauf der Dinge. Die vierte kehrt zum Reim zurück, aber jetzt verändert, integriert das Neue in das Leben.
Hinzu kommt, jedes Gedicht, jeder Vierzeiler steht für sich, bildet eine in sich geschlossene Monade, gewissermaßen von Leere umflossen. Die Sammlungen sind nach Zufallsprinzipien, z. B. alphabetisch geordnet (obwohl es Gedichte gibt, die sich aufeinander beziehen, ja sich gegenseitig umkehren). Nie sind sie thematisch arrangiert wie westliche Ausgaben Omar Khajjams. Auch diese Vereinzelung bedeutet ein Innehalten, kein vorschnelles Einordnen und »Ablegen« in irgendeine Thematik, sondern ein Nachdenken um des Gegenstands willen.
Text 130 der Insel-Sammlung mag als Beispiel dienen:
»Ich trinke nicht aus bloßer Lust am Zechen,
noch um des Korans Lehre zu durchbrechen,
nur um des Nichtseins kurze Illusion! –
Das ist der Grund, aus dem die Weisen zechen.«
Das Nichtsein, Nichtverhaftetsein in der Zeit, ihrer Hetze und Verplanung ist das Ziel dieser Verse.
Am frühen Abend des ersten Tages in Sarajevo, kurz nachdem wir uns gerade erschöpft niedergelegt hatten, ertönte plötzlich, aus einer Moschee direkt vor dem kleinen Hotel, der Muezzin, so laut, dass es uns fast aus den Betten trug, weithin tremolierend, aufsteigend, gefolgt, um eine winzige Zeitspanne versetzt, von anderen Muezzinstimmen im Talkessel und die Hänge hinauf, sich öffnend wie ein reich verzierter Kelch oder eine in hohen Bögen ausschwingende Rankenarchitektur, sodass wir minutenlang in diesem hallenden, zitternden Klang schwebend über der Stadt hingen.
Es war eine eigenartige Ankunft in Sarajevo gewesen. Alles sei bestens vorbereitet, hatte es geheißen. Ein Taxifahrer sollte uns mit einem großen Schild am Flughafen erwarten. Dementsprechend unvorbereitet waren wir angereist. Aber niemand war da. Wir hatten nur eine vage Adresse, von der wir wussten, dass sie an diesem Tag nicht besetzt war. Schließlich überließen wir uns einem Taxifahrer, der sich aus dem Schatten des Flughafens löste, einem langen, hageren, älteren Typ mit besenartigem Schnurrbart.
Wir sprachen kein Bosnisch, er weder Deutsch noch Englisch. »No problem, no problem«, wiederholte er (anscheinend die einzigen beiden Worte Englisch, die er kannte), in einer Art von Singsang, wie eine Amme, die Kinder beschwichtigt. Er ließ sich die Adresse geben und telefonierte mit seinem Handy mit irgendwelchem Wachpersonal. »No problem«, sagte er wieder und schließlich in ironischer Selbstübersteigerung »Balkan no problem«. Wir mussten alle drei herzhaft lachen, dass das Auto schaukelte. Später dachte ich, dass sich in diesem Moment alles beruhigte. In Ruhe betrachtete ich eine ländliche Ecke, an der wir vorbeifuhren und die mir ganz vertraut vorkam.
Elvir und Narcis
Finley zitiert gleich am Anfang seines Buchs eine simple Bemerkung von Aristoteles: »Oligarchie ist die Herrschaft zum Nutzen der Reichen, Demokratie die zum Nutzen der Armen …« Moses I. Finley war einer der Kulte gewesen, die aus unserer Zeit in Griechenland stammten. Das »Politische Leben in der antiken Welt« war aber zunächst eine Enttäuschung, nicht die allgemeine Abhandlung, die ich mir erhofft hatte, sondern eine Folge von Vorträgen für ein spezielles Publikum, voll inhaltlicher Sprünge, um das Thema nicht zu leicht und eingängig erscheinen zu lassen. In den Fußnoten findet eine kleine Schlacht zwischen Cambridge und Oxford statt. Dennoch las ich das Buch, das ich in einem Antiquariat gefunden hatte, mit einer gewissen Hartnäckigkeit gegen die ansteigende Sommerhitze, anstatt mich pflichtbewusst auf Sarajevo vorzubereiten.
Elvir und Narcis, unsere beiden Wohnungsmakler, mit denen wir fast eine Woche durch die Stadt fuhren, verhielten sich bald wie Reiche, bald wie Arme. In teuren Wohnungen, die sie mit uns betraten, benahmen sie sich wie Vertreter der vermögenden Klasse, redeten von Import und Export, beklagten die unklaren Besitzverhältnisse etc., in einfachen Häusern und vollends draußen auf den Straßen fühlten sie sich wieder als Arme und träumten vom Sozialismus.
Außerdem schienen sie, vielleicht unbewusst, gut verteilte Rollen zu spielen.
Narcis, der Beifahrer, ein hochgewachsener, feinfühliger Mensch, machte fast nichts. Wie Phaidros schien er hauptsächlich für die Schönheit oder die Betrachtung des Schönen zuständig. Er konnte die Wagentür aufreißen (seine einzige wirkliche Tätigkeit) und in eleganter Fortführung dieser Geste mit unterdrücktem »Look!« oder »How nice«, als wäre er selbst überrascht, die Heimstatt vor einem gleichsam ausbreiten, als eine Wunscherfüllung darbieten.
Er stotterte leicht. Dies wirkte aber eher als vornehme Zurückhaltung, bisweilen auch als Innehalten, Kontemplation, Ehrfurcht geradezu vor einem Stück Garten, einem Rosenspalier oder einem Ausblick über die Stadt. Auch die Worte, die er so aussprach, als würde er die Stimme im letzten Augenblick geheimnisvoll dämpfen, erschienen dadurch empfindsamer und kostbarer.
Wie er zum Beispiel, als der raue Hauswirt etwas von Kabelfernsehen murmelte, in den Raum hinein feierlich »Arte« sprach! Unnötig zu sagen, dass das Kabelfernsehen hier alle möglichen Sender, aber niemals »Arte« enthielt.
Elvir, untersetzt, mit struppigen Haaren, war das Gegenteil, der aktive, vorwärtsdrängende Part. Er fuhr das Auto, parkte und wendete ächzend in den engsten Gassen, telefonierte ständig, hantierte mit dem Schlüsselbund. Statt Kontemplation verkörperte er das pralle Leben, sagte Sätze wie »Der Sommer dauert hier fünf Monate« oder »Die Cafés sind mein Büro«. Wenn Narcis das Geschäft zu sehr aufhielt durch ästhetische Betrachtungen, sprach er hart von Wohnungsnotstand, schwieriger Jahreszeit, vorletztem Angebot etc. Auch Heizung, Wasser (alles, was später nicht richtig funktionierte) waren sein Thema.
Dennoch hatte Narcis die wichtigere Rolle. Er schien zu wissen, dass der Bezug einer Wohnung in einer fremden Stadt letztlich von Stimmungen abhängt. So konnte er kleine Begeisterungen mittragen, wie ein Feuer anfachen – einmal, nachdem er einen Seitenblick von meiner Frau bemerkt hatte, ließ er den Vermieter eine gelbe Rose abschneiden und sie ihr bringen, was fast zur Anmietung geführt hätte –, aber auch seine eigenen Gefühle mitteilen, indem er z. B. voll echter Inbrunst herausbrachte: »Oh, I love this kind of house.«
Draußen in den schmutzigen, verregneten Straßen (denn obwohl Elvir von Sommer und hohen Temperaturen sprach, war es oft unwirtlich und regnete fast ununterbrochen) bildeten die beiden wieder eine Einheit, stimmten ihr Klagelied an über das untergegangene Jugoslawien. Sie deuteten auf die verblichenen Schilder einstmals großer Unternehmen, die im ganzen sozialistischen Orient bekannt gewesen waren.
Mahalas und andere Zeitkapseln
Vielleicht lernt man die Stadt nie wieder so gut kennen wie bei der Wohnungssuche. Dies gilt umso mehr für Sarajevo, das trotz Korso und Straßencafés eine Stadt der Innerlichkeit, des inwendigen Lebens ist. Man geht in ein schäbiges Hochhaus mit Einschüssen, fährt in einem zittrigen Lift durch ein heruntergekommenes Treppenhaus voller Graffiti und betritt plötzlich eine schön gestaltete Wohnung. Auch war es gut, dass wir zu diesem Zeitpunkt von den Mythen, die die Stadt umgaben, noch wenig wussten.
Ähnlich den alten orientalischen Städten ist Sarajevo nichts als eine ins Land hineinragende Längsachse, um die sich die Gebäude gruppieren. Gleichzeitig ist es eine Zeitachse, zuerst im engen Talkessel das osmanische Sarajevo, dann Österreich-Ungarn und schließlich Jugoslawien … Bei der Wohnungssuche lernten wir die Teile kennen. »It’s a longitudinal city with time capsules«, sagte der Student mit