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Ich, Bertha Pappenheim
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eBook236 Seiten3 Stunden

Ich, Bertha Pappenheim

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Über dieses E-Book

Mit Bertha Pappenheim (1859–1936) begegnet uns eine der großen Gestalten der deutsch-jüdischen Geschichte. Zu Lebzeiten war sie eine Berühmtheit. Als streitbare Feministin gründete sie den Jüdischen Frauenbund und stritt mit Martin Buber über eine Reform des orthodoxen Judentums. Nach dem Ersten Weltkrieg beriet sie den US-Präsidenten Woodrow Wilson und initiierte beim Völkerbund den Kampf gegen den internationalen Mädchenhandel. Als mutige Aktivistin an vielen Fronten dabei, geriet sie dennoch nahezu in Vergessenheit. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Unter dem Kürzel Anna O. lebt Bertha Pappenheim im kulturellen Gedächtnis weiter. Es ist der ihr zugeschriebene Patientenname, unter dem sie – als kapriziöse "Hysterikerin" – zur Primadonna der frühen Psychoanalyse avancierte. Wie passen die zwei Leben zusammen?

Franz Maciejewski nimmt das Versatzstück der "Anna O." als das, was es ist: die schillernde Spitze eines Eisberges. Er macht sich dabei den Umstand zunutze, dass Bertha Pappenheim, schon als Patientin die Erfinderin der "Redekur", eine geniale Erzählerin war. Und so lässt er sie ihre Geschichte nach Art der Anna O. selbst erzählen. Es entsteht ein Bild von der Schönheit der Sittlichkeit, hinter dem aufblitzt, was Hannah Arendt treffend die "unzeitgemäße Aktualität" von Bertha Pappenheim genannt hat.
SpracheDeutsch
HerausgeberOsburg Verlag
Erscheinungsdatum23. Aug. 2016
ISBN9783955101244
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    Buchvorschau

    Ich, Bertha Pappenheim - Franz Maciejewski

    1911

    1.

    Womit anfangen? Nein, nicht mit dem A und O eines medizinischen Falls, das mir wohlmeinende Ärzte überstülpten wie eine Zwangsjacke. Viel lieber mit der Maskerade, die ich mit mir selber anstellte: Ich, Bertha Pappenheim, in der Tracht der Glückel von Hameln. Eine kleine Verrücktheit, die ich mir Mitte der 20er Jahre leistete, unter besonderen Umständen.

    Hannah war ein Jahr zuvor nach Frankfurt gekommen, um im Jüdischen Frauenbund mitzuarbeiten. Ihre Kompetenz und professionelle Einstellung überzeugten uns alle, vom ersten Tag an. Wie sie quasi aus dem Stand die Redaktion der gerade erst ins Leben gerufenen Blätter des Bundes betrieb, war einfach großartig. Aber das war es nicht, jedenfalls nicht allein. Nicht für mich. Mit Hannah kam ein neues Licht in unseren Kreis. Ein Licht, das aus ihren Augen sprang, das um ihren Mund spielte, wenn sie lachte. Es war ansteckend, dieses Lächeln, von einer überspringenden Lebendigkeit, die mich ergriffen und verjüngt hat. Ich wusste natürlich, dass es in den Zügen einer über Sechzigjährigen keinen Platz hatte. Aber eine Erinnerung half mir zu verstehen, was da mit mir vor sich ging.

    Ich hatte diesen Gesichtsausdruck schon einmal gesehen. Gesehen, aber nicht erlebt. Vor langer Zeit, als ich in Wien die katholische Mädchenschule besuchte. Eine der Nonnen zeigte uns Kindern eines Tages Leonardos Anna Selbdritt, als »frommes Bild mütterlicher Liebe« (wie sie es nannte). Dieses innige Ineinander der Hl. Anna mit ihrer Tochter Maria auf dem Schoß und dem Jesusknaben zu ihren Füßen. Das berühmte Leonardo-Lächeln auf den Gesichtern der beiden Frauen – Frauen ohne Männer, deren Altersunterschied der Künstler seltsamerweise nicht gelten ließ –, das war es, was ich bei Hannah wiedergefunden habe. Und was mir die Erinnerung als ein Wunschbild zurückgab.

    Ich habe Hannah geliebt für das starke Gefühl, in ihr eine Tochter an meiner Seite zu wissen, also eine Mutter sein zu dürfen, vereint in der Sorge um den weiteren Nachwuchs: die Kinder unseres Mädchenclubs, die Waisen und Zöglinge unseres Heims in Isenburg. Hannah kam mir nah wie keine. Sie half mir, daran zu glauben, dass ich meinen Platz gefunden hatte in der langen Reihe starker jüdischer Frauen. Und dann im Herbst diese verrückte Geschenkidee mit Blick auf meinen nächsten Geburtstag.

    »Wir möchten Ihnen zum Festtag ein Bild schenken, aber kein gewöhnliches. Wir wollen ein Porträt von Ihnen anfertigen lassen, ein Ölgemälde. Was meinen Sie?«

    Aus dem Mund von Hannah. Als hätte sie ihre Antwort auf meine geheime Bildphantasie gefunden. Sie, als Sprecherin, im Kreis der Mitarbeiterinnen. Ich, die Leiterin, von ihnen wie der zugehörige Mittelpunkt gleich weit entfernt. Ich war sprachlos und bat um Bedenkzeit. Der Stein war ins Wasser gefallen und zog unaufhaltsam seine Kreise. Ein wahrer Stein des Anstoßes, wie sich herausstellen sollte. Er zeigte mir Seiten, die ich glaubte, längst abgelegt zu haben. Die Vorstellung, in Öl gemalt zu werden, beflügelte nach und nach meine Phantasie. Ich ertappte mich, wie ich vor den Spiegel trat und mich nicht ohne Eitelkeit betrachtete. Wie ich das Modellsitzen probeweise durchspielte und mit mir selber ins Reden kam.

    »Endlich: die schönste Spitze, die funkelndste Kette. – Schlohweißchen braucht ein Haarnetz, besser eine Haube. – Achte auf deine Hände, die Linke mit dem alten silbernen Ring muss gut getroffen werden. – Gibst du die kluge Autorin, die kämpferische Feministin oder die ehrliche Haut der Erzieherin?«

    Ach! Ich kokettierte mit den sich anbietenden Posituren und Rollen, um unversehens an meinen Unsicherheiten und Unzulänglichkeiten zu verzweifeln. Wer war ich denn, die da verewigt werden sollte? Für wen um Himmels willen sollte ich posieren? Ich brauchte Wochen, bis ich mit mir ins Reine kam. Die Lösung des Dilemmas war ein Versteckspiel, bei dem sich der Wunsch, der Freude über das Geschenk nachzugeben, und die Angst, es könnte sich um ein vergiftetes Geschenk handeln, die Waage hielten. Aber dann stand mein Entschluss fest.

    »Hannah, ich bin bereit, mich malen zu lassen, aber nur unter einer Bedingung. Ich komme zu den Sitzungen in den Gewändern der Glückel von Hameln – Sie wissen schon. Als Wiedergängerin dieser großen Frau, die mir so viel bedeutet.«

    Ja, Hannah wusste, dass ich die Memoiren dieser Mutter Courage aus dem Jiddischen übersetzt hatte – und war von meiner Idee spontan begeistert. Keine Nachfrage, kein Kommentar. Ich war über die Maßen erleichtert. Dann erfuhr ich von ihr, dass die Mitarbeiterinnen ihrerseits die Zeit genutzt und einen namhaften Maler ausfindig gemacht hatten.

    »Kennen Sie Leopold Pilichowski?«

    Und ob ich diesen Mann kannte, den seine Freunde nur Pilich nannten. Vielleicht, weil er etliche seiner Bilder mit diesem Kürzel signierte. Hannah war noch nicht lange genug bei uns, um von dieser Freundschaft etwas mitbekommen zu haben. Es war einer dieser nervigen Frankfurter Journalisten, Katscher hieß er, den der liebenswerte Charles Hallgarten auf mich hetzte, um die Propaganda für unser geplantes Heim anzufeuern, dem ich die Bekanntschaft des Ehepaars Pilichowski verdankte. Von Pilich und Pillico, wie sich Leopolds Frau Lena nannte, auch sie Malerin. Nie werde ich den Augenblick vergessen, als ich den beiden als »Frl. Pappenheim« vorgestellt wurde. Und Pilich mit unnachahmlicher Nonchalance auf mich zutrat.

    »Gnädige Frau, es freut mich außerordentlich, Sie kennenzulernen.«

    Für die Gnädige Frau wäre ich ihm am liebsten um den Hals gefallen, wo ich doch in meinen Kreisen bis an mein Lebensende das Fräulein blieb. Einige Jahre darauf haben wir uns dann in Lemberg wiedergesehen. Ich war unterwegs auf einer meiner ersten Inspektionsreisen in Sachen »Bekämpfung des Mädchenhandels«, dieser Sisyphos-Arbeit meines Lebens. Pilich hatte in seiner polnischen Heimat einige Porträts zu malen von einer Sorte Menschen, die es ganz begreiflich machten, dass er sich gern mit mir zum Mittagessen oder Nachtmahl verabredete. Verelendete Juden, wie er sie nur in Whitechapel wiedersah, nach seiner Emigration. Für mich war es nach den deprimierenden Besuchen in den Bordellen von St. Petersburg, dem Nachtasyl von Moskau, den Spitälern für venerisch kranke Prostituierte in Galizien eine Wohltat, mit einem Mann beisammen zu sein, der von all dem wenig wusste, aber dafür anderes. Und dieses andere so unterhaltsam mitzuteilen verstand.

    Also Pilich sollte mich malen. Ja, wer denn sonst? Tatsächlich ging ihm mittlerweile, zumindest in jüdischen Kreisen, der Ruf voraus, ein ausgezeichneter Porträtmaler zu sein. So hatte er, selber ein bekennender Zionist, Größen wie Herzl, Nordau, Weizmann und Einstein gemalt. Und jetzt mich? Pah, Glückel von Hameln! Mein halbherziges Eingehen erwies sich in meinen Augen plötzlich als ein weiser Ratschluss. Die Vorstellung, von Pilich gemalt zu werden, aber zur Kenntlichkeit entstellt, fing an, mir Spaß zu machen. Ich begriff, dass das Geschenk nicht nur auf die Übergabe eines Gemäldes hinauslief. Es schloss die Geschichte seiner Entstehung und Herstellung mit ein. Eine Inszenierung ohnegleichen nahm ihren Lauf. Rückblickend hatte ich gerade die Ouvertüre glücklich überstanden. Nicht auszudenken, damals, wie die kapriziöse Geschichte zu Ende gehen mochte.

    Die innere Unruhe, mit der ich auf die Aussicht, einem noch unbekannten Maler Porträt sitzen zu dürfen, zu sollen, zu müssen, reagiert hatte, war einer prickelnden Vorfreude gewichen. Ja, ich werde mich von Pilich malen lassen, als Glückel von Hameln. Aber wie weiter? Wäre ich in einem wirklichen Theater gewesen, ich hätte schnurstracks den Fundus aufgesucht und mich dort nach Kostümen umgesehen. Aus der Zeit des ausgehenden 17. Jahrhunderts, aus der Gegend von Hamburg, Hannover, Hameln, also Niedersachsen und möglicherweise noch den angrenzenden Niederlanden. Aber nach welcher Vorlage hätte ich suchen sollen?

    Es gab ja kein historisches Bildnis der Glückel. Ich hatte mich in Fragen der Übersetzung mit Fachleuten des Jiddischen und des Hebräischen beraten. Sie hielten die Memoiren unisono für eine Ausnahmeerscheinung in der jüdisch-deutschen Literatur. Einen Text aus der Feder einer Frau, viele Jahre vor Moses Mendelssohn. Aber ein Porträt der Autorin, einer verwitweten jüdischen Geschäftsfrau, tief verwurzelt im orthodoxen Milieu, war für sie undenkbar: jüdischerseits nicht koscher. Lass alle Hoffnung fahren, sagte ich mir. Du kannst nicht wirklich in die Haut der Glückel schlüpfen, der Tochter des Juda Löw, der Frau des Chaim von Hameln. Wie immer du dich verkleidest, es wird nicht stimmen. Kein Mensch wird dir die Verwandlung abnehmen. Am ehesten könnte noch dein Gesicht durchgehen. Immerhin bist du mit ihr entfernt verwandt, mütterlicherseits. Face is race, sagt man. Von ihr zu dir, das macht gerade einmal sieben Generationen auf der Goldschmidt-Linie.

    Ich musste lachen. Aber halt, lag nicht der Umkehrschluss nahe: Weil niemand die Glückel kennt, wird am Ende alle Welt glauben, mein Bild sei das Original? Ich war verwirrt. Lief mein halb spaßig, halb ernst gemeinter Wunsch, mich als Glückel porträtieren zu lassen, geradewegs auf eine Fälschung hinaus? So viel stand fest: Wenn der Maler den Auftrag ausführt, wird er aller Wahrscheinlichkeit nach das erste Porträt von Glückel überhaupt geschaffen haben.

    Der Maler! Erst jetzt schoss es mir durch den Kopf, dass ich die ganze Rechnung ohne Pilich gemacht hatte. Wird er den Auftrag noch ausführen wollen, wenn er erfährt, dass es sich bei Bertha Pappenheim, die ihm Modell sitzt, und Glückel von Hameln, der Frau, die durch seine Hand auf der Leinwand erscheinen soll, um zwei verschiedene Personen handelt? Wird er dieses Bäumchen-wechsledich-Spiel noch mitspielen wollen? Was ist, wenn er sagt: Sie oder die Glückel, entweder – oder? Ich fasste mich und spürte in mir eine feste Entschlossenheit. Ich als Glückel, wird er zu hören bekommen.

    Ich hatte mich völlig umsonst gewappnet und die mir eigene Strenge, wohl nicht zum ersten Mal, voreilig auf einen anderen übertragen. Als Leopold Pilichowski in Frankfurt eintraf und mich in meiner Wohnung aufsuchte, stand mir ein Mann gegenüber, der die Liebenswürdigkeit in Person war. Er küsste mir galant die Hand und behandelte mich wie eine Grande Dame. Ich fiel von einer Verlegenheit in die andere. Beim Tee fragte er höflich, ob er rauchen dürfe, was ich ihm freistellte. Er öffnete ein elegantes Etui, das zu meiner Verblüffung nicht nur ein paar Zigaretten enthielt, sondern auch zwei Spitzen. Er nahm eine und bestückte sie. Wohl weil er merkte, dass ich irritiert war, schickte er schnell eine Erklärung hinterher.

    »Ich rauche seit einigen Jahren nur noch Spitze, wissen Sie. Es ist gesünder. Ein kleines Handikap für die gefährlichen Substanzen, den Teer, das Nikotin.«

    Dass Zigarettenspitzen in gewissen Kreisen sehr in Mode waren, aber gewiss nicht aus Vorsorge für die Gesundheit, wusste ich natürlich nur zu gut. Bei meinen Recherchen zum Mädchenhandel ist mir dieses Accessoires nicht entgangen. Aber gerade deswegen hielt ich es für Beiwerk der frivolen Halbwelt in den Händen verruchter Damen. Ein Dandy, der in einem verrauchten Jazzlokal Spitze raucht, passte dagegen ins Milieu einer Salon-Jüdin, aber nicht zu mir. Und nun Pilich bei mir auf dem Sofa. Das kann ja noch heiter werden, dachte ich. Keine übertriebene Erwartung, wie sich herausstellen sollte. Eine furchtbare Folie für mich – aber eben eine Folie.

    »Ich bin auch Sammler«, hörte ich Pilichs Stimme, die mir nach ein paar kräftigen Zügen noch weicher vorkam. »Ich meine, ich sammle Spitzen, wo immer ich mich herumtreibe. Diese stammt übrigens aus Brody, der Geburtsstadt Joseph Roths, die für die Herstellung von Zigarettenspitzen und Zahnstochern berühmt ist. Ich werde auch Frankfurt kaum verlassen, ohne mich nach Spitzen umgesehen zu haben.«

    »Wie interessant. Ich sammle auch Spitzen.«

    Mein kecker Einwurf verblüffte ihn. Für den Bruchteil einer Sekunde genoss ich Pilichs ungläubiges Staunen.

    »Spitzen der anderen Art, versteht sich. Klöppelspitzen, Nähspitzen, Häkelspitzen aus Leinen und Seide. Ich liebe Spitzen über alles, diese unglaubliche Variation über ein einziges Thema, einen graden feinen Faden. Kein Ort, wo ich nicht nach ihnen müffle und meine Sammlung ergänze.«

    Pilich lachte laut auf: »Gnädige Frau, ich ahnte es vom ersten Augenblick an. Wir sind beide Spitze!«

    Ich wusste nicht, wo ich hinschauen sollte. Ich suchte nach einer unverfänglichen Geste, die meinen Dank für das, was ich als Freundlichkeit empfand, hätte ausdrücken können. Ich war dergleichen nicht gewohnt. Schon wollte ich meinem Wohltäter nochmals Tee einschenken, aber ich war mir nicht sicher, ob ich mit Gießen hätte aufhören können. Da kam mir eine bessere Idee.

    »Warten Sie«, rief ich. »Ich hab etwas für Sie.«

    Ich ging in mein Arbeitszimmer und holte ein Exemplar der von mir übersetzten Memoiren der Glückel.

    »Ein Buch von mir. Bitte.«

    Pilich nahm es wägend in die Hand, blätterte darin. Ich klärte ihn unterdessen auf, dass es sich um die Aufzeichnungen einer jüdischen Kauffrau aus dem 17. Jahrhundert handele, einer gewissen Glückel von Hameln, welche nach dem Tod ihres Gatten die Familiengeschichte für ihre Kinder aufgeschrieben habe. Die täglichen Freuden, Leiden und Sorgen so gut wie die nicht alltäglichen Feste und Katastrophen. Die ganze Welt der Judenheit, wie in einer Nußschale. Eine Welt von gestern.

    »Ich verstehe«, ließ sich Pilich nach einer Weile verlauten. »Sie wollen mit Ihrer Übersetzung erreichen, dass die Stimme dieser Frau auch von den heute lebenden Nachfahren noch vernommen wird. Durch die Stimme einer anderen jüdischen Frau weit vorne in dieser Reihe, einer Schwester im Geiste der Glückel. Ihrer Stimme. Ich gratuliere.«

    Wie er alles sofort versteht, dachte ich, den ganzen komplizierten Zusammenhang. Und wie schön er reden kann. Ich drehte leicht meinem Kopf und schaute ihm direkt in die Augen. Fast unmerklich öffnete sich mein Mund.

    »Leopold …«

    »Nein, nein«, fiel er mir ins Wort. »Nicht den langen Namen, nicht für Sie. Bitte, würden Sie …«

    »Ja.«

    »Haben Sie auch einen zweiten Namen, einen shorty, wie man in England so sagt, etwas wie einen Spitz- oder gar Kosenamen?«

    »Nicht, dass ich wüsste.«

    »Das könnte bedeuten, dass es ihn immerhin gibt, dass er Ihnen aber momentan nicht zur Verfügung steht. Er ist unauffindbar, unaussprechlich geworden. Darf ich ihn erraten?«

    »Versuchen Sie Ihr Glück.«

    »Glikl.«

    »Was sagen Sie da! Das ist der jiddische Name der …«

    »Ja, und er bedeutet kleines Glück

    »Das passt zu mir. Zu meinen Niederlagen im Großen, meinen Erfolgen im Kleinen.«

    »Darf ich Sie so nennen, Frau Pappenheim?«

    »Nennen und malen. Glikl von Pappenheim.«

    »Ich ahne, dass Sie es genau so meinen.«

    An dieser Stelle war unser Gespräch zu Ende, jedenfalls für mich. Pilich machte, schon halb im Gehen, wohl noch eine Bemerkung zum »Phänomen der durchscheinenden Bilder«. Aber ich hörte nicht mehr hin. Ich hatte etwas vernommen, von dem ich nicht einmal im Traum zu hoffen gewagt hätte, es könnte mir zu Ohren kommen. Er nannte mich standhaft Frau, wie beim ersten Mal. Gnädige Frau. Er schenkte mir einen Kosenamen, Glikl, den jiddischen Namen meiner großen Ahnin, den ich seit jenem Tag wie einen kostbaren Ring trage. Seine späteren Briefe (ich hüte sie wie einen Schatz) wird er an Mrs. Pappenheim adressieren, mich darin stets mit Dear Glikl anreden. Mein Freund Pilich. Dieser besonderbare Mensch, mit seinem umwerfenden Witz. Beim Abschied, schon halb auf der Straße, winkte er mit dem Buch, das ich ihm geschenkt hatte.

    »Meine Gute-Nacht-Lektüre. Auf Morgen, Glikl, zum Tee, wie immer.«

    Wie immer, zum ersten Mal. In dieser Nacht fand ich lange den Schlaf nicht. Die Begegnung mit Pilich war zu intensiv gewesen, hatte mich aufgewühlt. Ich, die ich seit Jahren mit und unter Frauen lebte, stand der Freundlichkeit dieses Mannes hilflos gegenüber. Ich spürte einen inneren Aufruhr in mir, aber ich hätte nicht sagen können, wer da gegen wen in meinem Seelenhaushalt aufbegehrte. Mir war, als stünde ich an der Grenze zu einem inneren Ausland, das ich nicht zu betreten in der Lage war. Ein aufgegebenes, ein nie betretenes Paradies? Ich weiß es nicht. Ich kann es erwähnen, kaum beschreiben. Ja, stünde an seinem Eingang ein Engel, ich würde mit ihm ringen wie Jakob, um ihm seinen Namen zu entlocken. Sein-mein Geheimnis. Aber da ist niemand. Ich bin allein. Warum? Was ist mit mir geschehen? Bin ich eine Frau ohne Eigenschaft? Eine fehlt mir ganz gewiss: Mir ward die Liebe nicht. In einem handgeschriebenen, wundgelesenen Gedicht hab ich diesen Schrecken, der sich anfühlt wie eine halbseitige Lähmung, mit diesen Worten benannt. Aber er ist nicht verschwunden. Das Schibboleth, ich habe es bis heute nicht gefunden, kann es nicht aussprechen, kenne nicht einmal die Sprache, in der es ausgesprochen werden müsste, um wirksam zu sein. Deutsch, Englisch, Jiddisch, Hebräisch? Warum hilft mir niemand, den Dämon aufzuspüren und zu vertreiben? Ach, Du unbegreifbarer Gott, lass

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