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Eine Familie: Roman
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eBook160 Seiten2 Stunden

Eine Familie: Roman

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Über dieses E-Book

Ein Tag des Glücks für Danielle und Olivier, könnte man denken, an dem ihre Tochter Lou ein Kind zur Welt bringt. Die ganze Familie kommt in Bordeaux zusammen: Mathilde hat sich in Barcelona in den Nachtbus gesetzt, Edouard reist aus Cahors an. Allein, der älteste Bruder fehlt, und sein Schatten ist mächtig. Romain, einst verträumtes Kind, der sich rührend um seine Geschwister kümmerte, trank sich schon als Jugendlicher ins Koma. Alle verwickelte er sie in ein Lügennetz, bis er fortging und in Paris auf der Straße landete. Nun ist er wieder in der Gegend, beteuert, sein Leben endlich in die Hand zu nehmen, als ein Anruf die aufkeimende Hoffnung zunichte macht.

Pascale Kramer legt in ihrem hochgelobten mehrstimmigen Roman die Gefühle jedes einzelnen für den so geliebten wie gehassten Sohn und Bruder frei. Im Moment der Geburt der kleinen Jeanne untergraben Schuldgefühle, Trauer, Wut und Sorge das Schweigen und das Nie-Gesagte. Das neuralgische Konstrukt einer Familie gerät ins Wanken.
SpracheDeutsch
HerausgeberRotpunktverlag
Erscheinungsdatum18. Sept. 2019
ISBN9783858698551
Eine Familie: Roman

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    Buchvorschau

    Eine Familie - Pascale Kramer

    machte.

    Olivier

    Lou hatte um sechs eine Nachricht hinterlassen: Die Wehen hätten eingesetzt, Jean-Baptiste würde bald von der Arbeit kommen, sie müssten daran denken, die Kleine abzuholen. Danielle hatte sich direkt nach ihrem letzten Patienten auf den Weg gemacht, Olivier kam etwas später mit dem Auto nach. Bei der Geburt der Ältesten, Marie, war er nicht da gewesen, und er fühlte sich nicht wirklich berechtigt, solche intimen Augenblicke mitzuerleben.

    Die Wohnung ging auf den Hinterhof eines Restaurants hinaus, dessen Gewürz- und Putzmitteldünste Lou in den ersten Monaten zu schaffen gemacht hatten, wie er sich erinnerte, als er die Treppe hinaufstieg. Die Wohnungstür war nur angelehnt, in der Diele warfen zwei Kerzen, die Zitrusduft verströmten, große schwankende Schatten auf die Wände. Olivier hörte, wie Danielle ihrer Tochter im Wohnzimmer Mut zusprach. Mit einem kleinen Klopfen kündigte er sich an, bevor er eintrat. Lou saß ihrer Mutter gegenüber, auf der Stuhlkante, mit dem Rücken kaum angelehnt, wie von Dornen umgeben. Sie warf ihm aus ihrer unbequemen Position ein gezwungenes Lächeln zu. Ein banger, verstörter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht mit den sehr roten Lippen. Olivier kam näher, um sie aufs Haar zu küssen. Seine Kinder leiden zu sehen, machte ihn hilflos. Er hatte nicht Danielles Seelenruhe bei dem Gedanken, dass auch das zum Leben gehört.

    Sie hatten ausgemacht, dass die Kleine in den paar Tagen, die ihre Mutter in der Geburtsklinik verbringen würde, bei ihnen schlafen sollte. Ihr Vater hatte sie gebadet, das nach hinten gekämmte Haar streichelte sie mit den tropfenden Löckchen im Nacken. Ihre Tasche stand bereit, doch weder Lou noch Jean-Baptiste hatten nun das Herz, ihr die erste Verlassenheit anzutun. Danielle schlug vor, dass sie noch alle zusammen zu Abend aßen, und ließ sich von der Kleinen beim Tischdecken helfen.

    Der Lärm der Restaurantküche hinter dem hellen Leinen der Vorhänge bildete einen merkwürdigen Kontrast zu Lous Gefasstheit. Sie sah ihnen lächelnd beim Essen zu, in konzentrierter Erwartung der nächsten Wehe, bei der sie von neuem aufstehen würde, als müsste sie aus ihrem Körper heraustreten. Sie ging dann im Zimmer umher, die Hände in der zerzausten Fülle ihres schönen Haars. Lou nahm während ihrer Schwangerschaften praktisch nicht zu. Das machte die verwirrende Anwesenheit des Babys unter dem hervortretenden Nabel umso unwahrscheinlicher, aber zugleich realer. Während er Marie beobachtete, die mit den Fingern in ihrem Joghurt stocherte, den Kopf auf den angewinkelten Arm gelegt, fragte sich Olivier, wie man sich diese Dinge wohl mit drei Jahren vorstellte.

    Es kam ziemlich selten vor, dass die Kleine bei ihnen übernachtete, Jean-Baptiste fiel es noch schwerer als Lou, auf ihre Gegenwart zu verzichten. Aber sie machte keinerlei Schwierigkeiten, zog willig ihre Regenjacke an und folgte ihnen, auf die Ereignisse sicherlich mehr als vorbereitet. Olivier bestand nicht darauf, sie an der Hand zu nehmen; ein angestrengter Wille, der Wille einer großen Schwester, führte sie Stufe für Stufe hinab bis zum Türöffner. Es war fast neun, draußen war die Dunkelheit hereingebrochen und mit ihr Wassermassen, die im Schein der Straßenlampen von den Dächern platschten. Marie wollte sich zuerst die Füße nass machen, dann ließ sie sich tragen. Im Auto wehrte sie sich gegen den Kindersitz. Danielle schnallte sie an, ohne auf ihr Gejammer einzugehen und ohne die Geduld zu verlieren. Sie war so gekommen, wie sie praktizierte: in Yogahose und weißem Body. Sie fröstelte unter dem leichten Lycra, als sie ins Auto stieg. Sie schüttelte die Tropfen von ihrem dunklen Haar, warf einen hastigen Blick in den Spiegel der Sonnenblende und fragte nach der Uhrzeit, wahrscheinlich, um sich nachher zu erinnern, wie lang die Geburt gedauert hatte.

    Der Regen fiel immer dichter und spülte die Lichter aus der Stadt. Olivier sah schlecht, er fuhr langsam. Marie hinter ihm war verstummt, das Schluchzen nahm ihr den Atem. Halt an der Ampel an, bat Danielle und öffnete schon die Tür. Olivier sah zu, wie sie auf die Rückbank neben die Kleine schlüpfte, ihren Kopf zwischen die Hände nahm und die Stirn, wie um sie dort anzuschrauben, fest auf ihre drückte. Diese gebieterische, so seltsam passende Geste ließ Marie für den Rest des Wegs schweigen. Sie war fast eingeschlafen, als Olivier die beiden vor dem Haus absetzte, plötzlich schlaff wie ein Lappen, die Lippen verschmiert von Nasenschleim. Danielle presste sie an sich und lief mit ihr durch den Regen. Ihre Haare und Arme waren mit Tropfen übersät, als Olivier sie im Hausflur einholte. Er wischte ihr mit dem Daumen die Nässe aus dem Gesicht, während sie auf den Lift warteten, diese intime Berührung erregte ihn, und er beugte sich vor, um sie zu küssen, der rasche Kuss eines Liebenden, der fast eine Erektion bei ihm ausgelöst hätte, während die wach gewordene Marie auf dem Arm ihrer Großmutter feindselig ins Leere starrte.

    Gegen zehn rief Jean-Baptiste aus der Klinik an. Es sei noch nicht so weit, die Wehen würden immer schmerzhafter, Lou weine vor Erschöpfung. Dass er hinausgegangen war, um zu telefonieren, empörte Olivier. Anders als Danielle hatte er sich nie wirklich damit abgefunden, einen so jungen, so unbedarften Schwiegersohn zu haben. Dass seine Tochter während ihres Studiums schwanger geworden war, hatte ihn zutiefst enttäuscht, eine Zeit lang hatte er gehofft, sie würde abtreiben, und es sogar ernsthaft erwartet. Das war ein Konflikt mit Danielle gewesen, eine der seltenen Gelegenheiten, bei der sie bestürzt, verletzt feststellen mussten, dass sie in etwas Wesentlichem uneinig waren.

    Nachdem Jean-Baptiste aufgelegt hatte, zeigte sich Marie von neuem untröstlich. Ihre Tränen verstärkten noch ihre Übermüdung und ihre unvermeidliche Angst. Olivier ließ Danielle mit ihr ins Fernsehzimmer gehen, dass sie die Kleine beruhige. Er, eher sanft, feminin, war letztlich den Jungen näher, vor allem Romain, Danielles Sohn, und später Édouard, dem ältesten der drei Kinder, die sie dann zusammen bekommen hatten.

    Nach dem Aufwachen fand Olivier die Wohnung leer und das Badezimmer im Dunst. Es war kaum acht, Danielle war mit Marie hinausgegangen; er hatte sie am Abend nicht einmal ins Bett schlüpfen hören. Die hohen Fenster des Wohnzimmers standen weit offen; zwei Sonnenrechtecke erleuchteten einen feinen Staubteppich auf dem Parkett. Olivier trat auf den Balkon. Von der durch die Niederschläge aufgewühlten Garonne her wehten ihn Schlammgeruch und Vogelgekreisch an. Der gestrige Regenguss hatte die zwei Tage zuvor gepflanzten Sommerblumen gezaust, die Erde war auf den Metalltisch gespritzt, den er mit der flachen Hand abwischte und zusammengeklappt an die Wand stellte. Er war jetzt bald zwei Jahre im Ruhestand, er begann an diesen kleinen Alltagsdingen Gefallen zu finden. Danielle hatte einen Teil ihrer Reha-Praxis abgegeben, behandelte aber einige Patienten noch weiter. Olivier erlaubte sich fast nie, nach ihr aufzustehen. Am Anfang hatte es ihn sehr verunsichert, da zu sein, wenn sie nach Hause kam. Es war eine andere Frau, die er nach ihrem Arbeitstag zur Tür hereinkommen sah, eine dunklere, maskulinere Frau, die ihn ganz vergessen hatte.

    Ein Zettel für Angèle lehnte am Toaster: »Fangen Sie mit der Bügelwäsche an, mein Schwiegersohn ruht sich im Fernsehzimmer aus (Lou hat heute Nacht entbunden, es ist eine kleine Jeanne!).« Der Kaffee war noch warm, eine Tasse stand auf dem Tisch, ebenso Maries Plastikbecher, und in der Spüle waren zwei Weingläser, ein gerade erst ausgespülter Aschenbecher, ein Teller mit einem fettigen Rest von Rillettes am Rand. Warum hatte Danielle ihn nicht geweckt, als Jean-Baptiste in der Nacht aufgekreuzt war? Sie musste nur ein paar Stunden geschlafen haben, Olivier fand es unangebracht, dass er an einem Tag wie diesem ausgeruht war.

    Er duschte, holte die Post von unten und ging zurück ins Arbeitszimmer, um seinen Kaffee zu trinken. Seit er pensioniert war, achtete er darauf, während der zwei oder drei Halbtage pro Woche, an denen Angèle bei ihnen putzte, beschäftigt zu sein. Sie erhielt ihre Anweisungen nur von Danielle und hatte sich an seine Anwesenheit in der Wohnung so wenig gewöhnt wie er. Olivier stieß seine Tür etwas zu, als er sie den Schrank im Flur öffnen hörte und die Fenster im Luftzug schlugen. Ihre Tochter begleitete sie wie in allen Schulferien, seit sie nach Frankreich hatte kommen können. Danielle hatte sich dem zunächst widersetzt, allein mit dem Argument, es gebe spezielle Angebote für Kinder arbeitender Mütter. Olivier wunderte sich immer, wenn er an ihr solche Rigiditäten entdeckte, und genauso, wenn sie dann schließlich ohne großen Widerstand seinen Entscheidungen zustimmte. In diesem Fall jedoch hatte sie recht gehabt. Es kam nicht infrage, dass das Mädchen bei der Hausarbeit half. Ihre Langeweile ließ ein feindseliges Schweigen auf dem Vormittag lasten. Sie war zu alt, zwölf, um nichts mit ihren Ferien anzufangen. Es nervte Olivier, wenn sie von morgens an vor dem Fernseher hing. Er machte sich Vorwürfe, weil er so wenig Zuneigung zu dem Mädchen empfand.

    Olivier schaute aus dem Fenster, am Ende der Straße sah er die Lichtschneise zwischen den Mietshäusern und den schimmernden Fluss unter den durch die Wolken brechenden Sonnenstrahlen. Er wartete ein paar Minuten, ob nicht Danielle und Marie auftauchten. Dann setzte er sich wieder, klappte den Computer zu und betrachtete einen Moment seine großen Hände, von denen Mathilde, ihre Jüngste, sagte, sie finde sie so schmerzvoll und ungeschickt wie ihn.

    Jean-Baptiste musste aufgestanden sein, denn plötzlich gab es Freudengeschrei, als Marie in die Wohnung stürmte. Olivier wartete noch ein bisschen, er zögerte immer, an der Aufregung dieser Tage einer Geburt teilzunehmen, denn sie weckten bei ihm ein Gefühl des Bedauerns: Es tat ihm leid um die Möglichkeit, sorglos zu sein.

    Er fand Jean-Baptiste auf dem Schaukelstuhl im Wohnzimmer, das Hemd offen über seiner unbehaarten Brust, wo sich die langen Muskeln des Basketballspielers abzeichneten. Marie saß zwischen seinen Beinen und betrachtete die ersten Fotos ihrer kleinen Schwester. Jean-Baptiste hob sie ein wenig hoch, um die Begrüßungsküsse seines Schwiegervaters zu empfangen. In seinem Alter hinterließ die Anstrengung noch keine Spuren, aber als sie sich umarmten, schien er gerührt. Die Periduralanästhesie hat nicht gewirkt, es war hart für sie, sagte er heiser, bevor er sich wieder setzte. Olivier beugte sich zu Marie, um die Fotos anzuschauen. Mit erschöpfter Anmut blickte die aufgelöste Lou hinunter auf das Neugeborene in ihren Armen. Das Blau des Klinikhemds ließ ihr Gesicht und die nackte Haut in ihrem entwaffnend tiefen Ausschnitt blass erscheinen. Olivier blieb stumm. Die müde Schönheit der Wöchnerinnen brachte ihn durcheinander. Wie jung deine Mama ist, flüsterte er Marie ins Ohr, die mit dem Finger auf die Fotos tippte und durchaus Bescheid zu wissen schien, was all das bedeutete. Als er sich wieder aufrichtete, kämpfte Jean-Baptiste lautlos, zwei Finger in die Augen gepresst, mit den Tränen. Olivier legte ihm freundschaftlich eine schwere Hand auf die Schulter. Niemals, dachte er mit Bedauern, hatte er selbst sich erlaubt, in diesen Momenten zu weinen.

    Das Tischtuch lag bereit, und die Bücherstapel auf dem großen Tisch waren beiseitegeräumt. Danielle hatte einen dicken Strauß gelber Ranunkeln, Brioche und Obst gekauft. In einer lila Yogahose, die ihr sehr weich über die sportlich schmalen Hüften fiel, ging sie zwischen Küche und Diele hin und her. Ihr kurz geschnittenes dichtes Haar kringelte sich um ihr Gesicht. Sie war immer schön gewesen, schön wie eine amerikanische Joggerin, dachte er gern. Sie war es geblieben, sehr gerade, die Brüste schwer und ausladend unter dem feinen Schultergelenk, der Bauch flach, und die faltige Haut berührte ihn heute mehr, als ihre Jugend es je getan hatte. Mit achtundsechzig hatte Olivier die überraschenden Schönheiten, die ihr Körper für ihn bereithielt, noch längst nicht ausgeschöpft. Du schaust sie an wie ein Liebhaber, hatte ihm einmal Édouard vorgeworfen, dessen junge Ehe sich unaufhaltsam auf einen beiderseits akzeptierten Zustand der Unzufriedenheit zubewegte.

    Danielle war noch nicht wieder aufgetaucht, seit sie zurückgekehrt war. Olivier wartete, bis Angèle ins Esszimmer ging, den Tisch zu decken, um nachzusehen, was mit ihr los war. Sie hatte die Ranunkeln ausgepackt und schnitt über dem Mülleimer die Stängel ab. Du hättest mich wecken sollen, bemerkte er und legte ihr den Arm um die Taille. Ohne von

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