Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Venturia (Band 1): Juwelen und Verfall
Venturia (Band 1): Juwelen und Verfall
Venturia (Band 1): Juwelen und Verfall
eBook352 Seiten4 Stunden

Venturia (Band 1): Juwelen und Verfall

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die siebzehnjährige Tiana führt ein beschauliches Leben im Schloss von Bel Aniz. In der Prinzessin glüht der Wunsch nach Freiheit und nach Antworten auf Ungereimtheiten, die ihr immer häufiger auffallen. Was ist das geheimnisvolle Land Venturia, über das niemand im Schloss reden darf? Warum ist der König so abweisend, sobald das Gespräch auf Magie gelenkt wird?
Doch statt Tianas Fragen zu klären, planen ihre Eltern sechs Bälle, um einen geeigneten Gemahl für ihre Tochter zu finden. Nachdem der erste Ball allerdings vollkommen anders als geplant verläuft, findet sich die Prinzessin auf einmal in einem Strudel aus Ereignissen wieder, der alles, was sie bisher geglaubt hat, als Lüge entlarvt und sowohl ihre Zukunft als auch ihre Vergangenheit infrage stellt.
Als sie von einem Fremden verschleppt wird, ist das nur noch der letzte Windhauch, der ihre heile Welt zum Einsturz bringt. Wird es ihr gelingen, aus diesen Trümmern zu entkommen und herauszufinden, wer sie wirklich ist?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum14. Dez. 2018
ISBN9783038960119
Venturia (Band 1): Juwelen und Verfall

Mehr von Regina Meißner lesen

Ähnliche Autoren

Ähnlich wie Venturia (Band 1)

Titel in dieser Serie (2)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Venturia (Band 1)

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Venturia (Band 1) - Regina Meißner

    Inhaltsverzeichnis

    Titel

    Informationen zum Buch

    Impressum

    Widmung

    I - Über Blutlinien und Adelshäuser

    II - Über Roben und Bälle

    III - Über Fantasien und Sehnsüchte

    IV - Über Männer und Bettgeschichten

    V - Über temporäre Freiheit in einemgoldenen Käfig

    VI - Über Ganoven und verbotene Völker

    VII - Über Irrglauben und Magie

    VIII - Über Namen und Gesichter

    IX - Über erste Begegnungen und letzte Worte

    X - Über Hierarchien und geheime Gespräche

    XI - Über Tanzschritte und Erinnerungen

    XII - Über den Moment, der dir den Boden unter den Füssen raubt

    XIII - Über verschlossene Türen und kühle Hände

    XIV - Über das erste Licht nach einer dunklen Nacht

    XV - Über Fluchtversuche und tote Augen

    XVI - Über Hexen und das, was es nicht gibt

    XVII - Über Regenbögen, für die es nicht regnen muss

    XVIII - Über das, was wir vergessen, wenn wir nicht erinnert werden

    XIX - Über Torbögen, Holzschwerter und verliebte Füchse

    XX - Über Entscheidungen, die man aus Verzweiflung trifft

    XXI - Über das Licht der Dunkelheit

    XXII - Über Erschütterungen und Verluste

    XXIII - Über das Versagen der Liebe

    XXIV - Über Hoffnung in Zeiten der schwarzen Sonne

    XXV - Über versteckte Vergangenheiten in kaltem Stein

    XXVI - Über das, was man sich am Feuer erzählt

    XXVII - Über die verborgene Macht der Schmetterlinge

    XXVIII - Über Küsse, goldene Schimmer und Rettung in der Nacht

    XXIX - Über Blut, Hass und ein Ende, das ein Anfang sein sollte

    XXX - Über Albträume, aus denen man nicht erwacht

    XXXI - Über Realitäten und Universen

    XXXII - Über all das, worüber man nicht sprechen kann

    XXXIII - Über klammen Stein und kalte Herzen

    XXXIV - Über Angst, Zuversicht und das, was dazwischenliegt

    XXXV - Über die Mechanik der Zeit

    XXXVI - Über eine Taube unter Raben

    Dank

    Regina Meißner

    Venturia

    Band 1: Juwelen und Verfall

    Fantasy

    Venturia (Band 1): Juwelen und Verfall

    Die siebzehnjährige Tiana führt ein beschauliches Leben im Schloss von Bel Aniz. In der Prinzessin glüht der Wunsch nach Freiheit und nach Antworten auf Ungereimtheiten, die ihr immer häufiger auffallen. Was ist das geheimnisvolle Land Venturia, über das niemand im Schloss reden darf? Warum ist der König so abweisend, sobald das Gespräch auf Magie gelenkt wird?

    Doch statt Tianas Fragen zu klären, planen ihre Eltern sechs Bälle, um einen geeigneten Gemahl für ihre Tochter zu finden. Nachdem der erste Ball allerdings vollkommen anders als geplant verläuft, findet sich die Prinzessin auf einmal in einem Strudel aus Ereignissen wieder, der alles, was sie bisher geglaubt hat, als Lüge entlarvt und sowohl ihre Zukunft als auch ihre Vergangenheit infrage stellt.

    Als sie von einem Fremden verschleppt wird, ist das nur noch der letzte Windhauch, der ihre heile Welt zum Einsturz bringt. Wird es ihr gelingen, aus diesen Trümmern zu entkommen und herauszufinden, wer sie wirklich ist?

    Die Autorin

    Regina Meißner wurde am 30.03.1993 in einer Kleinstadt in Hessen geboren, in der sie noch heute lebt. Als Autorin für Fantasy und Contemporary hat sie bereits viele Romane veröffentlicht. Weitere Projekte befinden sich in Arbeit.

    Regina Meißner hat Englisch und Deutsch auf Lehramt in Gießen studiert. In ihrer Freizeit liebt sie neben dem Schreiben das Lesen und ihren Dackel Frodo.

    www.sternensand-verlag.ch

    info@sternensand-verlag.ch

    1. Auflage, Dezember 2018

    © Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2018

    Umschlaggestaltung: Jaqueline Kropmanns

    Lektorat: Sternensand Verlag GmbH | Martina König

    Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Jennifer Papendick

    Satz: Sternensand Verlag GmbH

    ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-010-2

    ISBN (epub): 978-3-03896-011-9

    Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

    Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Für all die, die sich fehl am Platz fühlen

    und nicht wissen, wo sie hingehören:

    Ihr werdet eure Heimat finden.

    Und für Levon III.

    I - Über Blutlinien und Adelshäuser

    Tiana Anastasia Valerie Serena Minné.

    Mein Name war eine bunte Reise durch unsere Blutlinie und setzte sich aus Tanten, Cousinen und Großmüttern zusammen. Obwohl mein Hauslehrer Claudius Kempen darauf bedacht war, dass ich meinen Stammbaum in- und auswendig kannte, drifteten meine Gedanken während der Ahnenkunde immer besonders weit ab. Was brachte es mir, zu wissen, wie mein Urururururgroßvater geheißen hatte, wenn dieser schon seit mehreren hundert Jahren tot war? Welchen Nutzen hatte es, wenn ich die männliche Ahnenlinie im Schlaf rezitieren konnte? Es war schlimm genug, dass meine Familie sich über vier Lande erstreckte und sogar an den Grenzen zu Kesslen, eines kleinen Nachbarreiches, sesshaft geworden war. Einerseits bedeutete dies viele Reisen für mich, andererseits gab es noch mehr langweilige Verwandte, die man regelmäßig besuchen musste.

    Seufzend blies ich mir eine Haarsträhne aus der Stirn und musterte meinen Hauslehrer. Er stand, gekleidet in Frack und Leinenhose, neben der großen grünen Tafel, auf die ein Stammbaum gezeichnet war, der meine Vorfahren lebendig werden ließ. Claudius Kempen hielt einen Stock in der Hand, mit dem er nacheinander auf Namen deutete, die mir etwas hätten sagen sollen, aber es nicht taten.

    Ich gähnte ausgiebig und starrte aus dem Fenster, das den Schlossgarten zeigte. Früher hatte ich es gemocht, auf den akkurat geschnittenen Rasenflächen spazieren zu gehen und mein blasses Antlitz der Sonne zuzuwenden. Heute fühlte ich mich gelangweilt von den künstlich angelegten Wiesen, die nur wuchsen, weil wir es ihnen gestatteten.

    Meine Augen klappten beinahe zu, als ich plötzlich ein Reh auf dem Rasen entdeckte. Seit wann wagten sich die Tiere des Waldes so nah an unser Schloss heran? Neugierig legte ich den Kopf schief und setzte mich aufrechter hin, um das braune Reh besser ausmachen zu können. Es sprang aufgeregt hin und her und verschwand auch nicht, als eine meiner Gesellschafterinnen auf es zutrat und es verscheuchen wollte. Verwundert nahm ich wahr, wie sich das Reh von ihr streicheln ließ.

    »Prinzessin Tiana?«, drang Mera Kempens Stimme an mein Ohr und brachte meine Gedanken in das Hier und Jetzt zurück.

    Verwirrt blickte ich ihn an und folgte dem Zeigestock, der auf ein freies Feld des Stammbaums zeigte.

    »Wer gehört an diese Stelle?« Anprangernd sah er mich an. Wahrscheinlich wusste er nur zu gut, dass ich wieder einmal nicht zugehört hatte.

    Schläfrig blinzelte ich und versuchte, seine diffuse Zeichnung zu verstehen. An manche der Namen konnte ich mich erinnern, was aber nicht bedeutete, dass mir das dabei half, das freie Feld zu entschlüsseln. Entschuldigend lächelte ich Mera Kempen an und zuckte mit den Schultern.

    Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben, gefolgt von Missfallen. Wäre es nicht seine Aufgabe, mich zu belehren, hätte er es schon lange aufgegeben. Allerdings befanden wir uns in einer von meinen Eltern arrangierten Situation, was bedeutete, dass er mir weitere Chancen geben musste. So viele, bis ich den Test in Ahnenkunde bestanden hatte, durch den ich schon viermal gefallen war.

    Ich war nicht dumm. Es gab einfach nichts, was mich weniger interessierte als Mera Kempens Geplänkel.

    »Fangen wir noch einmal an, Prinzessin«, sagte er beherzt und zwirbelte mit der freien Hand an seinem Schnurrbart. »Eure Großtante zweiten Grades ist Prinzessin Camelia die Dritte. Ihr Sohn …«

    Ich schaffte es nicht. Ich konnte ihm nicht zuhören. Seine Stimme war einschläfernder als die Tabletten, die meine Mutter einnahm, wenn sie keine Ruhe fand. Immer wenn mein Blick zur Tafel glitt, fielen meine Augen zu. Es war wie ein Reflex, ich konnte nichts dagegen tun. Hinzu kam, dass die Zeit nicht auf meiner Seite stand und die Uhr ihren Zeiger nur mühsam vorwärts rückte.

    Mera Kempens Finger waren weiß vom Kreidestaub. Auch auf der Rückseite seines Fracks hatte sich die Farbe festgesetzt. Jedes Mal, wenn er sich von der Tafel entfernte und in meine Nähe kam, roch ich die stechende Note seines Parfüms.

    Mit sechs Jahren hatte er angefangen, sich um meine Bildung zu kümmern. Er war der einzige Lehrer, den ich je in Ahnenkunde gehabt hatte, und mir kam es vor, als hätte er sich in den elf Jahren nicht im Geringsten verändert. Noch immer trug er die ausgebeulten beigefarbenen Hosen, die viel zu groß für seinen drahtigen Körper anmuteten, und auch an seinen braunen Haaren hatte sich nicht viel geändert, wenngleich sie etwas schütterer geworden waren.

    »Warum muss ich das Ganze noch mal lernen?«, fragte ich gedehnt und nicht zum ersten Mal.

    Dennoch wurde Mera Kempen nicht müde, es mir zu erklären: »Als Prinzessin und künftige Königin über das Land Bel Aniz ist es Eure Pflicht, die Geschichte und damit auch Eure Ahnen zu kennen. Ihr müsst sowohl über die Familien als auch über ihre Konflikte und Gemeinsamkeiten Bescheid wissen.« Wichtigtuerisch sah mein Lehrer mich an.

    Ich griff nach der Feder, die neben mir lag, und rollte sie auf dem Tisch hin und her.

    »Prinzessin, hört Ihr mir zu?«

    Schuldbewusst sah ich meinen Lehrer an. »Ich bin heute nicht ganz auf der Höhe, entschuldigt«, murmelte ich.

    Mera Kempen nickte verständnisvoll, aber ich sah die Enttäuschung in seinen Augen. Genauso wie ich wollte auch er, dass die Stunde vorbei war. Aber nach der Stunde … kam eine weitere.

    »Möchtet Ihr eine Pause machen, Prinzessin?«

    Das Wort Pause brachte mich in das Hier und Jetzt zurück. Dankbar nickte ich und war auf einmal voll aufnahmefähig.

    Mera Kempen seufzte und nahm für einen Moment auf seinem Stuhl Platz. Ich beobachtete, wie er ein Brot aus seiner Ledertasche holte und hineinbiss.

    Ich selbst nahm einen Schluck von meinem Citrussaft und starrte noch einmal aus dem Fenster. Doch dieses Mal ließ ich den Schlossgarten, der mich nicht im Geringsten interessierte, außer Acht und meinen Blick zu den Tannen schweifen, die hoch in den Himmel wuchsen.

    Dort hinten in der Ferne wartete das Abenteuer auf mich. Das echte Leben, das nicht aus Zwängen, Etikette und Ahnenkunde bestand. Während ich mich in einer Vision der Natur verlor, wurde die Sehnsucht in meinem Herzen beinahe unerträglich. Das letzte Mal, dass ich mich unter Tannen gewähnt hatte, war schon viel zu lange her. Ich verteufelte jede Minute, die ich in diesem Palast verbringen musste. In diesem goldenen Käfig, der zwar keine Stäbe hatte, mich aber dennoch wie eine Gefangene hielt.

    Missmutig presste ich die Lippen aufeinander. Das Kleid, das ich trug, schnürte mir die Luft ab und erschwerte das Atmen. Es war wunderschön, in einem hellen Gold gefärbt und aufwendig verziert, aber das machte den Umstand nicht wett, dass ich mich kaum bewegen konnte und jeder Handgriff zur Tortur wurde.

    »Freut Ihr Euch schon auf den Ball, Prinzessin Tiana?«, fragte mein Lehrer in diesem Moment.

    Die Erwähnung der Festivität rief etwas in mir wach, das bis eben geschlafen hatte und sich nun an die Oberfläche kämpfte. Die Bälle meines Vaters. Sechs an der Zahl. Offiziell standen sie unter dem Motto, dem Hof Lebendigkeit und Freude zu schenken. Inoffiziell, und diesen Grund kannte jeder, waren sie dazu da, mich an den Mann zu bringen. Mit meinen siebzehn Jahren war ich in den Augen meiner Eltern alt genug, um mich zu binden und eine eigene Familie zu gründen. Offiziell wollten sie mich nicht drängen, inoffiziell verlangten sie von mir, mich binnen sechs Wochen zu entscheiden. Nicht einmal zwei Monate hatte ich Zeit, um einen Partner zu finden. Aussuchen durfte ich ihn mir selbst, aber ich musste jemanden finden.

    »So ein Ball sollte etwas Besonderes sein, nicht wahr? Eine Ablenkung vom langweiligen Alltag?«

    Die Art und Weise, wie Mera Kempen krampfhaft versuchte, Konversation zu treiben, machte mich wahnsinnig.

    »Habt Ihr schon ein Kleid anfertigen lassen?«

    Kleider. Bälle. Ehemänner. Wieso war die Welt, in die ich hineingeboren worden war, nicht meine Welt? In Bel Aniz schien jeder seinen festen Platz zu haben, der seinen Stand und seine Einstellungen markierte. Die Menschen schienen glücklich, gefestigt. Sie wussten, wo sie hingehörten, und gaben sich mit den Gegebenheiten zufrieden. Wieso fiel es mir also so schwer, zu akzeptieren, dass ich eine Prinzessin war?

    »Wenn es Euch nichts ausmacht, würde ich mit dem Unterricht fortfahren, Prinzessin Tiana«, schaltete sich mein Lehrer ein.

    Entschuldigend sah ich ihn an. Heute war ich zu nichts in der Lage. Hinzu kam, dass meine Gedanken nun auch noch um den ersten Ball kreisten, der schon in drei Tagen stattfinden sollte.

    Ich wusste nicht, welche Männer mir vorgestellt werden würden, woher sie kamen und mit welchen Mitteln sie mir den Hof machen wollten. Vielleicht hätte ich mich im Vorfeld mit ihnen beschäftigen sollen, aber noch lagen alle Bälle vor mir. Sechs Wochen, die ich in Frieden verbringen durfte, denn erst danach musste ich meine Entscheidung fällen und mich für einen der Auserwählten entscheiden. Vielleicht würde ich es schaffen, zwischen mehreren Übeln das geringste zu wählen.

    »Baroness Sofia III. ging einst eine Allianz mit einem Freiherrn ein. Aus ihrer Ehe entstammen zwei Söhne, Boleslaw und Herrick …«

    II - Über Roben und Bälle

    »Ich habe das Kleid an der Hüfte etwas enger geschneidert, sodass es Eure schmale Silhouette besser zur Geltung bringt. Außerdem habe ich mir die Freiheit herausgenommen und die Ärmel etwas gekürzt. Auf diese Weise liegt der Fokus auf dem Goldschmuck, dem Ring und dem Armband, das Ihr von Eurer Mutter geschenkt bekommen habt.«

    Mura Rocher strich über den Reifrock, in dem es mir schwerfallen würde, eine Tür zu passieren. Kritisch beäugte ich mich in dem schmalen Spiegel, der in der Nähstube aufgebaut worden war.

    Das Kleid, das ich trug, war mitternachtsblau, mit schwarzen Nuancen. Dunkle Sterne bedeckten das Oberteil, das sich wie eine zweite Haut an mich schmiegte. Am Abend des Balles würde man mir die Haare am Hinterkopf in Mondform hochstecken und sonnengoldene Schuhe anziehen.

    »Niemandem sonst ist es erlaubt, dieses Blau zu tragen«, verkündete Mura Rocher und korrigierte meine Haltung, sodass das Kleid besser zur Geltung kam. »Ihr werdet die Allerschönste im ganzen Palast sein und jeder Mann wird nur Augen für Euch haben.«

    Im Spiegel sah ich ihr strahlendes Gesicht und weil ich sie nicht enttäuschen wollte, lächelte ich ebenfalls. Mura Rochers Arbeit war großartig, weswegen sie auch schon seit vielen Jahren in unseren Diensten stand. Mit dem Ballkleid hatte sie sich selbst übertroffen. Ich musste mir eingestehen, dass es mir schon jetzt außergewöhnlich gut stand – und das, obwohl meine Haare noch nicht hergerichtet waren und ich keinen Schmuck trug.

    »Seid Ihr schon aufgeregt?«, wollte die Schneiderin wissen.

    Ich drehte mich zu ihr um und versank für einen Moment in ihren mütterlichen Augen.

    War es Aufregung, die ich verspürte? Nein, denn Aufregung hatte immer etwas Gutes, etwas, dem man entgegenfieberte.

    Als Kind hatte ich meine Nöte oft mit Mura Rocher geteilt, weil ich wusste, dass sie eine Lösung für all das kannte, was mich belastete. Aber ich war erwachsen geworden und verstand, dass nur ich selbst gegen meine eigenen Dämonen ankämpfen konnte. Und dennoch – manchmal tat es gut, sich mitteilen zu können. Vor allem in einem Leben, das Reichtum, Gold und Silber, aber keine eigene Meinung gestattete.

    Ich blies mir eine Strähne aus der Stirn und holte tief Luft. »Ich glaube nicht, dass ich schon so weit bin«, gab ich aufrichtig zu und sah die Hofschneiderin an, deren freundliches Gesicht auch nicht verschwand, als ich ihr meine Zweifel mitgeteilt hatte.

    Aufmunternd klopfte sie mir auf die Schulter und lächelte mich an. »Niemand fühlt sich je wirklich bereit. Dennoch solltet Ihr auf Eure Fähigkeiten vertrauen.«

    Fähigkeiten? Traurig lachte ich auf, denn mir wollten keine einfallen.

    Sechs Bälle. Sechs Wochen. Was erwartete mich danach? Ein Käfig? Ein Leben in Gefangenschaft?

    Meine Eltern ließen mir die Wahl, aber entscheiden musste ich mich. Wenn nicht, würden sie das für mich übernehmen. Und auch wenn ich meinen eigenen Geschmack kaum kannte, kannte ich den meiner Eltern. Mein Vater versuchte schon seit Angedenken, mir meinen Cousin Josen schmackhaft zu machen. Er war zwei Jahre jünger als ich, einen Kopf kleiner und etwa doppelt so schwer. Schon in meiner Kindheit hatte ich ihm nichts abgewinnen können und immer das Weite gesucht, wenn er seinen Besuch ankündigte.

    Der Geschmack meiner Mutter war erlesener, aber vollkommen auf optische Merkmale bezogen. Und genau darin lag das Problem. Was nützte mir ein Mann, der groß, breitschultrig war und über ein hübsches Gesicht verfügte, wenn er ein Herz aus Stein hatte oder sich nicht mit Regierungeschäften auskannte?

    »In Euren Augen tobt ein Sturm«, bemerkte Mura Rocher in diesem Moment.

    Ich wandte mich von meinem Spiegelbild ab und drehte mich zu ihr um.

    »Wenn Euch etwas auf der Seele liegt, bin ich für Euch da. Das wisst Ihr.«

    Ihre mütterliche Stimme bescherte mir einen Kloß in der Kehle und ließ mich an die vielen Male denken, in denen ich als Kind zu ihr gekommen war. Ich hatte keine Geschwister – und meine Zofe war eine garstige Frau, die es liebte, meine Haare und mich zu schikanieren. In meinen ersten Jahren war Mura Rocher meine Vertraute gewesen.

    Traurig blickte ich in ihr Gesicht, das in den letzten Jahren älter geworden war und in dem sich erste Falten zeigten. So gern hätte ich ihr mein Herz ausgeschüttet und ihr wie früher mein Leid geklagt. Aber ich war eine Prinzessin. Und mittlerweile wusste ich, dass meine Pflichterfüllung über allem stand.

    »Ich komme zurecht«, flüsterte ich und nickte zweimal, als müsste ich mich selbst überzeugen. Mein Lächeln misslang.

    »Ihr seid stark, Tiana, das wisst Ihr, oder?« Sie griff nach meiner Hand und drückte sie fest. »Ihr werdet die richtige Entscheidung treffen.«

    »Aber wie?«, brach es aus mir heraus, bevor ich mich zügeln konnte. Mura Rochers Mund verzog sich zu einem Lächeln, doch die Unsicherheit in mir wurde größer. »Ich kann nur mutmaßen, wie viele Junggesellen meine Eltern an den Hof bestellen werden. Es sind sechs Bälle, sie dauern die ganze Nacht und finden in unserem größten Saal statt. Ich werde kaum Zeit haben, alle Männer kennenzulernen oder auch nur mit ihnen zu sprechen. Wie soll ich mich da für einen entscheiden? Wie soll ich mich für den Richtigen entscheiden?« Gedankenverloren zupfte ich an den Ärmeln meines Kleides.

    »Ihr müsst ja gar nicht alle kennenlernen«, meinte Mura Rocher verschmitzt. »Es reicht, wenn der Eine dabei ist.«

    Der Eine.

    Missmutig ließ ich die Schultern hängen. »Ich weiß ja nicht einmal, wer das sein soll.«

    »Das ist einfach.« Mura Rocher legte ihre Hände auf meinen Schultern ab und wartete, bis ich sie ansah. Wenn sie lächelte, entstanden kleine Grübchen um ihren Mund. »Wie stellt Ihr Euch Euren Zukünftigen vor? Wie soll er sein? Was muss er haben?« Neugierig sah sie mich an.

    Ihr zuliebe ließ ich mich auf das Spiel ein. Und während ich über die Fragen nachdachte, wurde mir bewusst, dass ich mich nie recht damit beschäftigt hatte. Zwar war mir immer klar gewesen, dass ich einmal heiraten würde, aber dieses einmal lag in so weiter Ferne, dass ich es nicht greifen oder näher bestimmen konnte.

    Nachdenklich kaute ich auf meiner Unterlippe herum und versuchte, mir mich an der Seite eines Mannes vorzustellen, der mit mir über unser Reich regierte. Mich selbst sah ich gestochen scharf, aber der Mensch neben mir blieb verschwommen und unbestimmt.

    »Nun ja«, stammelte ich, um Zeit zu schinden. »Wahrscheinlich wäre es von Vorteil, wenn er sich mit den Regierungsgeschäften auskennt und in Ahnenkunde besser aufgepasst hat als ich selbst. Außerdem sollte er … diplomatisch sein und Talent für Verhandlungen besitzen. Überhaupt würde es mir nichts ausmachen, wenn er …« Überrascht hielt ich inne, weil ich sah, wie die Hofschneiderin den Kopf schüttelte.

    »Der Mann Eurer Träume soll also ein Ass in der Regierung sein?«, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen, woraufhin ich stöhnte. »Natürlich schadet das nicht, aber wonach sucht Ihr wirklich? Wie soll der Mensch sein, der Euer Herz erweicht, Tiana?«

    Mura Rochers Blick durchdrang mich wie ein Pfeil. Wenn sie mich so ansah, brachte es nichts, auszuweichen.

    »Ich glaube nicht, dass ich den Mann meiner Träume in diesem Palast finden werde. Ich glaube, der Mann meiner Träume ist noch nicht einmal geboren. Was ihn perfekt macht.«

    Meine letzten Worte waren mehr genuschelt als klar gesprochen, dennoch hatte Madame Rocher mich verstanden.

    Ich warf einen kurzen Blick zur Tür, um mich zu vergewissern, dass wir allein waren, dann meinte ich: »Ich will mich nicht binden. Nicht jetzt. Irgendwann einmal vielleicht, aber ich fühle mich noch nicht bereit. Ich will … noch so vieles entdecken, so viel sehen. Ein Mann an meiner Seite würde mich nur einengen und mich in eine Rolle pressen, die ich nicht erfüllen will.« Japsend holte ich Luft.

    Mura Rochers Stirn lag in Falten. »Nicht alle Männer sind schlecht, Tiana«, meinte sie. »Vor allem in den letzten Jahren kommt immer wieder der Fortschrittsgedanke auf. Frauen werden nicht länger als unterlegen angesehen. Ein guter Mann weiß seine Gattin zu schätzen.«

    »Das weiß ich doch.« Ich nickte. »Und ich bin mir sicher, dass meine Eltern auch einige geeignete Männer für mich gefunden haben. Und doch … will ich noch nicht heiraten.«

    Mura Rocher sah mich mitleidig an. Mit ihrem rechten Daumen strich sie mir über die Wange. »Vielleicht glaubt Ihr mir nicht, aber Ihr seid erwachsen geworden. Ihr seid nicht mehr das ungestüme Kind«, bemerkte sie.

    »Das mag sein. Aber in mir … ist der Drang, mehr zu sein. Mehr zu sehen, mehr zu spüren, mehr zu fühlen. Da draußen wartet eine ganze Welt auf mich und ich habe keine Möglichkeit, sie zu entdecken.«

    »Ihr werdet noch viel von dieser Welt sehen, Tiana«, meinte Mura Rocher weise. »Gutes wie auch Schlechtes. Es gibt für alles eine Zeit, fürs Reisen wie fürs Heiraten.«

    »Aber wieso muss die Zeit fürs Heiraten unbedingt jetzt sein? Sechs Wochen vergehen so schnell! Danach muss ich mich entschieden haben.« Hilfe suchend sah ich sie an. »Kannst du mir einen Tipp geben? Irgendetwas, damit ich nicht vollständig versage?«

    Mura Rocher sah mich nachdenklich an. Es lag so viel Schwere in ihrem Blick, die mich manchmal selbst niederdrückte. Wahrscheinlich dachte sie an ihren Ehemann Hekin zurück, der in einer Schlacht vor vielen Jahren gefallen war und an den ich mich kaum erinnern konnte. »Schaut ihnen in die Augen, wenn sie mit Euch sprechen. Viel Verborgenes liegt im Blick eines Menschen.«

    »Aber wie finde ich heraus, ob er etwas Gutes oder Schlechtes verbirgt?«

    »Ihr werdet es merken, das verspreche ich Euch.« Sie drückte meine Hand noch etwas fester.

    Mir kam es vor, als würde mein Leben nur noch aus einzelnen Szenen bestehen, die aneinandergereiht die sechs Wochen ergaben, vor denen ich mich so fürchtete. Doch meine größte Angst galt dem Ende, denn genauso fühlte es sich an. Wie ein Schlussstrich, der unter mein Leben gezogen wurde.

    »Wenn der Richtige vor Euch steht, werdet Ihr es wissen«, sagte Mura Rocher. Etwas Sehnsüchtiges trat in ihre Augen und für einen Moment wirkte ihr Blick abwesend. »Ihr werdet es merken, wenn Ihr Euch gut mit ihm unterhalten könnt und er Dinge sagt, über die Ihr vorher noch nicht nachgedacht habt. Wenn Ihr durch ihn weiter denkt als sonst. Der richtige Mann weiß, dass Ihr Flügel habt, und lässt Euch fliegen. Weil er sich sicher ist, dass Ihr zurückkommen werdet.«

    Tränen traten in meine Augen, auch wenn ich mir vorgenommen hatte, nicht zu weinen. Zumindest jetzt noch nicht. »Manchmal komme ich mir so schwach vor. Beinahe wie eine Marionette, die von oben gesteuert wird.«

    »Wir sind alle Marionetten«, stimmte Mura Rocher mir traurig zu. »Die Kunst besteht darin, den Spieler zu überzeugen, die Schnüre so auszurichten, wie man sie haben möchte.«

    III - Über Fantasien und Sehnsüchte

    Mein Tagesablauf bei Hof war strikt geregelt. Nach meiner Morgentoilette und einem leichten Frühstück fing mein Unterricht an, der sich bis zum Mittagessen zog. Die Nachmittage variierten. Mal durfte ich reiten, mal bekam ich Lehrstunden im Fechten, mal sollte ich mich in der Bibliothek über die Geschichte unseres Landes informieren. Punkt vierzehn Uhr gab es Kaffee und Kuchen, der je nach Wetterlage mal drinnen und mal draußen serviert wurde. Danach ging meine Gesellschafterin mit mir spazieren, was mit langweiligen Runden im Schlossgarten gleichzusetzen war. In den letzten Wochen hatte ich zudem vermehrt Tanzunterricht, um auf den Bällen eine gute Figur abzugeben.

    Beim Abendessen traf ich auf meine Eltern, die mich über meine ewig gleichen Tage ausfragten und ihre Vorfreude bezüglich der anstehenden Festivitäten äußerten. Nach der letzten Mahlzeit stand mir eine Stunde in der Bibliothek zu, die ich entweder mit Lesen, Sticken oder Gesellschaftsspielen verbrachte.

    Vor zwanzig Minuten hatte sich die Tür zu meinen Gemächern geschlossen, was bedeutete, dass ich zum ersten Mal an diesem Tag allein war. Meine Haare, die eben gewaschen worden waren, steckten unter einer grässlichen beigefarbenen Haube, die mich zehn Jahre älter machte, und mein Körper verschwand in einem der viel zu weit geschnittenen Nachtkleider, die mich schwitzen ließen, weil sie auch im Sommer lange Ärmel besaßen und den Boden berührten.

    Nachdenklich saß ich auf meinem Bett, umgeben von mehr Kissen und Decken, als je ein Mensch brauchen würde, und drückte mir meine Nase an der Fensterscheibe platt. Früher hatte mich die Aussicht gestört, weil ich nichts vom Schlossgarten und den mühsam angelegten Blumenbeeten gesehen hatte, sondern nur die Schemen des Waldes erahnen konnte. Heute war ich dankbar für genau jenen Anblick, da er mir jede Nacht Kraft für den nächsten Tag gab.

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1