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Tierreich
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eBook493 Seiten7 Stunden

Tierreich

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Über dieses E-Book

Während Europa von Kriegen und Umwälzungen erschüttert wird, kämpft eine Familie von Schweinezüchtern um ihr Fortbestehen - und nutzt die in immer größerem Maßstab stattfindende Ausbeutung des Rohstoffs Tier, um sich in unsere heutige, hochindustrialisierte Welt hinüberzuretten.
Éléonore, Kind eines kranken Vaters und einer lieblosen Mutter, erbt Anfang des 20. Jahrhunderts von ihren Vorfahren Schweine und die Gewissheit, dass Gewalt gegen Mensch und Tier zum Leben dazugehört. Mit Disziplin und unbändiger Härte gegen sich selbst allen Schicksalsschlägen trotzend, hält sie den landwirtschaftlichen Betrieb aufrecht und versteht es, ihn über die Jahrzehnte hinweg zu vergrößern und später ihrem Sohn Henri zu übergeben. Achtzigjährig erlebt die erschöpfte Matriarchin schließlich, wie dieser mit ihren Enkeln Serge und Joël den familiären Zuchtbetrieb zu einer gigantischen, die Ressource Tier grausam ausbeutenden Tierfabrik ausbauen. Das anonymisierte Elend der Schweine spiegelt nicht nur den Wahnsinn dessen, was die Menschheit unter Fortschritt versteht, sondern wirft auch die Frage auf: Wer sind die eigentlichen Bestien?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum20. März 2019
ISBN9783957577382
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    Buchvorschau

    Tierreich - Jean-Baptiste Del Amo

    (1981)

    DIESE VERDAMMTE ERDE

    (1898–1914)

    Kaum dass der Frühling sich zeigt und bis spät in den Herbst hinein setzt er sich abends auf die kleine Bank aus genageltem und wurmstichigem Holz, mit der abschüssigen Sitzfläche, unter dem Fenster, dessen Rahmen in der Nacht ein kleines Schattenspiel auf der Steinfassade auslöst. Drinnen auf dem Tisch aus massiver Eiche hechelt eine Öllampe, und das ewig knisternde Feuer im Kamin wirft auf die mit Salpeter überzogenen Wände den geschäftigen Schattenriss der Ehefrau, schwingt ihn hinauf zu den Deckenbalken oder bricht ihn in einer Zimmerecke, und dieses gelbe, flackernde Licht bläht den großen Raum auf, durchbricht dann die Dunkelheit des Hofes und zeichnet den Vater im Umriss, bewegungslos und schwarz, in einer Art Gegenlicht. Im Wechsel der Jahreszeiten erwartet er die Nacht auf dieser Holzbank, derselben, auf der er bereits seinen Vater vor ihm hat sitzen sehen und deren moosbewachsene und mit den Jahren morsch gewordene Füße immer mehr nachgeben. Wenn er dort sitzt, ragen die Knie bis hinauf an seinen Bauch, sodass er Schwierigkeiten hat, wieder hochzukommen, dennoch hat er nie daran gedacht, die Bank durch eine neue zu ersetzen, und bliebe von ihr auch nur ein letztes heiles Brett am Boden. Er glaubt, dass die Dinge so lange wie möglich so bleiben sollten, wie er sie immer gekannt hat, so wie andere vor ihm sie als gut erachtet haben oder so wie ihr Gebrauch sie eben hat werden lassen.

    Wenn er vom Feld zurückkommt, zieht er sich gegen den Türpfosten gestützt die Schuhe aus, kratzt den Dreck sorgfältig von den Sohlen, bleibt auf der Zimmerschwelle stehen, wo er die feuchte Luft einsaugt, den Atem der Tiere, die strengen Dünste von Ragout und Suppe, von denen die Fenster beschlagen sind, so wie er einst als Kind stehen geblieben war und wartete, bis seine Mutter ihm bedeutete, er solle sich an den Tisch setzen, oder sein Vater zu ihm kam und ihn mit einem kleinen Stoß gegen die Schulter zur Eile antrieb. Sein langer und magerer Körper ist nach vorne gebeugt und weist am Nackenansatz eine skurrile Wölbung auf. Sein Hals ist so sonnengegerbt, dass er selbst im Winter nicht heller wird und für immer von einem geräucherten, dreckigen Leder umhüllt und wie gebrochen wirkt. Ähnlich einer Knochenzyste steht der erste Wirbel zwischen den Schultern hervor. Er nimmt den ausgebeulten Hut ab, der seinen schon kahlen, von der Sonne fleckigen Schädel bedeckt, hält ihn einen Augenblick lang in den Händen, als versuchte er, sich der Geste zu erinnern, die er nun ausführen soll, oder als hoffte er noch immer auf die Anweisung jener Mutter, die schon lange tot ist, von der Erde verschlungen und verdaut. Angesichts des beharrlichen Schweigens der Ehefrau entschließt er sich am Ende doch weiterzugehen, eingehüllt in den eigenen Gestank und den Gestank des Viehs, hin zum Schrankbett, dessen Tür er öffnet. Er setzt sich auf den Matratzenrand oder stützt sich erneut an der geschnitzten Holztür ab und knöpft zwischen zwei Hustenanfällen sein verklebtes Hemd auf. Am Ende des Tages ist ihm nicht nur das Gewicht seines Körpers unerträglich, von dem die Krankheit indes gewissenhaft alles Fett und Fleisch abgenagt hat, sondern allein schon das Aufgerichtetsein, und es scheint, als drohe er jeden Augenblick umzufallen, auf den Boden hinabzusegeln wie ein welkes Blatt, dabei zunächst die stickige Luft des Zimmers fegend, von rechts nach links und von links nach rechts, um sich dann einfach auf dem Boden abzulegen oder unter das Bett zu gleiten.

    Auf dem Feuer, in einem gusseisernen Kessel, ist das Wasser inzwischen erhitzt worden, und die Erzeugerin reicht Éléonore den Krug mit kaltem Wasser. Das Mädchen macht nur kleine Schritte, denn es fürchtet, das Gefäß zum Überlaufen zu bringen, aus dem trotz aller Vorsicht Wassertropfen erst die Hände, dann die Unterarme entlanglaufen und die hochgekrempelten Ärmel ihrer Bluse durchnässen, während sie feierlich auf den Vater zugeht. Sie spürt, wie ihr Nacken unter dem vorwurfsvollen Blick der Erzeugerin zittert, die dicht hinter ihr ist und droht, sie mit dem kochend heißen Wasser aus der Schüssel zu übergießen, wenn sie sich nicht beeilt. Im Halbdunkel gelandet wie ein großer Vogel, die Ellbogen auf den Knien, die Arme und Hände schlaff vor sich baumelnd, ist der Vater in die Betrachtung der Holzmaserung des Schranks versunken oder in die des auf dem Waschtisch brennenden Dochts, der gegen die Dunkelheit ankämpft. Das spärliche Licht der Flamme reflektiert sich im Oval des an die Wand genagelten Spiegels und lässt vom Zimmer kaum mehr als ein Zerrbild übrig. Durch eine Öffnung in der Lehmmauer, auf Hüfthöhe, stecken zwei Kühe ihre Köpfe und wiederkäuenden Mäuler. Der Dunst ihrer trägen Körper und der Exkremente, die sie unter sich lassen, wärmt die Menschen. In ihren bläulichen Pupillen spiegeln sich die kleinen Szenen, die diese beim Feuerschein des Kamins darbieten. Der Anblick der Ehefrau und des Kindes scheint den Vater aus seiner nebelhaften Träumerei zu reißen und zurück in diesen schmächtigen, von Venen durchzogenen Körper zu führen. Wie gegen seinen Willen findet er die Kraft, sich wieder zu bewegen. Er rappelt sich von seinem kläglichen Lager hoch, zeigt den bleichen Rücken, richtet den mit grauem Flaum bedeckten Oberkörper wieder auf, in den Furchen von Rippen und Schlüsselbeinen gefangen wie das Tollkorn im Getreide. Der Bauch ist eingefallen, gelbgefärbt vom Kerzenlicht. Er lockert die Arme mit den schwieligen Ellbogen und deutet manchmal sogar ein Lächeln an.

    Die Erzeugerin schüttet das heiße Wasser in die auf den Waschtisch gestellte Wanne. Sie nimmt den Krug aus Éléonores Händen, stellt ihn auf die Ablage, ehe sie zurück in ihre Küche geht, ohne den Vater eines Blicks zu würdigen, bemüht, ihren Augen das Bild des Mannes mit dem nackten und dürren Oberkörper zu ersparen, der ebenso abgemagert ist wie der direkt an die Wand am Fußende des Bettes genagelte Jesus Christus. Oben vom Kreuz herab wacht Er über ihren Schlaf und erscheint ihr in ihren späten und schläfrigen Gebeten, lediglich angekündigt durch einen Lichtstrahl des Mondes oder den hüstelnden Rest einer Kerze, deren Schein sich durch den Türspalt des Schrankbetts einschleicht, ein zu Tode gekreuzigtes Abbild des neben ihr eingeschlafenen Vaters, von dem sie inzwischen sorgsam Abstand hält, weil sie seine Nachtschweiße, seine spitzen Knochen, seinen pfeifenden Atem nicht mehr ertragen kann. Aber es kommt vor, dass sie, wenn sie sich von diesem Mann abwendet, der sie geheiratet und geschwängert hat, das Gefühl überfällt, sie verrate dadurch ihren Glauben und sie wende sich vom Sohn, ja von Gott selbst ab. Von diesem Schuldgefühl getrieben, wirft sie ihm, dem Ehemann, also einen raschen Blick zu, eine schroffe und harte Geste des Mitgefühls, und steht wieder auf, um die Wanne mit dem blutigen Auswurf, den er die ganze Nacht über aushustet, zu leeren, ihm einen Senfwickel zu bereiten oder einen Thymiantee mit Honig und Schnaps, den er, an den Kopfteil des Bettes gelehnt, von seinen Kopfkissen gestützt, in kleinen Schlucken hinunterschlürft, beinahe gerührt von dieser Fürsorge und sorgsam bedacht, nicht zu schnell zu trinken, um ihr seine Dankbarkeit zu zeigen, so als ob er diese bitteren und unwirksamen Abkochungen genösse, während sie von einem Bein aufs andere tritt. Denn schon hat sich das Bild des Vaters am Kreuz verflüchtigt, mit ihm auch das Schuldgefühl, und jetzt will sie so schnell wie möglich in ihr Bett zurück und im Schlaf versinken. Sie wendet sich ab, mit der Tasse oder der Wanne in der Hand, und schimpft so leise vor sich hin, dass er ihre Worte für Klagen hält, gegen seine kränkelnde Natur, gegen diese chronische Krankheit, die seit beinahe zehn Jahren seine Lungen zerfrisst und aus einem einst robusten Mann dieses schmächtige und schwachbrüstige Würstchen macht, das nur noch fürs Sanatorium taugt; dann gegen ihr eigenes Pech oder die Hartnäckigkeit eines Schicksals, gegen das sie ankämpft, sie, die bereits eine gebrechliche Mutter gepflegt und beide Elternteile begraben hat.

    Während der Vater sich über die dampfende Wanne beugt, aus der er mit den Händen Wasser schöpft und zu seinem Gesicht führt, hält Éléonore sich im Hintergrund, achtet aber auf jede einzelne der Verrichtungen dieser Waschung, die Abend für Abend im Lichtkreis der Lampe in gleicher Abfolge und Geschwindigkeit ausgeführt wird. Befiehlt die Erzeugerin ihr, sich hinzusetzen, beobachtet sie aus den Augenwinkeln die Wölbung dieses Rückens, den Rosenkranz der Wirbelsäule, den seifigen, über die Haut streichenden Waschlappen, die schmerzenden Muskeln, die Gesten, mit denen er ein frisches Hemd anzieht. Von einer fragilen Grazie belebt, gleiten seine Finger die Knopfleiste entlang wie die zittrigen Beinchen von Nachtfaltern, von Totenkopfschwärmern, deren Puppen in den Kartoffelfeldern ausschlüpfen. Dann steht er auf, setzt sich an den Tisch, und während die Erzeugerin sich ebenfalls setzt, führt er seine gefalteten Hände mit fest verschränkten Fingergliedern vors Gesicht, sein Blick verschwindet hinter den Fingerrücken mit den stark hervortretenden Gelenken, den schwarzen Nägeln. Mit einer vom Husten ganz rauen Stimme sagt er ein Tischgebet auf, und endlich essen sie, allein ihr Kauen, die auf den Tellern kratzenden Bestecke und das Gesumme der Fliegen, die von ihren Mundwinkeln zu verjagen sie sich gar nicht mehr die Mühe machen, durchbrechen die Stille, während die Erzeugerin wiederholt versucht, diesen gegen ihre Stimmritze drückenden Kiesel und die Gereiztheit, die das speicheltriefende Röcheln, das Knirschen der Backenzähne aus dem Mund des Ehemanns in ihr auslösen, wieder hinunterzuschlucken.

    Von allen Körperfunktionen ist es die Nahrungsaufnahme, die die Erzeugerin zutiefst verabscheut, sie, die nicht zögert, Rock und Unterrock anzuheben, um sich mit gespreizten Beinen zu erleichtern, wo immer sie sich befindet, mitten auf das Feld, in die Wasserrinne einer Dorfstraße oder direkt auf den Misthaufen im Hof, wo ihre Pisse vermischt mit der der Tiere den Boden entlangrinnt, und die, sollte ihr Bedürfnis ein anderes sein, sich nur rasch hinter einen Busch verzieht, um sich hinzukauern und zu kacken. Sie nimmt nur magere Rationen zu sich, karge Bissen, widerwillig hinuntergeschluckt mit vor Abscheu oder sofortigem Überdruss verzogenem Gesicht.

    Noch mehr widert sie der Appetit der anderen an. Sie geißelt das Kind und den Mann, die gelernt haben, mit gesenktem Kopf zu essen, und während sie das Mädchen misstrauisch beäugt, gemahnt sie den Vater, wenn er unterwürfig um ein weiteres Glas Wein bittet, daran, wie der berauschte Noah sich vor seinen Söhnen entblößte oder wie Lot Inzest beging. Sich selbst verordnet sie tagelange, ja wochenlange Fastenkuren. Nur ein paar Mundvoll Wasser gestattet sie sich, wenn der Durst allzu quälend wird. Im Sommer beschließt sie, aus Gründen der Sparsamkeit, sich nur noch von Beeren oder Früchten aus dem Obstgarten zu ernähren. Wenn sie dann im Innern der Pflaume oder des Apfels auf einen Wurm stößt, besieht sie ihn, zeigt ihn herum und isst ihn schließlich auf. Sie findet, er schmecke nach Opfer. Derart ausgetrocknet ist sie, dass sie nur noch eine blutleere, an knotigen Muskeln sitzende und hervorstechende Knochen überziehende Hauthülle abgibt. Einzig nach der Eucharistie in der Sonntagsmesse, wenn sie vor dem Altar die Kommunion erhält, sieht Éléonore sie genießen und sich ergötzen. Verzückt lutscht sie da den Körper Christi, dann geht sie mit hochmütiger Miene in ihre Bank zurück und schielt begehrlich zu der Pyxis hin, in der Vater Antoine standhaft die Hostien aufbewahrt. Nach dem Gottesdienst, während die Leute um sie herum miteinander plaudern, hält sie auf dem Kirchplatz für einige Augenblicke inne, hoheitsvoll, als ob sie sich aus einem Wachtraum reißen müsste oder die Kommunion, die von allen, wahrhaftig aber nur von ihr allein empfangen wurde, ihr eine außerordentliche Wichtigkeit verliehe und sie von den anderen Dorfbewohnern abhöbe. Sie löst mit kleinen Zungenschlägen die letzten Krümel ungesäuerten Brots von ihrem Gaumen, dann nimmt sie, ihre Tochter am Arm mit sich zerrend, wieder den Weg zurück in die Hügel, ohne auch nur mit einer Person ein Wort gewechselt zu haben, während der Vater diese kostbare Stunde Freiheit, die sie ihm zugesteht, beim Schopfe packt und loszieht, um die Cafés mit den anderen Männern aus dem Dorf abzugrasen. Einmal im Jahr verspürt sie das Bedürfnis, eine Wallfahrt nach Cahuzac im Gimoès zu unternehmen, wo sie zu Unserer lieben Frau von den sieben Schmerzen, Beata Maria Virgo Perdolens, betet, deren im Mittelalter von einem Bauern entdeckte Statue Wunder vollbringen soll und der sie sich durch das eine oder andere Geheimnis eng verbunden fühlt. Doch wenn dann im Advent junge Burschen an ihre Tür klopfen, um das Aguillonné zu singen, das Glück und Gesundheit fürs neue Jahr verheißt, sträubt sie sich, ihnen zu öffnen, und klagt, dass sie dann im Gegenzug Schnaps oder ein paar Eier vergeuden müsse. Sie allein weiß, was echten Glauben von Aberglauben unterscheidet. Auf dem Markt trifft sie manchmal auf Wahrsagerinnen: Auch hier zerrt sie das Kind an der Hand mit sich fort, riskiert, ihm die Schulter auszukugeln, wobei sie über ihre eigene einen Blick voller Neid, Wut und Bedauern in Richtung der Prophetin wirft.

    Am Ende der Mahlzeit stößt der Vater den Stuhl nach hinten und erhebt sich mit einem tiefen Seufzer, er zieht den Mantel aus Wolle über und setzt sich schließlich auf die Holzbank, wo er seine Stummelpfeife stopft und anzündet, deren Glut sogleich einen rotglühenden Schimmer auf seinen spitzen Nasenrücken und bis in die Vertiefung der Augenhöhlen wirft. Éléonore bringt ihm einen nach Nelken duftenden Glühwein, ein Glas Schnaps oder Armagnac, dann setzt sie sich neben ihn auf die kleine Bank aus genageltem und wurmstichigem Holz und saugt den beißenden Tabakgeruch ein, der in der Dämmerung oder der schwarzen Nacht aufsteigt und sich mit den Aromen der vom Regen aufgeweichten oder am Ende brütend heißer Tage einen Geruch nach aufgebrochenen Erdspalten und verdorrten Hainen ausströmenden Böden vermischt. In der Ferne zieht eine Herde Schafe durch die Dämmerung, ihre Glocken bimmeln leise. Die Erzeugerin bleibt in der Nähe ihres Feuers und wickelt Flachs auf einen Spinnrocken. Der Vater spricht nicht, aber er akzeptiert die zierliche und zarte Anwesenheit Éléonores, den Arm, der seinen leicht berührt. Sie gibt sich Mühe, seine Einkehr zu teilen und so wie er die Nacht und die Stille des Hofes zu ergründen, die purpurne und noch bläuliche Kulisse des Himmels, hinter der schon schwarzen Linie des Dachfirsts der Wirtschaftsgebäude, den Wipfeln der großen Eichen und Kastanien, und dazu die gedämpften Laute der Tiere, das hinter den Gattern des Hühnerstalls oder auf der Weide dösende Kleinvieh, das Grunzen des Schweins im Koben und das Glucken der Hennen. In den kühlen Nächten des Spätsommers, wenn der klare Himmel eine majestätische und sternenübersäte Kuppel bildet, fröstelt ihr, und sie steckt ihre Füße unter die bebende Flanke des Hundes, der vor ihnen ausgestreckt liegt, kuschelt sich an den Vater, und er hebt manchmal den Arm, damit sie den Kopf in seine Achselhöhle schmiegen kann.

    Dieser Körper ist ihr fremd, ebenso wie das Wesen, das ihn ausmacht, dieser wortkarge und kränkliche Vater, mit dem sie, seit sie auf diese Welt gekommen ist, nicht mehr als hundert Worte gewechselt hat, dieser armselige Bauer, der schuftet bis zum Umfallen und dadurch sein Ende beschleunigt, als ob er es eilig hätte, es hinter sich zu bringen, aber erst nach der Ernte, nach der Aussaat, nach dem Pflügen, nach … Die Erzeugerin zuckt die Schultern, seufzt. Sie sagt »wir werden sehen«, »so Gott will«, »dass der Herr dich erhöre und sich unser erbarme«. Sie fürchtet, dass er keine x-te Frist bekommt, denn was wird dann aus ihr, die Vollwaise ist und ein Kind zu ernähren hat? Sie spricht auch von den Mühen, die sie beim Gebären hatte, dem Unglück, dass sie zu alt dafür war, schon achtundzwanzig. Und dann nicht mal ein Junge, der von Kindesbeinen an dem Vater eine echte Hilfe gewesen wäre, diesem beherzten und unermüdlichen Mann, der aber keinerlei Ehrgeiz bewies und nur eine spröde Erde hinterlassen wird, einen dieser Familienbauernhöfe mit kargen Erträgen. Früher einmal besaß die Familie des Ehemanns Weinberge, aber die dramatischen Verwüstungen der Reblaus in den Weinbaugebieten hatten ihre wenigen zerstückelten und steinigen Parzellen nicht verschont, und der Vorfahr, der Vater des Vaters, war dann von einem Tag auf den anderen und ohne einen Mucks verstorben. Er brach ganz einfach zu Füßen seiner Kuh zusammen, die man in eben dem Graben weidend fand, in den sie den Pflug hineingezerrt hatte, während er in den Erdfurchen lag, trocken und verschrumpelt wie ein toter Rebstock. Nichts oder beinahe nichts scheint die Landwirtschaftskrise und die Entwertung des Getreides überlebt zu haben. Das Ödland breitet sich immer mehr aus, die jungen Leute gehen fort, die Mädchen streben eine Arbeit als Amme oder Dienstmädchen in bürgerlichen Haushalten in der Stadt an. Und die Burschen können in den Steinbrüchen oder auf dem Bau ihre von der Feldarbeit gut entwickelten Arme zu einem besseren Preis anbieten. Sie sagt manchmal, dass bald nur noch sie allein übrig bleiben werden in dieser feindseligen Landschaft, Unbelehrbare, die eine widerspenstige Erde aufhacken, welche sie früher oder später umbringen wird.

    Éléonore sitzt nur da, unbeweglich, eingekuschelt in den Geruch des Vaters, seinen Atem, verpestet von Tabak, Kampfer und den Tinkturen, die er inhaliert und auf ein Taschentuch träufelt, das den ganzen Tag in seinem Ärmel steckt. Sie spürt die harte Wölbung seiner Rippen unter dem Hemdstoff, wenn er tief einatmet oder von einem Hustenanfall geschüttelt wird, wenn er seinen Auswurf auf den Boden spuckt. Das Kind sinkt etwas in sich zusammen, döst weg. Eines nach dem anderen stürzen die Steingebäude des Gehöfts ein, dann der Boden unter ihnen, und es bleiben nur sie selbst, der Vater und der unsichtbare Bracke zu ihren Füßen in der nunmehr dichten, wässrigen Nacht, die ihr in die Nase dringt und ihre Lungen bläht. Sie allein, entrückt in einer feierlichen Raumzeitsphäre, wo die Gesänge der Insekten und der Raubvögel aus alten, längst vergangenen Zeiten zu kommen scheinen, wie das Leuchten schon toter Sterne über ihnen. Schließlich, wenn die Pfeife erloschen ist, sammelt der Vater seine letzten Kräfte, um das eigene Gewicht hochzustemmen und dazu Éléonore, deren Beine sich sogleich um seine Taille, deren Arme sich um seinen Hals schlingen, während ihr Kinn auf seiner Schulter ruht. Er legt sie auf das kleine, einer Truhe ähnelnde Bett neben der Schlafstatt der Eltern. Dann deckt er sie so behutsam zu, dass sie sich nie daran erinnert, wie sie zurück ins Haus gekommen ist, und am nächsten Morgen beim Erwachen zweifelt, ob sie diese Momente tatsächlich mit ihm geteilt hat.

    Die Erzeugerin, eine dürre Frau mit rotem Nacken und abgearbeiteten Händen, schenkt ihrer Tochter keine überflüssige Aufmerksamkeit. Sie beschränkt sich auf ihre Erziehung, vermittelt ihr das Wissen über die alltäglichen Aufgaben, die ihrem Geschlecht obliegen, und das Mädchen hat früh gelernt, ihr bei all ihren Arbeiten zu folgen und die entsprechenden Handgriffe und Haltungen nachzuahmen. Mit fünf Jahren hält sie sich aufrecht und streng wie eine Bäuerin, die Füße fest auf der Erde, die Fäuste gegen die schmalen Hüften gestemmt. Sie schlägt die Wäsche, buttert den Rahm und schöpft Wasser aus dem Brunnen oder den nahen Quellen, ohne dafür auf Anerkennung oder Zuneigung zu hoffen. Vor Éléonores Geburt hat der Vater die Erzeugerin zweimal geschwängert, doch ihr Monatsfluss, an sich kümmerlich und unregelmäßig, versiegte nicht während dieser Monate, in denen sie, wie sie im Nachhinein versteht, schwanger gewesen war, obwohl ihr Bauch nur eine leichte Rundung aufwies. Trotz ihrer Magerkeit war sie ein dickbäuchiges Kind gewesen, mit hart angespannten Organen und krampfhaften Parasitosen, die sie sich durch das Spielen mit Erde und Mist oder durch den Verzehr von verwurmtem Fleisch zugezogen hatte und die ihre Mutter vergeblich mit Knoblauchabkochungen zu behandeln versuchte.

    Eines frühen Morgens im Oktober, sie ist alleine im Koben und versorgt die trächtige Sau, wird sie mitten im Schweinegatter von einem jähen Schmerz gepackt, und sie sinkt auf die Knie, ohne auch nur einen Schrei von sich zu geben, auf das Heu, das sie gerade auf dem Boden verteilt hat und dessen weißer und duftender Staub noch in Spiralen aufwirbelt. Fruchtwasser läuft ihr über Schenkel und Strümpfe. Das Tier, von seinen eigenen Wehen geplagt, umkreist sie immer wieder, stößt dabei lange Klagelaute aus, sein enormer Bauch wabbelt beim Laufen von einer Seite zur anderen, die Zitzen sind von Milch schon angeschwollen, die Lippen der prallen Vulva bereits leicht geöffnet; und erst auf den Knien, dann auf der Seite liegend, wirft die Erzeugerin, wie eine Hündin, wie eine Sau, zuckend, hochrot, von ihrer Stirn perlt der Schweiß. Mit einer Hand tastet sie zwischen den Schenkeln nach dem klebrigen Brocken, der sie zerreißt. Sie drückt ihre Finger hinein in die Fontanelle, zieht die Missgeburt heraus und schleudert sie weit von sich. Mit einer Hand packt sie die bläuliche Schnur, die sie fesselt, und zieht aus ihrem Leib den Plazentasack, der mit einem Klatsch zu Boden fällt. Sie starrt auf den kleinen, von einer käsigen Schmiere überzogenen Körper, einem gelblichen Wurm ähnlich oder der grau und goldbraun glänzenden Larve eines Kartoffelkäfers, die man aus der fetten Erde und den Wurzeln zupft, von denen sie sich ernährt. Der Tag gleitet zwischen die losen Planken, malt Streifen in die saure und staubige Atmosphäre, in den tristen, vom Geruch nach Abdeckerei getränkten Halbschatten, berührt dann das reglose Gebilde im Heu. Die Erzeugerin rappelt sich wieder hoch, in zwei Teile zerrissen, eine Hand unter ihren Röcken, auf dem aufgewühlten bebenden Fleisch ihres Geschlechts. Sie weicht entsetzt zurück, verlässt das Gehege, wobei sie darauf achtet, den Riegel herunterzuklappen, und überlässt der Sau die Nachgeburt und ebenso ihre Frucht. Sie verharrt lange wie erstarrt, schweratmend, mit dem Rücken an eine Mauer des Stalls gelehnt. Vor ihren Augen flimmernde gleißende Linien. Dann verlässt sie den Hof und nimmt die Straße in Richtung Puy-Larroque, humpelnd in einem dichten Sprühregen, der über ihre Schläfen und ihre von den Lochien braun gefärbten Röcke rinnt. Sie überquert den Dorfplatz, ohne irgendjemanden eines Blickes zu würdigen. Diejenigen, die sie vorbeigehen sehen, bemerken den schmutzigen Rock, den sie mit der Faust umschließt, ihr totenbleiches Gesicht und den fest zusammengepressten Mund mit Lippen weiß wie eine alte Wundnaht. Die braunen, unter dem Kopftuch hervorquellenden Haare kleben ihr an Schläfen und Nacken. Sie stößt die Kirchentür auf und sinkt vor dem Kreuz auf die Knie.

    In einem heftigen Schlagregen kehrt sie zum Anwesen zurück und geht, unter dem stoischen Blick der reglos im Regenguss ausharrenden Kühe, an den Gräben entlang, die Strickjacke mit beiden Händen über dem platten Busen krampfhaft zusammenhaltend. Mit eingezogenem Kopf schleppt sie ihre schlammigen Holzpantinen über den Weg, psalmodiert ein Ave Maria, skandiert von ihren Atemstößen und dem Reiben der Holzsohlen auf dem aufgeweichten Boden. Als sie den Hof überquert, sieht sie von Weitem die Umrisse zweier Männer am Eingang des Schweinestalls. Sie bleibt stehen, gelähmt vor purer Angst. Ihr Herz, das im ersten Augenblick ausgesetzt hat, schlägt nun bis zum Hals. Der starke Regen versieht einen schieferfarbenen Himmel mit Streifen, die Luft scheint von tausend Nadeln zerstochen. Die Umrisse tauchen an der braunen Masse der Stallmauer auf, wie aufgelöst, sodass sie zunächst nicht erkennen kann, ob die Männer ihr die Vorderseite oder den Rücken zuwenden. Schließlich erahnt sie die Gesten der Hände, den Schwall ihres Atemhauchs, den gleichermaßen zerhackten Klang ihrer Stimmen. Sie wagt einen Schritt, eine Bewegung des Beins, fast wie betäubt oder unter dem Befehl eines tiefer liegenden Willens, ehe sie zum Haus stürzt, wo sie sich in fliegender Hast auszieht, ihre Strümpfe und den Unterrock ins Feuer wirft, die zischeln in der Glut wie ein Schlangenknoten, bevor sie unter dem trägen Blick zweier Kühe zu brennen beginnen. Sie bespritzt sich mit Spülwasser, dann wischt sie sich mit einem Lappen ab, den sie zwischen ihre Schenkel gleiten lässt, und zieht sich saubere und trockene Kleidung über.

    Sie setzt sich an den Tisch, auf die Bank. Sie überwacht das Fenster, hinter dem es wie aus Kübeln schüttet und der Regen vom schlammigen Boden des Innenhofs aufspritzt. Im Fensterrahmen erscheinen die Umrisse der Männer, und sie erkennt den hinkenden Gang von Albert Brisard, einem Einheimischen mit Klumpfuß, der von einem Bauernhof zum anderen zieht und seine Dienste anbietet. Sie rührt sich nicht, als sie näher kommen. Sie umklammert auf ihren Schenkeln einen Rosenkranz, zwischen ihren Händen mit den weiß hervortretenden Handgelenken, sagt stockend lateinische Verse auf: »… Du, der Du hinwegnimmst die Sünden der Welt, erbarme Dich unser; Du, der Du hinwegnimmst die Sünden der Welt, nimm an unser Gebet; Du, der Du sitzest zur Rechten des Vaters, erbarme Dich unser …«

    Als die Männer die Tür öffnen, erhebt sie sich abrupt und steht stocksteif und schweigend am Rand des Tisches. Eine Windböe fegt über den Hof und pfeift in das Zimmer herein, sprüht ihr einen Hauch Nieselregen ins Gesicht und den Geruch der Männer, die ihre Regenmäntel ausziehen, nach Luft schnappen und sich die Gesichter trockenwischen. Der Ehemann sagt: »Da bist du also.« Sie bleiben einen Augenblick im feuchten und verräucherten Halbdunkel stehen, dann fordert der Ehemann Brisard auf, Platz zu nehmen, und sie setzen sich an den Tisch. Sie läuft zum Büfett, wo sie den Rosenkranz ablegt und die Flasche Armagnac und zwei Gläser herausholt, die sie vor die Männer stellt und bis zum Rand füllt. Der Flaschenhals klirrt so heftig am Glasrand, dass sie ihren Unterarm mit einer Hand abstützen muss.

    »Wo warst du denn?«, fragt der Ehemann.

    »Ich hatte im Dorf zu tun«, antwortet sie.

    »Obwohl die Sau kurz davor war zu werfen?«

    »Ich habe ihr das Heu zurechtgemacht, aber es sah noch nicht danach aus.«

    »Sie hat sie gefressen, es war nichts mehr zu retten«, antwortet er.

    »Ja, ja«, sagt Brisard und steckt seinen großen Schnurrbart in den Schnaps.

    Die Männer leeren ihre Gläser, und sie gießt ihnen nach, sie leeren die Gläser erneut, und sie gießt ein zweites Mal nach, dann verschließt sie die Flasche wieder und stellt sie zurück ins Büfett. Sie setzt sich etwas abseits auf den Kornkasten.

    »Auch deine Sau nicht«, fährt Brisard fort, mit von einem Rülpser aufgeblähten Backen. »Ich garantier’ dir, dass sie’s wieder macht … Sie hat das jetzt wie im Blut. Wenn du sie verschonst und noch mal decken lässt, auch wenn du sie ankettest, damit sie den Ferkeln nichts tun kann, kannste sicher sein, die werden auch von dem Übel befallen, und die Weibchen fressen später ihren Wurf genauso auf. Das ist wie ein Makel, ein Laster … Ich hab’ das schon mit eigenen Augen gesehen. Kannst sie nur noch schlachten.«

    Er nickt bekräftigend und schnieft, wischt sich die Nase mit dem Handrücken ab, auf dem der Rotz eine glänzende Spur hinterlässt, und führt das leere Glas an die Lippen, hebt es hoch und beugt den Kopf nach hinten, um noch den letzten Tropfen Alkohol zu erwischen.

    Er sagt: »Ja, ja.«

    »Dabei kriegen unsre Tiere genug Futter«, antwortet der Ehemann.

    »Vielleicht ist es ja, um den Blutverlust auszugleichen. Oder wegen der Schmerzen, die sie dabei haben … Am besten, man sammelt die Nachgeburt gleich auf und streut, direkt wenn es blutig wird, frisches Heu nach. Sobald die Jungen die Sau um die Erstmilch erleichtert haben, ist nicht mehr viel zu befürchten.«

    Dann wirft er über die Schulter einen Blick nach draußen und steht auf: »Sieht aus, als ob es aufgehört hat zu regnen. Reden wir nächstes Mal weiter.«

    Der Ehemann nickt zustimmend, steht ebenfalls auf und begleitet ihn bis zur Türschwelle. Sie schauen ihm zu, wie er seinen Mantel wieder anzieht, seine Mütze auswringt, aus der ein brauner Saft auf die grauglänzenden Pflastersteine im Hof rinnt, sie sich auf den Kopf setzt und sich mit einem einfachen Kopfnicken verabschiedet und davonmacht. Missmutig streift sich der Ehemann ein Regencape aus Leder über, steigt in seine mit Nägeln beschlagenen Stiefel und geht los in Richtung Schweinestall. Die Ehefrau schließt die Tür wieder. Sie beobachtet den noch starken Rücken dieses Mannes, den sie wohl als den ihren betrachten muss, seinen weit ausholenden, langsamen Gang unter dem jetzt von schwarzen, lose umherziehenden Wolken durchzogenen Himmel, dann wendet sie sich ab, schafft es gerade noch zum Bett, wo sie sich, an allen Gliedern zitternd, ausstreckt und sogleich in den Schlaf sinkt.

    Am selben Abend schon erscheint ihr das Ereignis weit entfernt. Es bleibt davon nichts weiter als eine schwache Erinnerung, ein Eindruck, wie ihn ein Traum hinterlässt, der im Wachzustand wieder hochkommt, jedoch noch verschwommener; ein unbestimmtes Gefühl, das durch irgendein Detail wieder aufbricht und in sich die Gesamtheit des Traums oder die Erinnerung des Traums enthält, ein Faden, der sich auflöst, sobald sie versucht, ihn an die Oberfläche ihres Bewusstseins zu ziehen, und wenn sie sich auch noch eine Zeit lang an einen ganz eigenartigen körperlichen Zustand erinnert, an eine bodenlose Leere, so klingt diese Empfindung doch von Tag zu Tag mehr ab, bis alles oder fast alles von dieser Geburt auf dem Boden eines Schweinekobens ausgelöscht ist. Die kindsmörderische Sau wird in die Mast gegeben, und von einem Nachbarhof lässt man einen Zuchteber kommen, der das andere Weibchen deckt, das dann drei Monate, drei Wochen und drei Tage später abferkelt. Auf Anraten Albert Brisards und als Vorsichtsmaßnahme reibt man die Ferkel mit einer bitteren Abkochung von Koloquinten und Wacholder ein. Der Vorfall gerät in Vergessenheit.

    Jedes Wochenende, nachdem er auf der kleinen Bank aus genageltem und wurmstichigem Holz seine Pfeife geraucht, sein Glas Schnaps oder seinen Glühwein getrunken und dabei beobachtet hat, wie der Tag über den moosbewachsenen Dächern des Gehöfts, auf denen Ringeltaubenpärchen vor sich hin dösen, zur Neige geht, sucht der Ehemann das Ehebett auf. Im Schein der Lampe entkleidet er sich, zieht ein Nachthemd über, dann schlüpft er unter die Decke, schließt die Tür und versucht den Körper seiner auf dem Bauch oder auf der Seite liegenden Frau zu umarmen, die sich schlafend stellt oder eine ablehnende Benommenheit vorgibt. Er hat keinerlei Grund zu glauben, dass sie der Begattung zustimmt, außer dass sie wohl oder übel die holprigen Gesten erträgt, mit denen er hektisch ihrer beider Hemden zerknittert, ihre kleinen Brüste packt oder ihre Schultern umfasst, ungeschickt zwischen ihren Schenkeln herumfuhrwerkt, dort ein langes, hartes Geschlecht platziert, so knorrig wie ein Knochen oder wie eine dieser Ochsensehnen, die in der Sonne getrocknet werden und aus denen man Ruten herstellt. Mit geschlossenen Augen, stumm, hört sie dem grotesken Quietschen des Schrankbetts zu, dessen Wände jeden Augenblick in die Brüche zu gehen drohen. Sie registriert des Gewicht dieses Körpers, den Kontakt dieser Haut, seinen sauren Geruch nach ranzigem Schweiß, nach Erde und Mist, das wiederholte, bösartige Eindringen dieses Auswuchses in ihren Körper, den abgestandenen, üblen Geruch, wenn der Ehemann die Decke hebt und in seine Hand spuckt, um dieses schrumpelige Geschlecht zu befeuchten, den kariösen Atem, den er ihr ins Ohr röchelt, während er seinen weichen Schnurrbart an ihrer Wange reibt, ehe er in der Kopfkissenrolle eine gutturale Klage vergräbt, die an die eines Stückes Wild erinnert, das sich von einer Kugel getroffen noch durchs Unterholz schleppt, und in einer letzten Zuckung, die eine Agonie sein könnte, auf die Seite sinkt. Sie wartet, bis er eingeschlafen ist, um aufzustehen und über eine Wasserwanne gekauert ihren von kaltem Sperma besudelten Schritt auszuspülen, dann kniet sie vor dem Fußende des Betts nieder, die schwieligen Knie auf der festgestampften Erde, die Hände über der Stirn gefaltet, und flüstert ein Gebet.

    Sieht sie zwei Hunde, die sich paaren, so stürzt sie sich mit einem Besen, einer Heugabel oder einem Stock bewaffnet auf sie. Mit dem Stiel schlägt sie dann wütend auf den Rücken des Rüden ein, bis dieser schließlich ablässt, und das Tier, im ersten Moment unfähig, sich zu befreien, kassiert jaulend die Schläge, während das Weibchen versucht, schnellstens die Flucht zu ergreifen, und ihm dabei manchmal den Penisknochen bricht. Die Erzeugerin steht dann da, ganz außer Atem, vor Wut schäumend, und wischt sich mit dem Ärmel die Stirn ab. Sie verachtet alle Tiere, oder beinahe alle, und wenn man zufällig einmal mitbekommt, wie sie sich von einem Kind anrühren lässt, dann weil dieses am Ende eines Stricks einen schmächtigen, halbtoten und mit Schlamm verschmierten, am Pfötchen gefesselten Welpen hinter sich herschleift oder eine am selben Strick festgebundene Taube in die Lüfte schleudert. Von Alphonse, dem sie schon öfter ordentlich das Kreuz versohlt hat, wird sie gemieden wie die Pest. Für die Kühe hingegen hegt sie eine gewisse Zuneigung, weil sie ihnen Milch abmelken kann, wobei sie die Zitzen mit ihren trockenen, extra mit Butter beschmierten Händen knetet. Der Zweck heiligt die Mittel, und sie schert sich wenig um die Wollust der für die Mast und die Zucht bestimmten Tiere. Wenn die Sau, die Kuh, die junge Stute zur Besamung geführt wird, dann schätzt sie die Farbe, die Öffnung, die Schwellung der Vulven ab, stimuliert wenn nötig den Zuchtbullen, packt mit energischer Hand die Schläuche und führt die spiral- oder lanzen- oder s-förmigen Penisse hin zu ihrem Bestimmungsort, bezwingt das sich verweigernde Weibchen und das widerwillige Männchen und wischt dann einfach auf der Kruppe, an ihren Röcken oder in einer Handvoll Heu den zähflüssigen Samen ab, der an ihren Händen klebt. Überall um sie herum bespringen und begatten sich die Tiere: Die Erpel mit dem spiralig gewundenen Penis beschlagen stürmisch die Enten mit den komplexen Vaginen, die Ganter ejakulieren in die Falten konzentrischer Genitale, der Pfau schlägt sein Rad und steigt auf die von seinem Gewicht bestürzte Henne, die Spermien perlen, tropfen, rinnen, explodieren und spritzen zwischen Federn und Fell, entreißen Schreie oder Gluckslaute einer kurzen, beneidenswerten Lust. Während ein paar Männer dabei zuschauen, wie ein Eber eine Sau nimmt, kommentiert Albert Brisard, der sich auf dem Gebiet bestens auskennt, auf Gaskognisch: »Bei diesen Dreckskerlen kann der Krampf eine halbe Stunde dauern.«

    Dann wiederholt er es leiser, wie für sich selbst: »Eine halbe Stunde …«, und die Männer, in Gedanken versunken, schütteln langsam den Kopf, ohne das wild schäumende Tier aus den Augen zu lassen.

    Im auf die Episode aus dem Schweinekoben folgenden Jahr, in der erdrückenden Hitze einer vom Geruch des Ginsters und der fettigen Wolle der Schafe erfüllten schwülen Sommernacht wird die Ehefrau von einem vernichtenden Gefühl geweckt. Sie setzt sich auf dem Bettrand auf, legt eine Hand auf ihren Bauch, mit fiebrigem, aber blindem Blick, und bestaunt die Fremdartigkeit ihres Fleisches, die unterirdischen Strömungen, die aus diesem unzugänglichen Körper wie herauszuquellen scheinen, sich über die Matratze ergießen, ihr die Waden entlanglaufen und auf den Boden tropfen. Sie steht auf, taumelt durch das Zimmer, geht in die Spülkammer, schließt die Tür hinter sich und kommt in derselben Wanne nieder, in der sie sich jede Woche den durchscheinenden Samen des Ehemanns abspült, während er im Nebenraum hinter den Wänden des Schrankbetts vor sich hin schnarcht. Die Sache geht schnell und fast schmerzlos, vielmehr in einem einzigen heftigen Stich, als ob sie – ihr Körper – sich eines Ballasts entledigte, sich von dieser reglosen und stummen Last befreite, die sie nun betrachtet, bevor sie von einem plötzlichen Entsetzen gepackt, das jegliches Denken auslöscht, sich in ein Schultertuch hüllt, die Wanne packt, in den Hof hinaustritt und in der Nacht in Richtung Schweinestall verschwindet, wo die dösigen Schweine unter den Haufen aus Futter und Nussbaumzweigen schlafen, mit denen sie ihre Koben auskleiden.

    Am nächsten Tag in der Frühe, als die Morgendämmerung weit entfernt über den Feldern einen leuchtendblauen Riss öffnet und sich die schwarze und unerreichbare Kontur der Pyrenäen abzeichnet, nimmt sie das Fahrrad, fährt ins Dorf und überquert den einsamen Platz, auf dem die Kastanien mit den nur schemenhaften Kronen als riesige Schatten aufragen. Sie reißt die Kirchentür weit auf, der ein Atem nach kaltem Stein, Weihrauch und Myrrhe entströmt. Sie verschiebt die Bänke und den Betstuhl, kehrt und wischt dann auf Knien, mit schwarzer Seife, den Boden des Kirchenschiffs. Sie poliert den Beichtstuhl, das Retabel und die Holztäfelungen und staubt die Kerzen und den funkelnden Leib Jesu Christi ab. Sie reibt die scharlachrote Wunde auf seiner rechten Seite, solange bis sie glänzt. Als sie sich endlich schweißgebadet auf die Außentreppe setzt, bricht über den Kastanien der Tag an und ziseliert die gezackten Umrisse der Kastanienblätter. Drei Charolaiskühe mit ihren baumelnden Eutern und überdimensionierten Hinterbeinen stehen auf dem Platz herum und grasen, von ihrem Fell perlt der Tau, ihre mahlenden Kiefer und das zarte Bimmeln ihrer Glocken rhythmisieren das Tschirpen der Spatzen. Ihr Atem kondensiert und trägt der Erzeugerin in kleinen Schwaden den Geruch von Pansen und Methan zu, den die Tiere in regelmäßigen Abständen in die bleiche Luft rülpsen und furzen und der sich mit dem Duft nach Hefe und Brot aus dem Backofen der nahe liegenden Bäckerei mischt. Sie erhebt sich wieder, ohne auf das Knacken ihrer Gelenke zu achten, und überquert den Platz bis hin zum Waschhaus, wo sie sich am Rand des Beckens den Schweiß vom Gesicht wäscht. Sie trocknet sich mit ihrer Bluse ab und trinkt aus der hohlen Hand das trübe Wasser, von dem nun auch eine der Kühe trinkt, sie kommt gemächlich angelaufen, ihr Rücken und ihre knochige Kruppe dampfen. Ein Kälbchen zittert zwischen ihren Beinen. Es stößt einen nach Molke riechenden Atem aus und betrachtet die Bäuerin aus meergrün und fiebrig glänzenden Augen, in deren Pupillen diese ihr konvexes Spiegelbild erkennt, sowie das des Platzes hinter ihr, auf dem der unerschütterliche Rest der Herde noch immer weidet.

    Als der Ehemann zum ersten Mal krank wird, hofft sie zunächst, sie bekomme eine Atempause. Doch wie bei diesen Eintagsfliegen, deren einziges Ziel, einmal geschlüpft, es ist, sich zu begatten und ihre Eier in Flüssen oder Sümpfen abzulegen, verschlimmert sich seine Glut und nimmt an Beharrlichkeit und Heftigkeit stetig zu. Vielleicht ahnt er die Schwere seiner Krankheit voraus und will instinktiv die Mängel seines Geschlechts und seines Bluts weitergeben. Als er sie im Frühjahr des Folgejahres erneut schwängert, glaubt sie, dass ihre Askese und die wiederholten Reueakte etwas Gnade beim Herrn gefunden haben, denn dieses Mal setzt ihre Menstruation aus. Wenn auch nur spärlich, so rundet sich ihr Bauch; und sie wird morgens von einer furchtbaren Übelkeit geweckt: Das, was sie in sich trägt, musste also ein Menschenkind sein und nicht eine dieser von ihrem Fleisch ausgetriebenen Kreaturen, einer dieser Schösslinge des Teufels, von denen sie heute kaum mehr glauben kann, dass sie

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