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In Feenquellen und Zauberschlössern: Eine märchenhafte Anthologie
In Feenquellen und Zauberschlössern: Eine märchenhafte Anthologie
In Feenquellen und Zauberschlössern: Eine märchenhafte Anthologie
eBook404 Seiten5 Stunden

In Feenquellen und Zauberschlössern: Eine märchenhafte Anthologie

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Über dieses E-Book

"In Feenquellen und Zauberschlössern" ist die siebte Märchenanthologie des Drachenmond Verlages und das Grundmotiv sind dieses Mal Zahlen.
Alle Anthologien können unabhängig voneinander gelesen werden.

Drei Prüfungen. Sieben Wassernymphen. Zwölf Prinzessinnen. Zahlen besitzen in Märchen oft eine ganz eigene Magie. Doch nicht immer entfaltet sich ihr Zauber auf die gleiche Weise.
Möchtest du wissen, welche Schicksalsfäden sich verweben, wenn das Glückskind auszieht, um drei goldene Haare zu stehlen, oder eine junge Frau von einem Schneeflöckchen aus Glas träumt? Folgst du mit uns der Spur einer verliebten Meerjungfrau und hast ein Herz für ein kämpferisches Rotkäppchen und einen Meisterdieb, in dem weit mehr steckt, als es scheint?

Dann lass dich verzaubern von siebzehn Geschichten, scheinbar so alt wie die Zeit und doch überraschend und neu.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum28. Apr. 2023
ISBN9783959917087
In Feenquellen und Zauberschlössern: Eine märchenhafte Anthologie

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    Buchvorschau

    In Feenquellen und Zauberschlössern - Julia Adrian

    In Feenquellen und Zauberschlössern

    In Feenquellen und Zauberschlössern

    EINE MÄRCHENHAFTE ANTHOLOGIE

    HRSG. CHRISTIAN HANDEL

    Drachenmond Verlag

    Copyright © 2023 by

    Drachenmond Verlag GmbH

    Auf der Weide 6

    50354 Hürth

    http: www.drachenmond.de

    E-Mail: info@drachenmond.de

    Lektorat: Julia Adrian

    Korrektorat: Michaela Retetzki

    Layout Ebook: Stephan R. Bellem

    Umschlagdesign: Alexander Kopainski

    alexanderkopainski.de

    Umschlagbildmaterial: Shutterstock

    Illustrationen Print: Soufiane El Amouri

    ISBN 978-3-95991-708-7

    Alle Rechte vorbehalten

    Inhalt

    Vorwort

    Lisa Rosenbecker

    Die siebte Geschichte

    Olga A. Krouk

    Der zweite Sohn

    Noah Stoffers

    Die drei Aufgaben des Meisterdiebs

    Ria Winter

    Die Zauberfürstin und der listige Recke

    Nina Bellem

    Von gebrochenen Herzen

    Anabelle Stehl

    Chervona

    Carina Schnell

    Die Macht der Wünsche

    Justine Pust

    Die drei Sirenen

    Anne Danck

    Meerhäschen

    Julia Adrian

    Das Böse

    Kathrin Wandres

    Drei Tage, die über Leben oder Tod entscheiden

    Christian Handel

    Twelve

    Eleanor Bardilac

    (K)Ein Liebeslied für Gefallene

    Ellen Birkhahn

    Der Holunder

    Caroline Brinkmann

    Ein einziger Wunsch

    Gesa Schwartz

    Der Geist des Winters

    Stella Tack

    Der letzte Schnee

    Drachenpost

    Vorwort

    Die Sieben ist im Märchen eine magische Zahl. Sieben Raben, sieben Zwerge, sieben Geißlein, Siebenmeilenstiefel und Sieben auf einen Streich – und sieben Märchenanthologien im Drachenmond Verlag. Das hat schon auch etwas sehr Magisches für mich. Und deshalb wird dieses Vorwort auch persönlicher als die bisherigen.

    Als Astrid und ich uns im Frühjahr 2016 an die Arbeit machten, Hinter Dornenhecken und Zauberspiegeln zusammenzustellen, wussten wir nicht, ob sich überhaupt jemand für eine Anthologie mit märchenhaften Kurzgeschichten begeistern würde.

    Drei Jahre später erschien Von Fuchsgeistern und Wunderlampen, unsere dritte Märchenanthologie. Und direkt am offiziellen Erscheinungstag schlug Astrid mir vor, mit der Reihe weiterzumachen. Es war ein turbulenter Samstag während der Frankfurter Buchmesse 2018, und wir gönnten uns eine Minipause an einem der Essensstände. »Du weißt schon«, sagte ich damals mit einem Augenzwinkern zu ihr, »wenn wir jetzt nach der Drei weitermachen, müssen es mindestens sieben Anthologien werden.«

    Damals habe ich halb gescherzt, halb gehofft. Und nun haltet ihr mit In Feenquellen und Zauberschlössern einen Traum in den Händen, der wahr geworden ist.

    Ein Traum, den ich nicht allein geträumt habe und der auch nicht von einem einzigen Menschen in die Wirklichkeit geholt wurde. So möchte ich an dieser Stelle all jenen Menschen danken, die diesen Traum mit mir träumen: Astrid für ihre Leidenschaft, ihre Unermüdlichkeit, ihre harte Arbeit und ihr großes Herz sowie den Buchsatz; Soufiane für traumhafte Illustrationen, Julia, Alexandra, Stephan und Nina für die Lektorate, Larissa, Sarah, Nina und Kathrin für die Übersetzungen, Kathi für einen wundervollen Rahmen bei der Antho Nr. 6, Michaela für das Korrektorat, Alexander für die atemberaubenden Cover, euch allen dafür, dass ihr diese Bücher ins Herz geschlossen habt und die Werbetrommel für sie rührt.

    Und natürlich all den Autorinnen und Autoren, die uns über die Jahre hinweg ihre Geschichten anvertraut haben. Auch diesmal habe ich die große Ehre und Freude, euch die wunderbaren Erzählungen ebenso wunderbarer Kolleginnen und Kollegen präsentieren zu dürfen. Danke für euer Vertrauen. Bereits ein Blick auf das Cover verrät: Es sind auch diesmal mehr als sieben geworden.

    Überhaupt ist die Sieben nicht die einzige Zahl, der im Märchen eine besondere Bedeutung zukommt: die eine wahre Liebe, die zwei Brüder, die drei Sirenen, die zwölfte Prinzessin – märchenhafte Zahlen sind das unsichtbare Band, das die Geschichten dieser Anthologie miteinander verknüpft. Wie auch in der Vergangenheit, haben wir uns erlaubt, darüber hinaus Geschichten aufzunehmen, die von diesem Thema abweichen, wenn sie uns besonders gut gefallen haben. Wir glauben, dadurch wird diese Sammlung stärker.

    Danke, dass ihr zur neuen Märchenanthologie gegriffen habt. Vielleicht ja schon zum siebten Mal? Aber egal, ob ihr uns wiederholt besucht oder unserer Einladung zum ersten Mal folgt: Wir wünschen euch ganz viel Freude beim Eintauchen in Feenquellen und dem Erkunden neuer Zauberschlösser!

    Christian Handel, Frühjahr 2023

    Lisa Rosenbecker

    Lisa Rosenbecker liebt Tee, gute Bücher und das Schreiben. Ihr erster Roman erschien 2015, und seither hat sie nicht mehr aufgehört, selbst fantastische Welten zu erschaffen. Manchmal sind es fantastische Königreiche (wie in Arya & Finn: Im Sonnenlicht ), manchmal Urban-Fantasy-Welten (wie etwa für ihre Romantasy-Dilogie Magie aus Gift und Silber und Magie aus Tod und Kupfer) . Und ab und an stößt sie auch die Tore zu einem ganzen Universum auf, wie etwa in ihrer Litersum -Reihe, in der man in Buch-Welten eintauchen kann.

    Wer sie bereits im realen Leben getroffen hat – auf einer Lesung, zum Beispiel, auf einer Buchmesse oder gar im plüschigen Drachenkostüm auf der ersten Drachennacht –, wird bestätigen, dass sie ein überaus herzlicher und hilfsbereiter Mensch ist.

    Lisa zählt zu den ersten Drachenmond-Autor*innen, die ich persönlich kennenlernen durfte, und deshalb freue ich mich ganz besonders, dass sie mir nach Die Jägerin in Von Flusshexen und Meerjungfrauen für diese Anthologie bereits zum zweiten Mal eine Geschichte anvertraut.

    In ihrem Märchen geht es um die Macht und die Bedeutung von Geschichten. Gäbe es eine bessere Möglichkeit, eine Anthologie zu eröffnen?

    www.lisarosenbecker.de

    Die siebte Geschichte

    LISA ROSENBECKER

    Geschichten waren wertvoller als Gold.

    Lumea wusste, dass sich in den schier endlosen Regalen der königlichen Bibliothek mehr Kostbarkeiten verbargen als in den Schatzkammern des Schlosses. Die ledernen Einbände, das vergilbte Papier und die blank polierten Mahagonibretter glänzten nicht wie Edelmetall, aber wer genau hinsah, wusste den Reichtum vor sich zu schätzen.

    Als Bibliothekarin war sich Lumea ihrer Verantwortung bewusst. Diese Schätze zu bewachen, war Ehre und Bürde zugleich. Sie musste sie mit dem Herzen eines Drachen hüten und mit der Seele eines Schmetterlings pflegen. Tagein, tagaus kam sie dieser Aufgabe nach und war stolz auf ihre stetig wachsende Sammlung. Sogar die Königin war immer wieder aufs Neue beeindruckt und führte die Bibliothek ihren Gästen vor, die sich staunend umsahen, doch nie zum Lesen blieben. Lumea störte sich nicht an ihrem Leben in Abgeschiedenheit. Es war besser für sie, und für die Bücher. Zu viele Hände verursachten zu viele Schäden. Und Lumea war sich sicher, dass niemand die Geschichten so sehr schätzte wie sie.

    Ihre Tage verbrachte sie mit Lesen. Seite um Seite, Tag um Tag flogen an ihr vorbei, während sie in ihrem Lieblingssessel saß und mit den Buchstaben tanzte. Sie steckte ihre Nase in alle Geschichten, historischen Abschriften und Monografien, die in den rotbraunen Regalen auf sie warteten. Auch die Bildbände studierte sie, die Karten und Prophezeiungen, die keinen Sinn ergaben. Sie trank die Worte, genoss die Bilder und atmete den Duft von Papier und Tinte.

    Ihr Drang zu lesen wuchs ins Bodenlose. Immer mehr und immer mehr Bücher verleibte sie sich ein, bis sie nur noch in ihnen lebte. Vor den Fenstern der Bibliothek wechselten sich von ihr unbeobachtet die Jahreszeiten ab, es war ihr einerlei. Ob Sommer oder Winter, Lumea konnte sich das Wetter, den Ort oder die Zeit in ihren Büchern aussuchen. Sie war glücklich in ihrer eigenen Welt, die sie sich nach ihrem eigenen Willen gestaltete.

    Eines Tages stieß sie auf das Notizbuch eines Geschichtenerzählers. Darin berichtete der Mann von seinen Reisen und von sieben Menschen, die sich geweigert hatten, ihm ihre Geschichten zu erzählen. Leere Seiten am Ende warteten darauf, mit Tinte und Leben gefüllt zu werden. Sie waren geduldig. Lumea nicht.

    In ihrem Herzen wurde es still, der Drache schlief ein. Das Pulsieren ihrer Schmetterlingsseele schwächelte. Ohne diese ungeschriebenen Geschichten würde sie eingehen.

    Lumea rief den Hauptmann der königlichen Garde zu sich, den alle den Wolf nannten. Er trug das Wappen mit dem Tier, dessen Namen er angenommen hatte, stolz auf der Brust.

    »Ich brauche Eure Hilfe«, sagte Lumea mit rauer Stimme. Sie hielt das Notizbuch hoch. »Es fehlen sieben Geschichten. Ihr müsst sie finden.«

    Der Wolf sah sich um. »Hier gibt es mehr Bücher, als ein Mensch in einem Leben lesen kann. Reicht Euch das nicht?«

    »Die Bibliothek der Königin muss vollständig sein«, erwiderte Lumea nachdrücklich. Sie musste die Geschichten in ihren Besitz bringen. Um jeden Preis.

    »Ich werde nicht selbst gehen«, erwiderte der Wolf ergeben, »aber ich werde Euch sieben meiner Männer zur Verfügung stellen. Sagt ihnen, wo sie die Geschichten finden, und wir bringen sie Euch.«

    Lumeas Herz sang vor Freude. Sie schöpfte Hoffnung, dass die Leere in ihrem Inneren aufgefüllt werden würde.

    Am nächsten Morgen stand ein Mann der Garde vor der Bibliothek und bot seine Dienste an. Lumea hatte in der Nacht zuvor alles für den ersten Auftrag zusammengetragen. Ihre Augen schmerzten von der Arbeit bei Kerzenlicht.

    Sie gab dem Mann den Zettel mit den Anweisungen. »Die erste Geschichte gehört zu einem Schreiner aus den nördlichen Wäldern. Sagt ihm, dass Ihr einen besonderen Tisch für die Königin kaufen wollt. Dann wird er sich Euch vielleicht anvertrauen.«

    Der Mann bedankte sich und zog los, um den Auftrag auszuführen.

    Am nächsten Morgen kam der zweite Mann aus der Garde des Wolfs. Auch ihm gab Lumea Anweisungen. Sie hatte die ganze Nacht über einem Buch gekniet, um ihm eine Karte zu zeichnen, und ihr Rücken brannte von der Anstrengung. Doch die Hoffnung trieb sie weiter an.

    »Die zweite Geschichte gehört zu einer Traumweberin aus den Inselregionen. Sagt ihr, dass sie einen Traum der Königin deuten soll. Dann wird sie sich Euch vielleicht anvertrauen.« Sie reichte ihm die Karte. Nach einem kurzen Dank machte sich der Mann auf den Weg.

    Und so schickte sie über die Tage hinweg alle sieben Männer los, damit sie ihr die fehlenden Geschichten brachten. Neben dem Tischler und der Traumweberin gab es noch eine Köchin, einen Heizer, einen Schneider, eine Wäscherin und eine Uhrmacherin, zu denen die Männer aufbrachen. Immer unter dem Vorwand, im Auftrag der Königin zu handeln. Lumea wusste nicht, was sie sonst hätte tun sollen. Laut den Notizen aus dem alten Buch war es bisher niemandem gelungen, jenen Menschen ihre Geschichten zu entlocken. Und wenn das Wort der Königin nicht zählte, dann gab es keinen anderen Weg.

    Nach der anstrengenden Woche, in der sie jeden Tag und jede Nacht gearbeitet hatte, schmerzte ihr ganzer Körper und ihr Herz war leer. Sie versuchte sich mit anderen Büchern abzulenken, doch keines vermochte ihre Gedanken auszufüllen. Rastlos streifte sie umher. Was sollte sie bis zur Rückkehr der Männer mit sich anfangen?

    Sie geisterte durch die Regale, befreite sie vom Staub und strich über die Buchrücken. Dann fing sie von vorn an, auch wenn sie jeden Tag gebückter ging. Nur der Gedanke an die neuen Geschichten hielt sie aufrecht.

    Eine Woche verstrich, in der sie in ihrer Monotonie gefangen war. Sie aß nicht, trank kaum und nachts warf sie sich von der einen Seite auf die andere. Ihr schlichtes Kleid riss an mehreren Stellen, aber sie war zu schwach, sich umzuziehen. All ihre Kraft hob sie für jenen Moment auf, in dem sie die Männer der Garde empfangen würde.

    Und endlich kam der Tag, an dem der erste zurückkehrte. Er reichte ihr einen Stapel Papier, jede Seite dicht mit Tinte beschrieben. »Dies ist die Geschichte des Schreiners. Er erschuf einst einen magischen Tisch, der sich von selbst decken konnte und Essen für die ganze Familie zauberte.«

    Lumea nahm das Papier mit zitternden Fingern entgegen. Sie würde sich sogleich auf die Geschichte stürzen und sie ordentlich in das Notizbuch übertragen. Der Mann verbeugte sich zum Abschied, und erst da fiel ihr die frische Narbe an der Hand des Mannes auf.

    »Was ist mit Eurer Hand geschehen?«, fragte sie ihn.

    »Der Tischler hat mir gezeigt, wie ich eine Wiege für mein Kind bauen kann.« Der Gardemann, der bei seinen Worten gelächelt hatte, drehte sich um und ließ sie allein zurück.

    Lumea las die aufregende Geschichte und vergaß für eine Nacht alles um sich herum. Am nächsten Morgen stand der zweite Mann vor der Tür der Bibliothek und brachte ihr die Geschichte der Traumweberin.

    »Sie hat aus den Träumen einer jungen Frau ein Wesen geschaffen, das Albträume fressen kann. Seitdem sind alle in ihrem Dorf glücklicher«, erzählte er und händigte ihr einen kleinen Papierstapel mit der niedergeschriebenen Geschichte aus.

    Auch er sah anders aus als vor seiner Abreise. Eine seiner Iriden war nicht mehr braun, sondern grün.

    »Was ist mit Eurem Auge geschehen?«, fragte Lumea.

    »Die Traumweberin hat mich verzaubert. Sie hat mir hundert Nächte guten Schlaf geschenkt.« Der Mann verabschiedete sich fröhlich und ging.

    Lumea rieb sich über die trockenen Wangen und zog sich in die Bibliothek zurück. Sie las die Geschichte über die Traumweberin gern und bannte sie mit Tinte auf Papier. Das Notizbuch füllte sich, ihr Herz jedoch nicht.

    Ihre Gedanken schweiften immer wieder zu den beiden Männern der Garde ab. Etwas an ihren Erzählungen störte sie. Etwas, das ihren Magen schwer machte und sie wie Steine herunterzog. Sie hatte sich von den neuen Geschichten vergeblich Zufriedenheit erhofft. Vielleicht, dachte sie, vielleicht wirkte es erst, wenn sie alle sieben beisammenhatte.

    Nach den ersten beiden kehrten noch vier der restlichen Männer der Garde mit den Geschichten zurück. Bald füllten die Worte über die Köchin, den Heizer, den Schneider und die Wäscherin die Seiten des Notizbuchs. Sie las sie in einem Rutsch durch und empfand so etwas wie Freude. Doch sie währte immer nur bis zum nächsten Morgen. Dann kehrte die Leere zurück, ihr wölfischer Hunger war nicht gestillt.

    Es war ein Spiel zwischen ihr und ihren Gefühlen, mit den Geschichten als Spielsteinen. Am Ende würde es nur eine Gewinnerin geben. Die letzte Partie, die siebte und letzte Geschichte, würde über Sieg und Niederlage entscheiden.

    Doch sie kam nicht. Lumea wartete und wartete. Unruhig streifte sie durch die Bibliothek, vom Fenster zur Tür und wieder zurück. Sie hielt Ausschau nach dem siebten Mann und der Geschichte der Uhrmacherin, die ihr endlich Frieden bringen sollte.

    Weitere sechs Nächte und sieben Tage vergingen, ehe der Mann zurückkehrte. Er erschrak, als Lumea ihm die Tür öffnete. Sie war nur noch ein Schatten, der sich selbst nicht mehr im Spiegel erkannte. Ihre Haut war aschfahl und gräulich wie ein Bogen Papier, die Haare glänzend wie ein abgegriffener Ledereinband und die Lippen blau wie Tinte. Als Lumea die leeren Hände des Mannes sah, fiel sie auf die Knie.

    »Wo ist die Geschichte der Uhrmacherin?«, fragte sie flehend.

    Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich habe sie nicht. Aber die Uhrmacherin ist selbst gekommen.« Er trat einen Schritt zur Seite.

    Hinter ihm tauchte eine junge Frau in einem graubraunen Kleid auf, die an einem breiten Ledergürtel allerhand Werkzeug mit sich trug. Sie hatte ihre hellen Haare zu einem Knoten zusammengefasst und Lumea erhaschte einen Blick auf ihre Augen. Sie wirkten älter als die junge Frau. Weiser.

    Die Uhrmacherin half Lumea auf und führte sie zu ihrem Sessel.

    »Was ist mit Euch?«, fragte sie. »Seid Ihr verflucht?«

    Lumea schüttelte den Kopf, was ihre ganze Kraft kostete. »Eure Geschichte«, bat sie. »Erzählt sie mir.«

    »Nur wenn Ihr mir vorher Eure erzählt«, antwortete die Uhrmacherin. »Ich gebe nichts umsonst.«

    »Und wenn ich Euch Geld gebe?«

    »Nein. Eure Geschichte ist wertvoller als alles, was Ihr oder die Königin mir geben könntet.«

    Geschichten waren wertvoller als Gold.

    Wie hatte sie das vergessen können?

    Lumea sah zu der jungen Frau auf und öffnete den Mund. Doch kein Ton kam heraus. In ihrem Kopf ballten sich die Worte, all jene, die sie gierig in sich aufgenommen hatte. Sie hätte ihr von dem Tischler erzählen können oder von der Traumweberin oder von einer der unzähligen anderen Geschichten, die sie verschlungen hatte. Aber von ihrer eigenen?

    »Ich heiße Lumea. Und ich bin Bibliothekarin«, sagte sie schließlich.

    »Und weiter?«

    Lumeas Erinnerung war so leer wie ihr Herz. Ihr fehlten die Worte, obwohl ihr ganzes Sein damit gefüllt war. Aber es waren nicht ihre. Ihr Magen fühlte sich an, als wäre er mit Wackersteinen gefüllt, und zugleich war ihre Seele hohl.

    Die Uhrmacherin legte ihr die Hände an die Wangen. »Mein Name ist Hoda. Meine Leibspeise sind süße Brötchen mit Himbeeren. Und Eure? Und wann habt Ihr das letzte Mal etwas gegessen?«

    Lumea erinnerte sich nicht. Dabei waren es so einfache Fragen. Es konnte nicht lange her sein, dass sie etwas gegessen hatte. Aber was? Und was aß sie gern? Je länger sie darüber nachdachte, umso dunkler wurde es ihr vor Augen. Um nicht in Ohnmacht zu fallen, sagte sie, was ihr als Erstes in den Sinn kam. »Braten. Brei. Brot mit Marmelade.« Ihre Stimme war rau und kaum noch zu hören.

    Die Uhrmacherin schüttelte den Kopf. »Ihr habt Euch zwischen all diesen Geschichten verloren, Lumea.«

    Verloren. Sie hatte das Spiel verloren.

    »Muss ich jetzt sterben?«, fragte Lumea angsterfüllt und rollte sich zusammen.

    Hoda zog eine goldene Taschenuhr hervor und hielt sie Lumea hin. »Ich habe jeden Tag mit Menschen und der Zeit zu tun und habe eines dadurch gelernt. Es ist nie zu spät, um sich wiederzufinden.«

    »Aber meine Geschichte ist fort«, flüsterte Lumea, und Tränen liefen ihr über die Wangen.

    »Sie ist nicht fort. Sie ist nur nicht hier. Folgt mir.«

    Sie half Lumea auf die Beine, und gemeinsam verließen sie die Bibliothek. Es war das erste Mal seit … Lumea wusste es nicht. Eine Dienstmagd vor der Bibliothek entdeckte die beiden jungen Frauen und hob die Hand zum Gruß.

    »Lumea, Euch habe ich seit drei Monden nicht mehr auf dem Flur gesehen. Was ist geschehen?«

    Drei Monde also. So lange hatte sich Lumea in die Bibliothek zurückgezogen. Die Uhrmacherin wechselte ein paar Worte mit der Magd und zog Lumea weiter. Sie kamen zur Küche, wo der Koch seine Mütze zog, als er die beiden Frauen sah.

    »Euch habe ich seit zwei Monden nicht mehr gesehen. Was habt Ihr seitdem gegessen?«

    Damit war auch diese Frage beantwortet. Hoda bat den Koch um einen Tee für Lumea, die diesen widerwillig trank. Die Wärme kehrte in ihre Glieder zurück, ihre Lippen wurden rosig.

    »Was isst Lumea am liebsten?«, fragte die Uhrmacherin den Koch.

    »Brot mit Ziegenkäse und Feigen«, antwortete er und bereitete es sogleich zu. Lumea probierte ein Stück von dem belegten Brot, und einer der Wackersteine in ihrem Magen löste sich in Vertrautheit auf. Sie hatte ein Stück von sich wiedergefunden.

    So zogen Lumea und Hoda von Raum zu Raum und setzten Stück für Stück Lumeas Geschichte zusammen. Die Waschfrauen säuberten Lumea und gaben ihr ein frisches schwarzes Kleid, in dem sie sich wie eine Prinzessin fühlte. Ihr Haar duftete nach Geißblatt, was laut einer der Frauen ihr Lieblingsduft war.

    Der Gärtner führte die beiden zu den rosa Rosen, die Lumeas Lieblingsblumen waren. Der Stallmeister zeigte ihr eine zutrauliche Stute, mit der Lumea früher gern ausgeritten war. Und als sie in das Dorf gingen, erkannten viele Menschen Lumea und erzählten der Uhrmacherin von ihr. Für Lumea war es, als würde sie wie Hoda ihre eigene Geschichte zum ersten Mal hören. Doch der Drache und der Schmetterling in ihr erwachten zu neuem Leben, als sie die vertrauten Stimmen und Worte vernahmen, die Lumeas Leben erzählten.

    Am Ende des Tages fühlte sich Lumea wieder wie sie selbst. Sie und Hoda waren auf den Hügel gestiegen, von dem aus sie das gesamte Dorf überblicken konnten. Die Abendsonne wärmte ihnen die Rücken, als sie sich auf einem Felsen niederließen und in das Tal hinabsahen.

    Hoda schenkte ihr die Taschenuhr, die sie ihr zuvor gezeigt hatte. »Du solltest mehr Zeit in deiner Geschichte verbringen als in denen anderer.«

    Lumea dachte an das Gefühl, das beim Anblick der zurückgekehrten Männer in ihr erwacht war. Jetzt, da sich ihr Blick geklärt hatte, erkannte sie darin Neid. Sie hatte sie um ihre Geschichten beneidet, die sie auf der Reise erlebt hatten, während Lumea nur dagesessen und gewartet hatte.

    Lumea liebte Bücher und Geschichten nach wie vor. Aber sie würde nie wieder vergessen, dass das echte Leben, ihr echtes Leben, die besten und erfüllendsten Geschichten schrieb.

    Olga A. Krouk

    Als Olga und ich uns das erste Mal trafen, trug sie ein rosafarbenes Tutu über der Jeans. Das war auf der Fantasy Leseinsel während einer Leipziger Buchmesse, und ich durfte eine Veranstaltung moderieren, in der sie ihren humorvollen Märchen-Fantasyroman Ewiglich … Dornröschen?: Kiss my ass! vorstellte.

    Dass Olga eine tolle Schriftstellerin und ein megasympathischer Mensch ist, wusste ich da aber schon länger. Denn kennengelernt haben wir uns bereits Jahre zuvor, weil wir beide Artikel für das Print-Magazin Nautilus– Abenteuer & Phantastik schrieben – manchmal sogar zusammen.

    Olga schreibt auf Deutsch, obwohl das eigentlich nicht ihre Muttersprache ist. Sie wurde in Moskau geboren. Ihre Kindheit verbrachte sie in der Ukraine, ehe sie mit ihrer Familie nach Sankt Petersburg zog, wo sie mit dem Schreiben begann. 2001 kam sie dann nach Berlin – mit einem Kopf voller Romanideen, wie sie selbst gern sagt. Ihr Debüt Schattenseelen ist eine Urban-Fantasy-Trilogie, die in Hamburg spielt, danach folgten unter anderem zwei Romantic-Thrill-Romane. Mit Die Schattenflüsterin – Zwischen Herz und Dämon erschien ein Romantasy-Roman bei uns im Drachenmond Verlag.

    Heute lebt Olga mit ihrem Mann und vier Söhnen in einer kleinen Stadt in Schleswig-Holstein. Als Clara Langenbach schreibt sie historische Romane (Die Senfblütensaga). Auf meine Einladung hin ist sie aber erfreulicherweise wieder zur Märchen-Fantasy zurückgekehrt. Viel Spaß mit ihrer Geschichte, in der sie mehrere Märchenmotive verknüpft – allen voran das des zweiten Sohnes.

    www.olgakrouk.de

    Der zweite Sohn

    OLGA A. KROUK

    Nirgends war die Welt so tot wie im verwunschenen Schloss. Die alten Bücher behaupteten, in diesem Gemäuer lauere der Wahnsinn selbst, der ahnungslose Reisende dazu bringe, aus den Fenstern zu stürzen und geradewegs in die Arme des Todes zu laufen. Doch die Bücher irrten sich. Es war nicht der Wahnsinn. Es waren die Spiegel, die den Boden, die Wände und sogar die hohe Kuppeldecke pflasterten.

    Vorsichtig schob er seinen rechten Fuß vor. Bis zur Mitte des Saals war nichts passiert, doch jetzt zog sich ein hässlicher Riss durch die Spiegel unter ihm. Winzige Splitter schwebten in der Luft. Nur ein falscher Schritt, ein unvorsichtiges Wort – und die Scherben würden ihn vernichten. Das spürte er, so wie er die kalten Blicke spürte, die ihm seine eigenen Spiegelungen von überallher zuwarfen. Als würden sie nur auf einen Fehler warten.

    Doch dieses Mal würde er keinen machen. Die Zukunft seines Königreiches stand auf dem Spiel. Alles hing davon ab, ob er es schaffte, den einzig wahren Zauberspiegel zu finden.

    Doch welcher war der richtige?

    Langsam drehte er den Kopf.

    Im verfluchten Land ist nichts, wie es scheint. Dieser Satz hatte sich ihm eingebrannt, als er sich auf der Suche nach dem Zauberspiegel durch unzählige Schriften gegraben hatte. Flieh, flieh, solange du noch kannst!, flehte die Stimme in ihm, doch er ließ sie verstummen und fixierte die Spiegel genauer. Auf der Suche nach dem einen, der anders war. Da! Ein dünner Rahmen wie aus Schneereif geformt, in dem sich nichts, absolut nichts spiegelte. Schwärzer als die Nacht lockte die unendliche Leere den Betrachter herbei und labte sich an seiner Seele.

    Ohne den Blick abzuwenden, trat er näher. Es knirschte unter seinen Sohlen. Noch mehr Splitter erhoben sich in die Luft. Wie über eine dünne Eisdecke schob er sich dennoch immer weiter voran, bis er direkt davorstand.

    »Spieglein, Spieglein an der Wand«, begann er mit heftig klopfendem Herz und stockte kurz. »Bist du es wirklich?« Seine Stimme klang verzerrt in seinen Ohren, während die anderen Spiegel knirschten und knackten und die Splitter nur darauf warteten, ihn mit ihren scharfen Kanten in Stücke zu schneiden. »Ich verlier den Verstand«, murmelte er, leckte sich über die trockenen Lippen und versuchte seine Spiegelbilder auszublenden, die ihn hämisch angrinsten.

    »Sieben.«

    Das Wort durchdrang seine Sinne, rauschte durch seine Adern und pochte ihm in den Schläfen. Schneewehen wirbelten durch die Tiefen des Spiegels und bildeten eine weibliche Silhouette, die sich sofort wieder auflöste wie ein Atemhauch an einem eiskalten Wintertag. »Ja. Ich bin es«, erklang die Antwort in ihm. »Und deinen Verstand hast du längst verloren. Vermutlich in dem Moment, in dem du beschlossen hast, hierherzukommen.«

    »Aha?« Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück. »Was … was redest du da?«

    »Sechs.«

    Ein Spiegel direkt neben ihm zerbarst. Eine der Scherben schnitt ihm über das Gesicht, direkt unter seinem Auge. »Sechs Fragen darfst du mir stellen. Wähle sie weise, denn ich kann dir nichts sagen, was du nicht fragst. Doch solange es sich halbwegs reimt, werde ich alles beantworten, was du von mir verlangst. Wie die Sorgen um deinen Verstand.«

    Er öffnete den Mund, schloss ihn aber sofort wieder. So wie es gerade aussah, würde er keine weitere Frage überleben, ohne von den Spiegelscherben zerfetzt zu werden. Das Blut, das ihm über die Wange strömte, war die letzte Warnung gewesen. Das spürte er.

    So vorsichtig wie möglich spähte er zum großen Bogenfenster rechts. Fünf Schritte. Höchstens. Fünfzig bis zum Ausgang hinter ihm. Er wog seine Möglichkeiten ab: Ein Sturz auf den Schlosshof oder der Tod im Scherbenregen.

    Blitzschnell riss er den Spiegel von der Wand. Fünf Schritte! Die Fensterbank. Ein Sprung zur Seite.

    Einer Explosion gleich schossen die Splitter aus dem Fenster, während er an einer Hand am Gesims baumelte, den Spiegel unter den anderen Arm geklemmt. Zum Glück konnte er perfekt klettern, wo andere längst abgestürzt wären. Eine Gabe, die er perfektioniert hatte, um mit seinen Brüdern mitzuhalten. Nun zeigte sich, was wirklich in ihm steckte.

    Er klemmte sich den Spiegel zwischen die Beine und hangelte sich mit geübten Griffen hinunter, selbst beeindruckt von der eigenen Kraft und Geschicklichkeit. Geschafft! Er war den todbringenden Splittern entkommen. Mit einer beiläufigen Geste wischte er sich das Blut von der Wange.

    War es das wert, streifte der Gedanke wie ein Windhauch durch seinen Kopf, sein Leben für ein paar Fragen zu riskieren?

    Trotzig biss er die Zähne zusammen, packte den Spiegel mit beiden Händen und sah auf die dunkle Oberfläche. »Spieglein, Spieglein an der Wand …«

    »Bin ich denn an der Wand?« Jeder Laut, der in ihm erklang, zupfte an seinen Sehnen wie an den Saiten einer Geige und brachte sein Inneres zum Vibrieren. »Nein, da bin ich nicht. Denn du hast mich gewaltsam fortgerissen.«

    Er stockte. Hatte der Zauberspiegel etwa Gefühle? Seine Stimme zitterte, als er erneut ansetzte: »Spieglein, Spieglein in der Hand. Wo ist die Schönste im ganzen Land?« Sobald die letzte Silbe seine Lippen verließ, hielt er inne.

    »Fünf.«

    Ohne zu blinzeln, starrte er auf die wirbelnde Gestalt, die aus unzähligen Schneeflocken bestand.

    »In den Bergen«, erklang die unterkühlte Antwort in ihm. »Bei den sieben Zwergen.«

    Frostblumen breiteten sich über die Oberfläche aus, die Wälder, Berge und eine einsame Holzhütte in einem Tal formten.

    Fest umfasste er den Spiegelrahmen, ungeachtet des eisigen Schmerzes, der sich in seine Handflächen biss. Wenn er sich beeilte, konnte er schon bald bei der schönsten Frau sein, die es weit und breit gab!

    Willst du das wirklich? Kehr um, es ist nicht zu spät …

    »Natürlich will ich das, sonst wäre ich nicht hier!«, brüllte er in die Einsamkeit des Hofes hinein. Hatten die alten Bücher doch recht? Streifte der pure Wahnsinn durch dieses Gemäuer?

    Mit bebenden Händen zog er seinen Reisemantel aus, klopfte die Scherben ab, die sich darin verfangen hatten, und wickelte den Stoff um den Spiegel. Schnellen Schrittes durchquerte er den Innenhof und sprang die Stufen hinunter zum Gang, der nach draußen führte. Zu schwer wog der Gedanke, er würde dem Druck nicht standhalten und womöglich … umkehren. Vielleicht war er einfach nicht zum Herrschen geboren … Nein, nicht daran denken! Dieses Mal würde er siegreich heimkehren, die Gunst seines Vaters gewinnen und den Neid seiner Brüder genießen. Er biss die Zähne zusammen. Die beiden hatten es von Anfang an leichter gehabt! Aber ihm, dem Zweitgeborenen, blieb nur das Los der Unsichtbarkeit. Wenigstens hatte sein Vater in der Frage um die Thronfolge allen drei Söhnen die gleichen Chancen eingeräumt. Und diese Chance würde er jetzt nutzen!

    Mit langen Schritten eilte er zum Pferd, befestigte den Spiegel

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