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Schrei aus der Stille
Schrei aus der Stille
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eBook266 Seiten3 Stunden

Schrei aus der Stille

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Über dieses E-Book

Scotty hasst das Leben im der "Hood" einer amerikanischen Großstadt. Ob es für ihn einen Ausweg gibt, ist ungewiss. Roper, der brutale Freund seiner Mutter, macht ihm das Leben zur Hölle. Streit, Prügel und Erniedrigungen gehören zum Alltag. Als Roper damit droht, sich umzubringen, ist der vorläufige Höhepunkt der Gewalt erreicht. Wird sich denn nie etwas ändern? Scottys Beratungslehrerin, will den Menschen im Ghetto eine Stimme geben. Scotty organisiert eine Videokamera. Und dann filmt er. Alles.

Dieser Roman ist ein CROSSOVER-Buch des ARAVAIPA-Verlages. Wir nutzen diese Bezeichnung für besondere Geschichten, denen wir für unsere Leser keine obere Altersgrenzen setzen wollen.
SpracheDeutsch
HerausgeberARAVAIPA
Erscheinungsdatum12. Juli 2019
ISBN9783038642282
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    Buchvorschau

    Schrei aus der Stille - Werner J. Egli

    Ende

    1

    Der Herzschlag Amerikas

    Scotty schrak aus einem Traum, an den er sich später vergeblich zu erinnern versuchte. Hatte irgendetwas mit Hollywood zu tun und mit dem alten VHS-Videorekorder, den ihm sein Vater vor Jahren einmal geschenkt hatte und den dann seine Mutter später verhökerte, weil sie eine Lebensmittelrechnung bei Kandinski nicht mehr bezahlen konnte. Durch das Fenster fiel Neonlicht der Leuchtreklame, die bei Patterson's Deli auf der anderen Straßenseite über der Ladentür hing. Das Fensterkreuz warf einen großen Schatten gegen die Wand, an der ein Schwarzweißposter hing, mit dem Gesicht von Malcolm X drauf, und in roten großen Pinselstrich-Buchstaben der Name Malcolm X. Das Kreuz lag schräg über Malcolm X und der untere Balken zog sich in das Poster von Miss Piggy und über die Kommode mit den abgebrochenen Schubladengriffen und über einen Stuhl, auf dem Scottys Jeans und sein T-Shirt lagen, die er am Morgen anziehen wollte.

    Neben der Tür lag Saul auf einer Matratze. Er schlief, hatte seine Decke über sich gezogen, sodass nicht einmal mehr sein Haarschopf herausragte.

    Die Zimmertür war einen Spaltbreit offen und im Spalt stand Mona. Sie stand dort und starrte ihn aus ihren großen Augen an und das Haar ragte wild von ihrem Kopf ab und sie trug eines seiner alten T-Shirts, zerrissen wie es war, weil sie es über alles liebte. Er wusste nicht mehr, wann er es ihr gegeben hatte, vor einem halben Jahr oder so, und seither war sie nur ein kleines Stück gewachsen und so reichte es ihr immer noch bis zu den Fußknöcheln und die Ärmel bedeckten ihre Arme bis an die Finger, weil es ihr lose von den schmalen Schultern herunterhing. Sie sah aus wie ein Engel, der auf dem Flug hierher in einen Wirbelsturm geraten war.

    Sie sagte nichts. Sie stand nur da und starrte ihn an und ihre Augen sagten ihm, was sie ihm nicht sagen konnte. Und dann hörte er die Geräusche, die aus einem anderen Zimmer kamen. Aus dem Schlafzimmer seiner Mutter. Er hörte die Geräusche, die er schon hundertmal gehört hatte, dieses Knarren des Bettes und das Gejammer und Gestöhne seiner Mutter und die Stimme eines Mannes, irgendeines Mannes, der nicht sein Vater war, und er konnte sich nicht mehr erinnern, wann ihn diese Geräusche das letzte Mal aufgeweckt hatten, irgendwann, als er so alt gewesen war wie jetzt seine Schwester Mona, nur hatte er damals zu niemandem gehen können.

    „Komm her", flüsterte er.

    Sie kam zu ihm, er hob das Betttuch etwas an und machte ihr Platz und sie kroch zu ihm und er legte einen Arm um sie und streichelte ihr über das drahtige Haar und küsste sie.

    „Ich war auf der Achterbahn", flüsterte sie.

    „Im Traum", erwiderte er und das Rumpeln, das vom Schlafzimmer nebenan durch die Wand drang, erinnerte ihn tatsächlich an die Geräusche, die die alte Achterbahn unten am Seeufer machte.

    Vier Jahre alt war Mona. Sie hatte einen anderen Vater als er, aber niemand wusste, wer ihr Vater war. Irgendeiner von denen, die in einer Nacht hergekommen waren und mit seiner Mutter geschlafen hatten. Einer von denen die wieder abhauten, wenn seine Mutter genug hatte und der Morgen graute. Einer von denen, die nicht gehen wollten, oder einer, der sich davonschlich wie ein Dieb und nie mehr zurückkehrte. Irgendeiner.

    Der, der heute mit seiner Mutter schlief, hieß Roper. Er war seit Ewigkeiten da. Hockte Tag für Tag im Zimmer, wo der alte Fernseher stand, das Fenster mit einer schmutzigen Decke verdunkelt, und glotzte. Glotzte Baseball und aß Käse und Brot und Erdnüsschen und Hamburger und Pizza und glotzte noch mehr Baseball und rauchte und trank Bier und Cola und noch mehr Bier, manchmal nur mit einem Hemd bekleidet und seiner dreckigen Unterhose, der merkwürdig helle Speckbauch zwischen den Hemdknöpfen hervorquellend, mit seinem fettglänzenden fetten Gesicht und den geröteten Augenlidern und seinen nackten Füßen, an denen die Zehennägel wulstig und verbogen über die Zehen herausragten.

    „Warum geht er nicht mehr weg?, fragte Mona ihren Bruder immer wieder. „Warum geht er nicht mehr weg?

    „Er wird wieder weggehen", versicherte ihr Scotty immer wieder.

    Saul schüttelte den Kopf. „Der kommt immer wieder."

    „Eines Tages geht er weg und kommt nicht mehr zurück, Saul. Du wirst sehen."

    Aber er ging nicht weg. Drei Wochen vergingen. Früher war er ein Baseballspieler für einen Talentklub der Mets gewesen, der es trotz aller Vorschusslorbeeren und einer grandiosen Saison in der oberen Amateurliga nie bis zum Profi geschafft hatte. Hatte kein Glück. Kannte vielleicht nicht die richtigen Leute, vor denen er zu Kreuze kriechen konnte. War vielleicht nie ein Arschkriecher gewesen. Jetzt saß er da und glotzte Baseball. Im Zimmer, in dem der Fernseher stand, stank es wie in einem Abfallcontainer. Nach Fäulnis. Nach Schweiß. Am Boden lag alte Pizza herum, auf der sich wie Pusteln Schimmelpilz gebildet hatte. Ausgelaufene Bierflaschen. Der Teppich stank. Das Bett stank. Der Mann stank.

    Manchmal verließ er die Wohnung. Dann blieb er einige Stunden fort. Und Scotty hoffte, dass er nie mehr zurückkommen würde, und je länger er nicht kam, desto größer wurde die Hoffnung, dass er nie mehr zurückkehren würde.

    Und dann war er wieder da, mit einer Zwölfer-Packung Bier, vom billigsten und mit einer Stange Zigaretten, ohne Filter, einer Pizza oder einer Tüte von McDonald's.

    „Wer Pizza will, soll sich bei mir melden."

    Sie stellten sich alle an und erhielten alle ein Stück Pizza von ihm. Das machte ihm Spaß. „Ihr seid meine Kinder", sagte er und lachte höhnisch, weil sie alle drei nicht seine Kinder waren. Auf der Pizza waren Sardellen. Die pickten Scotty, Saul und Mona weg und fütterten damit den Kater, der in der Wohnung oben wohnte und der Angelino hieß.

    Und manchmal gingen sie beide weg, Roper und seine Mutter. Zum Stempeln und um die Lebensmittelmarken abzuholen und den Scheck vom Sozialamt kassieren. Und dann hoffte Scotty, dass sie beide nicht mehr zurückkehren würden, aber sie kehrten immer wieder zurück und, da sie jetzt Geld hatten, meistens betrunken, und wenn seine Mutter betrunken war, war sie überhaupt nicht mehr auszuhalten, weil sie dann Streit suchte. Dann stritten sie sich stundenlang, bis er sie verprügelte oder sie ihn, und dann, wenn es endlich wieder still war, kamen die Geräusche aus dem Zimmer, das Gejammer seiner Mutter und das eklige Gestöhne und die Stimme von Roper, der Dinge sagte, die kein Mann einer Frau sagen sollte, und wenn es danach endlich wieder still war, dann fing er zu schnarchen an und er schnarchte den Rest der Nacht. Sein Schnarchen übertönte das Geräusch des Fernsehers, der am Morgen plötzlich loslegte, als wäre jeder Morgen einer, der lautstark gefeiert werden musste.

    „Good morning, America! Wie geht es uns denn heute? Blendend. Alles in Butter. Der Dow Jones ist wieder auf eine Rekordhöhe angestiegen. Bald sind wir alle Millionäre. Das Wetter ist zur Zeit fabelhaft. In ungefähr zwei Minuten begrüßen wir bei uns im Studio den Modeschöpfer Lazaro Bernardino und sein Starmodel Noelina, die heute hier bei uns in der Sendung nach achtzehn Jahren Versteckspiel ihr „Outing macht und in aller Offenheit über sich und ihr Leben im Schatten der Magersucht spricht. Aber zuvor noch ein Wort von unserem Sponsor: CHEVROLET: cars, vans and trucks — the heart-beat of America! Bleibt also schön dran …

    „Scotty!"

    Scotty saß schon auf dem Bettrand und rieb sich die Augen.

    „Scotty, verdammt, mach deiner Schwester die Milch warm und dann ab in die Schule, hörst du!"

    „Es ist keine Milch mehr da."

    „Keine Milch?", fragte seine Mutter aus dem anderen Zimmer durch die Wand.

    „Keine Milch."

    „Pulvermilch?"

    „Auch nicht."

    „Scheiße!"

    Danach kam nichts mehr. Scotty suchte in der Küche herum, fand Milchpulver in einer Dose, machte in einer schmutzigen Pfanne mit angebrannter Milch zwei Tassen Wasser warm, rührte die Pulvermilch hinein, holte Mona aus dem Bett, kämmte sich, während sie sich die Zähne putzte, gab ihr die Milch zu trinken und ein Randstück von einer alten Pizza, an dem noch ein bisschen Käse und Tomatensoße hing, aß selbst nichts, weil er am Morgen nichts essen konnte, bevor er richtig wach war.

    „Geh zu Tante Melanie und warte, bis ich dich abhole!"

    „Wann darf ich mit in die Schule kommen?"

    „Wenn du älter bist."

    „Ich weiß. Aber das dauert so lange."

    „Geh jetzt."

    „Kommst du mich abholen?"

    „Ja."

    „Sicher?"

    „Geh jetzt!"

    „Tschüs, Scotty."

    „Tschüs, Mona Lisa."

    Wie immer ihr merkwürdigstes Lächeln lächelnd, wenn er sie Mona Lisa nannte, wollte sie hinausgehen, aber da hörten sie Roper aufstehen, und so schnell Mona konnte, rannte sie in die Schlafkammer, die eigentlich ein Teil der Küche war und höchstwahrscheinlich früher einmal als Vorratskammer gedient hatte. Scotty schickte sich an seine Sporttasche zu holen, in der er alles aufbewahrte, was er in der Schule brauchte, aber da kam Roper schon aus dem Zimmer, stellte sich im Flur auf, so dick, dass Scotty nicht an ihm vorbeigekommen wäre. Er war nur mit seiner dreckigen Boxerunterhose bekleidet, die vorne weit offen stand, und er kratzte sich zwischen den Beinen und am Bauch und gähnte und ging auf die Toilette. Scotty warf schnell einen Blick in das Schlafzimmer, in dem seine Mutter im Bett lag. Er konnte nur ihren nackten linken Arm sehen und ihr krauses Haar mit weißen Fuseln vom Bettlaken drin und er wollte zu ihr gehen und ihr einen Kuss geben und ihr Guten Morgen sagen, aber er starrte nur zu ihr hinüber und erinnerte sich an den einzigen Tag in seinem Leben, an dem sie einmal aufgewacht war und sich aufgesetzt hatte.

    „Komm her, Scotty", hatte sie gesagt und ihre Hand ausgestreckt und er war zu ihr gegangen und unter die Bettdecke geschlüpft und hatte sich fest an sie gedrückt.

    „Solltest du verdammt nicht längst in der Schule sein?", sagte Roper, als er aus dem Klo kam.

    „Fuck you!", sagte Scotty.

    Ropers Augen veränderten sich. Blitzten auf. Er hörte auf sich zu kratzen, kam auf Scotty zu.

    „Was hast du da eben gesagt?", fragte er.

    „Fuck you!"

    Roper knallte ihm eine mit seiner großen dreckigen Faust und Scotty flog durch den Flur und knallte gegen die Wand bei der Eingangstür.

    „Fuck you!", stieß er noch einmal hervor.

    „Du kleiner Bastard, ich bring dich um wie eine stinkende Ratte!"

    „Roper! Wenn dem Jungen was passiert, kriegst du es mit mir zu tun!"

    „Der Junge ist eine stinkende Ratte!"

    „Er ist mein Sohn, verdammt! Komm ins Bett, du alter Bock!"

    Mona begann zu schreien. Das machte Roper rasend. Er schlug Scotty mit der Faust auf den Kopf. Scotty ging in die Knie. Da trat Roper ihm in den Bauch. Zweimal. Mit seinem nackten Fuß und den dicken Zehennägeln. Scotty kotzte die Milch, die er getrunken hatte und versuchte sich klein zu machen, kauerte sich hin und zog den Kopf zwischen die Arme, aber Roper schlug ihn mit der Faust und trat ihn und dann kam endlich Scottys Mutter aus dem Schlafzimmer und sie fiel Roper in den Arm.

    „Hör auf, Roper!"

    Er lachte und schlug nach ihr und er traf sie und sie taumelte rückwärts durch den Flur und er folgte ihr und fragte sie, was sie denn tun wolle, um ihn aufzuhalten.

    „Ich mach euch alle kalt!", triumphierte er und er schlug auf sie ein, bis sie am Boden lag, und sie verhöhnte ihn und nannte ihn einen Schwächling, der sich an Frauen und Kindern vergreifen würde.

    „Hau ab, Roper! Ich will dich nicht mehr sehen, verstehst du! Hau ab, bevor ich die Bullen rufe und ihnen alles sage, was du mir erzählt hast!"

    Er schlug auf sie ein, bis sie sich nicht mehr wehren oder schützen konnte. Und als sie am Boden lag, ging er ins Schlafzimmer. Es war jetzt still in der Wohnung. Niemand atmete. Bis Roper mit dem Gewehr zurückkam. Er sah überhaupt nicht mehr aus wie ein Mensch, sondern eher wie ein Wesen, das seinem eigenen Grab entstiegen war.

    „Ich bring mich um!, sagte er. „Ich bring mich um!

    „Nein, Roper!, schrie seine Mutter. „Bitte, lass mich nicht allein!

    Roper blieb stehen. Seine Augen glühten.

    „Ich bring mich um!, sagte er noch einmal ziemlich leise. Und dann brüllte er. „Ich bring mich um! Ich bring mich um!

    Scottys Mutter schrie, als wollte er nicht sich, sondern sie umbringen.

    „Lass ihn doch!, rief Scotty. „Lass ihn doch, Mom!

    Von oben schlug die Alte mit ihrem Stock auf den Fußboden.

    Roper trat die Küchentür ein und setzte sich in der Küche auf einen Schemel. Dort blieb er sitzen, mit dem Gewehr in den Händen und stierte vor sich hin wie einer, der keinen Ausweg mehr sah.

    Scottys Mutter kroch in die Küche. Jemand hämmerte gegen die Tür.

    „Scotty, bist du da drin?", rief der Mann von nebenan.

    Scotty gab ihm keine Antwort.

    „Scotty, ich hab die Bullen angerufen. Die sind gleich da!" Scotty stand auf und ging zu seiner Mutter, die zusammengekrümmt in der Küche lag.

    „Ich bring mich um", murmelte Roper.

    Scotty gab ihm keine Antwort. Er half seiner Mutter auf und zog sie mit sich ins Schlafzimmer. Seine Mutter begann wieder zu schreien.

    „Dann tus doch, Roper!, schrie sie hysterisch. „Worauf wartest du? Bring dich endlich um, verdammt!

    2

    Blut an den Schuhen

    „Scotty, sagte Mrs. Fahey, „was ist passiert?

    Er wandte sich von ihr ab, sodass sie ihm nicht in die Augen sehen konnte.

    „Nichts", sagte er.

    Sie blickte die anderen an.

    „Weiß von euch jemand, was geschehen ist?"

    Niemand antwortete ihr. Einige wichen ihrem Blick aus. Andere starrten sie gleichgültig an. Ein paar blickten woanders hin. Aus dem schmutzigen Fenster hinaus auf den Schulhof, hinüber zur dunkelroten Backsteinmauer der Turnhalle mit den vergitterten Fenstern und dem alten, grün oxidierten Kupferdach, auf dem einige Tauben saßen und ihr Gefieder putzten.

    „Scotty, wenn du willst, darfst du Dr. Bishop in ihrem Büro aufsuchen. Ich bin sicher, dass sie dir helfen kann."

    Scotty blieb bei der Tür stehen. Er hätte sie nur öffnen und hinausgehen müssen, aber er stand dort auf dem Linoleumboden mit den Punkten, als hätte er Wurzeln geschlagen. Der Wand zugedreht. Niemand konnte ihm in die Augen schauen, auch seine ihn anstarrenden Mitschüler und Mitschülerinnen nicht. Niemand konnte den Schmerz sehen und den Zorn und niemand konnte den Schrei hören, der tief aus seinem Innern kam und in seiner Kehle stecken blieb, als wäre sie ihm zugeschnürt worden.

    Und die Tränen, die ihm in den Augen brannten, unsichtbar für all die anderen, weil er nicht mehr weinen konnte.

    „Wenn du mir irgendetwas sagen willst, Scotty, wir können zusammen rausgehen, versuchte Mrs. Fahey noch einmal. „Die Klasse weiß, was sie zu tun hat. Sie blickte ihre Schüler und Schülerinnen an. „Nicht wahr, ihr wisst, was ihr zu tun habt?"

    „Er soll mit seinem Geflenne aufhören oder nach Hause gehen", sagte Alan Chandler von weit hinten, während er ohne einmal aufzublicken mit dem Kuli auf seinem linken Unterarm herumkritzelte.

    „Soll ich Dr. Bishop rufen, Scotty?"

    Jetzt schüttelte er den Kopf. Ohne ein Wort zu sagen ging er zu seinem Pult und setzte sich auf den Stuhl. Er hatte seine Schultasche nicht bei sich und trug nur ein schmutziges T-Shirt voller Blutflecken und eine abgetragene Bluejeans, die ihm viel zu groß war. Sein Gesicht war verschwollen und voller Blutergüsse. Die Augen leer, lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

    Er war anderthalb Stunden zu spät zur Schule gekommen und hätte sich eigentlich zuerst bei der Schulleitung melden müssen. Jetzt saß er da und blickte Mrs. Fahey an, blickte sie direkt an und durch sie hindurch, und die Bilder, die er noch immer vor Augen hatte, brannten sich tief in seine Seele ein. Er hörte Mrs. Fahey von einem amerikanischen Schriftsteller reden, der schon vor mehr als hundert Jahren gestorben war, hörte jemanden fragen, warum es denn so wichtig sei, in vorsintflutlichen Büchern zu lesen, in denen doch überhaupt nichts drinstand, mit dem man heutzutage etwas hätte anfangen können, Gewalt zum Beispiel, und Sex und solche Sachen.

    Scotty hörte die Worte, aber sein Kopf nahm sie nicht auf. Er hörte nur Roper schreien, dass er sich umbringen würde. Er hörte seine Mutter schreien und seine kleine Schwester Mona ganz leise wimmern, die sich in der Küchenkammer eingesperrt hatte, und er hörte seinen kleinen Bruder Saul, der auf seinem Bett hockte und sich in die Handknöchel biss, er hörte das Geschrei von Mrs. Harris von der oberen Wohnung und das Poltern an der Tür, die Roper verriegelt hatte, und die Stimme von Jack Lee, der nebenan wohnte und jetzt durch die verriegelte Tür brüllte, dass die Bullen schon unterwegs seien.

    „Ich habe die Bullen gerufen, verdammt!, brüllte er. „Liz, halt ihn auf, verdammt! Die Bullen sind gleich da!

    Roper trat gegen die Tür. „Fuck you, du Hurensohn! Ich mach dich kalt und ich mach die Scheißbullen kalt!"

    „Fuck you, Roper!", brüllte Jack Lee.

    Da trat Roper die Tür ein und stürzte auf den Hausflur hinaus und die Knarre in seiner Hand ging los und Scotty sah, wie Jack Lee vor der Tür zusammensackte, als hätte er plötzlich keine Knochen mehr im Leib und keine Glieder, sackte einfach zusammen und blieb zusammengekrümmt und irgendwie verdreht auf dem rissigen Betonboden liegen und Roper stieg über

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