Die Lebenden: Roman
Von Pascale Kramer
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Über dieses E-Book
Als die beiden zusammen mit den Kindern in der schläfrigen Mittagshitze zur nahe gelegenen Kiesgrube fahren und Benoît im Übermut die Jungen in die Fördergondel setzt und den Hebel löst, nimmt ihr Leben von einer Sekunde auf die andere eine tragische Wendung.
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Buchvorschau
Die Lebenden - Pascale Kramer
Autorin
Erster Teil
Louise kam mit Vincent und ihren beiden Kindern für ein paar Tage nach Hause. Benoît erwartete sie, mit aufgestützten Ellbogen, der Oberkörper nackt, schläfrig aus dem Fenster seines Zimmers lehnend, geblendet von der Mittagssonne auf dem Kilometer Landstraße, der das Haus von den ersten Gebäuden von S. trennte. Es war ein 8. Mai, sehr leer und schön auf den umgegrabenen Parzellen, die das Land mit einem Würfelmuster überzogen. Benoît war spät ins Bett gegangen, er hatte einen Nachgeschmack von rostigem Wasser auf der rauen Zunge. Unten auf dem Parkplatz verströmten die Zapfsäulen der ehemaligen Tankstelle seines Vaters einen schon vergessenen Benzingeruch. Benoît ließ seine Spucke fallen, die auf den Teer klatschte. Es gab sonst keine Geräusche, nur das Zittern der Zwergwiese, die an der Seite des Hauses gewachsen war, und diese reglose Feiertagsfrische, die einen betäubte. Als er den Kopf wieder hob, kam in der Ferne das rote Autodach zum Vorschein. Louise streckte den nackten Arm in den Wind, ihr langes blondes Haar flatterte durchs offene Fenster. Ein dicker Plastikring an ihrem Finger funkelte orangerot in den Frühling. Benoît ahnte, dass sie vor sich hin summte; er war ungeheuer froh, sie zu sehen.
Vincent beschrieb einen großen Kreis und parkte im Schatten der Fassade. Louise trug eine Sonnenbrille, in der Benoît, als sie sich vorbeugte, um ihm einen Kuss zuzuwerfen, den Himmel und das Haus vorübergleiten sah. Ihre kaum geschminkten vollen Lippen verliehen der friedlichen Vollkommenheit ihres Gesichts fast etwas Brutales, sie legte den Finger darauf und zeigte zu den beiden Kindern, die auf dem Rücksitz schliefen. Vincent neben ihr hatte nicht einmal zum Fenster hochgeschaut. Er räumte die auf dem Armaturenbrett liegenden Kassetten weg; am Ausdruck seines scharfen Profils mit der Zigarette las Benoît ab, dass er auf Louise böse war. Streit war ein Teil jener Widrigkeiten, denen sie sich mit unglaublicher Bereitwilligkeit unterwarf. Sie hatte sich auf ihren Sitz gekniet, um nach den schlafenden Kindern zu sehen; Vincent leerte den Aschenbecher vor die Tür und sagte wohl endlich etwas zu ihr, denn sie hockte sich auf die Fersen, um ihm zuzuhören, lehnte den Kopf zurück und spielte in der Kuhle ihres Minirocks mit dem orangeroten Ring. Benoît stützte sein Kinn auf den besonnten Fenstersims; die Mittagswärme ließ seine Achselhöhlen feucht werden. Er fand es angenehm, das Aufwachen in die Länge zu ziehen, indem er die unendliche Geduld seiner Schwester bewunderte.
Das Wetter war erst seit ein paar Tagen schön, über den Himmel aus flüssigem Blau zogen noch lange Wolkenbänder, die das Land jäh abkühlten. Louise mit ihrem auf dem Rücken und an den Schultern weit ausgeschnittenen Strandhemdchen ließ ihn frösteln. Sie hatte ihre Tür geöffnet, um sich das Haar zu bürsten, und betrachtete mit einem mitleidigen Blick die schmutzig weiße Fassade, die wie zufällig mit einer Handvoll violetter Petunien geschmückt war. Benoît wurde bewusst, dass sie fast ein Jahr nicht mehr dagewesen war und dass er sich daran gewöhnt hatte.
Vincent war ausgestiegen und pinkelte auf den Haufen brombeerüberwucherter Karosseriebleche neben der Garage; er rief Louise zu, er habe in der Stadt zu tun, und sie begnügte sich damit, zustimmend mit ihrer Bürste über die Motorhaube hinweg zu winken. Im Gehen schnallte er seinen Gürtel über dem Hemd zu, das der Wind wie ein Segel blähte. Sein Schritt hallte lange auf der Landstraße wider, die bei diesem schönen Wetter so sonderbar leer war. Louise stieg aus dem Auto – die dicken Sohlen ihrer Sandalen ließen sie noch größer erscheinen –, reckte sich in der Sonne und lächelte ihrem Bruder zu, Vincents schlechte Laune hatte sie schon vergessen. Benoît sah unter dem Rockbund die Andeutung ihres in die straffe Bauchmuskulatur eingebetteten Nabels; er hatte vergessen, dass sie so hübsch war.
Louise öffnete eine der hinteren Türen etwas, damit die Kinder Luft bekamen, dann stellte sie eine große Reisetasche auf die Motorhaube, aus der sie ein ganzes Sortiment sorgfältig zusammengelegter Kleidungsstücke nahm. Sie stand sehr gerade und warf mit einer unbewusst herausfordernden Wellenbewegung der Schultern ihr Haar zurück. Louise war hinreißend, ohne kokett zu sein. Mit fast fünfundzwanzig Jahren und trotz zweier schon großer Kinder sah sie immer noch aus wie eine Schülerin; die breiten, sehr ausgeprägten Kieferknochen und die kurze, platte Nase verliehen ihrem Gesicht einen wilden Charme. Benoît überlegte, ob er zu ihr hinuntergehen sollte, aber er konnte sich nicht entschließen, seine Schläfrigkeit abzuschütteln. Ein fetter Geruch von gebratenem Fleisch zog die Treppe herauf. Er hörte, wie seine Mutter die Küchenhocker verrückte und mit der Schroffheit anstrengender Tage die Fußleisten mit dem Besen traktierte. Die seltenen Besuche dieser kleinen Zufallsfamilie ließen alte Enttäuschungen wieder aufleben, die sie nie verwunden hatte. Vincent missfiel ihr; sie verzieh ihm nicht, dass er Louise mit sechzehn Jahren geschwängert hatte, wohl auch, damit man im Viertel von ihm sprach. Das strahlende Glück ihrer Tochter kränkte ihren gesunden Menschenverstand; sie hatte nie ein Hehl daraus gemacht, dass sie bis zuletzt gehofft hatte, das Baby würde nicht überleben, und später, dass sie die Kleinen nie ganz ohne Bitterkeit lieben konnte.
Eine leichte Brise kam auf, sodass die Autotür zuschlug und die Kinder aus dem Schlaf hochschreckten. Louise sah zu, wie sie sich räkelten, verwirrt und benommen von der Hitze, dann öffnete sie Fabien die Tür, der schlaff wie ein kleiner Kranker in ihre Arme glitt. Er würde in zwei Tagen acht Jahre alt werden, was sein schmales Gesicht mit den mädchenhaften Lippen zu widerlegen schien. Nachdem sie ihm mit einem Zipfel des T-Shirts die Wange abgewischt hatte, schickte Louise ihn zum Pipimachen an die Garagenwand und kümmerte sich um den zweiten, Luc, den sie noch fast schlafend aus dem Auto nahm. Sie drückte ihn genauso zärtlich an sich wie den Älteren, strich ihm mit der Hand übers Haar und zog ihm ein weißes Hemdchen an, was ihm unbehaglich zu sein schien. Benoît hatte sie mit ihren Kindern immer so gesehen: von bewundernswürdiger, fast langweiliger Zärtlichkeit. Er vermisste dabei jene sinnlichen Erfindungen, die Glück und Schrecken für ihn bedeutet hatten, als er klein war und sie abends in sein Bett kam und er, ohne sich zu rühren oder die Augen zu öffnen, versprechen musste, sie immer und stark genug zu lieben, um eines Tages mit ihr von zu Hause wegzulaufen. Ihre Mutterrolle erschien ihr wohl zu ernst für solche Dummheiten, sie zelebrierte sie wie eine Liturgie. Viel zu gutmütig, um die Kinder zu erziehen, ließ sie sie aufwachsen, indem sie sie mit Geschenken, neuen Kleidern und rituellen Küssen überschüttete. Sie hatte zwei ängstliche Jungen aus ihnen gemacht, die man um ihrer Niedlichkeit und Unbeholfenheit willen liebte. Sie machten wenig Lärm, forderten wenig Aufmerksamkeit. Benoît kannte sie kaum, da Louise, als sie mit dem zweiten schwanger war, mit Vincents Familie in den Süden gezogen war; er hatte ihnen Fahrradfahren beigebracht und ging mit ihnen Eis essen, aber es war nicht besonders befriedigend, sie zu unterhalten.
Benoît streifte die Kleidungsstücke vom Vortag über seinen ungewaschenen Körper; das Unbequeme daran war zugleich angenehm und deprimierend. Unten rief seine Mutter Louise zu, sie solle die Betten machen, und im Garten quengelten die Kleinen. Als er das Hemd über den Kopf gezogen hatte, sah Benoît Vincent die Straße zurückkommen, eine leicht gebeugte, lange Gestalt mit rudernden Schultern, die den dunklen Haarschopf schwanken ließen. Er war wohl ein Bier trinken oder Zigaretten kaufen gewesen. Benoît wusste, dass er sich ärgerte, hierherkommen zu müssen, dass er ihnen gleichsam die geringe Befriedigung übelnahm, die die Heirat mit dem hübschesten Mädchen der Schule ihm verschafft hatte. Von seinen kurzen und sicher zufälligen Liebschaften blieb nur das Gefühl, hereingelegt worden zu sein. Trotz seiner schweigsamen Art und seinen Wutanfällen war Louise ihm gegenüber ausgeglichen geblieben. Sie wäre wahrscheinlich erstaunt gewesen, wenn sie sich hätte fragen müssen, ob sie ihn liebte.
Benoît hörte, wie Louise ihre Reisetasche Stufe um Stufe hochschleifte. Die Sonne fiel auf sein ungemachtes Bett, das Zimmer war voller Licht, und als Louise eintrat, erschien sie ihm von barbiehafter Blondheit. Sie drückte ihre Wange an seine – Benoît ahnte, dass sie dabei die Augen schloss –, dann setzte sie sich auf die Bettkante und zupfte mechanisch an den Laken, während sie über die Unordnung lachte. Ihr vom Bettüberwurf elektrisch aufgeladenes Haar plusterte sich in ihrem Rücken auf. Sie lächelte, das Kinn in die Hände, die Ellbogen auf die Schenkel gestützt, so anmutig wie ein junges Reh. Benoît roch das Fruchtaroma ihres Kaugummis, ihr Gesicht, ganz nah an seinem, war glatt und frisch. Nachdem sie ihn hatte schwören lassen, niemandem etwas zu sagen, legte sie sich halb aufs Bett, um aus der winzigen Tasche ihres Rocks einen mehrmals gefalteten Geldschein zu ziehen. Bei jedem Besuch schenkte sie ihm hundert oder zweihundert Francs, die sie Vincents Mutter gestohlen hatte, das war ihre Art zu teilen, was sie für das Glück ihrer Ehe hielt: ein großes neues Haus mit Fernsehern in den Schlafzimmern und einem ganzen Stockwerk, das dem jungen Paar vorbehalten war. Louise hielt immer noch Benoîts Hand; der Geldschein schien zwischen ihren beiden Handflächen aufzuweichen. Sie erzählte, dass sie sich vor der Abreise mit Vincent gestritten habe, und zeigte ihm die kleine Schramme, die er ihr unter dem Ohr zugefügt hatte, als er sie an den Haaren zog. In ihren Worten lag überhaupt kein Groll. Louise hatte keine besonderen Ansprüche an die Liebe und fand sich leicht mit den Widrigkeiten des Zusammenlebens ab. Benoît, bezaubert von der schmeichelnden Melodie ihrer Stimme, wusste nicht, was er antworten sollte. Sie schwieg, ihre hellen Augen musterten hingebungsvoll sein Gesicht, das Gesicht ihres hübschen, lieben siebzehnjährigen Bruders; die Sonne verlieh ihnen die schillernde Tiefe von Glaskugeln. Benoît wünschte, sie bliebe noch ein wenig, aber die Kinder begannen schon, unruhig zu werden, weil sie nirgends zu sehen war. Da stand Louise auf und zog an ihrem Minirock. Ihre Lippen waren unter der fast völlig verblassten Schminke tiefrot; sie drückte sie mit einem Naserümpfen auf die seinen und öffnete dann den Kindern, die sie mit der Grazie einer Diva um sich scharte. Die kurzgeschnittenen Ponys gaben ihnen einen sonderbar verängstigten Ausdruck. Sie mochten ihren Onkel, schienen ihn aber bei jedem Besuch ein bisschen weniger zu kennen und blieben an die langen Schenkel ihrer Mutter geschmiegt, bis sie sich in ihr Zimmer verziehen durften.
Unten fand Benoît seine Mutter damit beschäftigt, die Schuhe aufzuräumen, die die Kinder durch den Hausflur geworfen hatten. Sie trug ein eher kurzes, tailliertes Kleid, das ihrer fülligen Figur schmeichelte, und ihre gebleichten Haarsträhnen waren absichtlich etwas zerzaust. Dass sie sich hübsch gemacht hatte, konnte aber nicht über ihre mürrische Laune hinwegtäuschen, die Benoît unangebracht fand. Als er unten an der Treppe stehenblieb und zusah, wie Louise den Kleinen die Hände wusch, bat ihn seine Mutter,