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Stillerthal: Das Lied Aymurins
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Stillerthal: Das Lied Aymurins
eBook248 Seiten3 Stunden

Stillerthal: Das Lied Aymurins

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Über dieses E-Book

Wer ist die schwer verletzte junge Frau, die der Waldbauer Matthis am Rande der Matthisalm findet? Auf welchem Weg kam sie in die abgelegene Gebirgsregion und wer ist der Vater ihres ungeborenen Kindes? Ohne zu ahnen, auf welche Verstrickungen er sich einlässt, nimmt Matthis die Fremde bei sich auf und gewährt Lele und ihrer in der Abgeschiedenheit des Bergbauernhofes geborenen Tochter Aeolin Unterschlupf. Als er einwilligt, auch das ausgesetzte Kind mit dem auffälligen Amulett um den Hals bei sich aufzunehmen, setzt er ein Geschehen in Gang, das Stillerthal in den Mittelpunkt einer viel älteren Erzählung vom Ursprung Aldan-Aymurins und der Allianz der drei Völker rückt. Eine dramatische Auseinandersetzung um Unterdrückung und Aufbegehren, Mut und Aufopferung beginnt.

Die neue Fantasy-Reihe "Das Lied Aymurins" entführt den Leser in die archaische Welt der Menschen, Feh und Pukh, eine Welt voller Geheimnisse, in der vieles nicht so ist, wie es scheint.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum2. März 2018
ISBN9783724522935
Stillerthal: Das Lied Aymurins

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    Buchvorschau

    Stillerthal - Martina Simonis

    Autorin

    Die Fremde

    Der Tag war jung. Noch zogen Jäger, Hirte und Stier ihre Bahnen über den nächtlichen Himmel, nur ein schmaler heller Streif am Horizont zeigte an, dass sich Sol bereit machte, erneut ihre Herrschaft über das Firmament anzutreten.

    Wie jeden Tag in der Warmzeit, wenn die Kühe oben auf den Hochweiden grasten, stand Matthis vor Tagesanbruch auf, schlüpfte in seine Lederhose und band sich den Gürtel um. Dann griff er sich den Stock, schulterte die Kiepe und machte sich auf den Weg hoch zur Matthisalm. Schlaftrunken stieg er den schmalen Waldweg hinauf. Er stieg ohne Eile. Im ruhigen Rhythmus der Bergbewohner setzte er Schritt vor Schritt und wartete, dass die Frische des Morgens die Müdigkeit vertrieb. Heute musste er lange warten. Schnuppernd hob er den Kopf. Es hatte keinen Raureif gegeben in der Nacht und die Luft war ungewöhnlich mild. Ob das eine weitere Masura Sonnenschein oder einen baldigen Wettersturz bedeutete, konnte er noch nicht sagen, das musste der Tag weisen. Aber eines war sicher, lange konnten die Tiere nicht mehr auf der Alm bleiben, die Zeit für den Abtrieb rückte näher.

    Nach einem letzten steilen Wegstück ließ Matthis die Krüppelkiefern hinter sich und trat in die Weite der Almen hinaus. Wie ein heller Ring umsäumten sie die Bannwälder Stillerthals, überragt nur von den mächtigen Bergmassiven, die das Tal von allen Seiten bedrängten wie eine Armee eisgeharnischter Krieger. Ein einziger schmaler Spalt dort, wo sich der Wilderbach seit Tausenden von Jahren einen Durchlass in den Fels gegraben hatte, wies die Stelle, die das Hochtal mit der Welt der Tieflande verband.

    Während die Wälder und Felder am Talboden noch in nächtlicher Dunkelheit verharrten, schimmerten die Berge und Almen im frühen Dämmerlicht. Die kleine Kuhherde auf der Matthisalm war bereits erwacht. Gemächlich trotteten die zottigen Kühe über die Alm und kosteten hin und wieder einen Büschel Gras. Als Matthis nahe der Almhütten war, schnalzte er mehrmals mit der Zunge und rief leise und lockend: «Kooomm, Kooomm, komm, Maya. Kooomm, kooomm, komm!» Sofort hob die Leitkuh den Kopf und muhte eine Antwort. Die kleine Herde setzte sich in Bewegung, dunkle Kuhleiber strebten dem Melkstand zu. Matthis begrüßte seine Kühe mit etwas Salz, dann führte er eine nach der anderen auf die Holzplattform, massierte die prallen Euter mit Eutersalbe und molk sie ab. Am Ende war der Eimer voll und die Kühe verteilten sich zufrieden auf der Weide.

    Matthis wusch sich die Hände am Wassertrog und setzte sich auf einen strohgepolsterten Platz vor der Hütte. Er holte ein in ein Tuch eingewickeltes Stück Brot aus der Kiepe, schöpfte sich eine Schale frisch gemolkener Milch und ließ sich sein Frühstück schmecken. Als er geendet hatte, legte er die Holzschale weg, stand auf und streckte sich. Schweigend sah er zu, wie die Sonne hinter den Bergen aufging und die Alm mit ihrem strahlenden Licht flutete. Mit geschlossenen Augen empfing er die wärmenden Strahlen Sols, der Königin des Himmels.

    Als er die Augen wieder öffnete, fiel sein Blick auf die beiden Bäume, die eng ineinander verschlungen etwas oberhalb der Matthisalm standen. Seit Menschengedenken standen sie dort, weit oberhalb der Baumgrenze, und trotzten den Stürmen und Muren. Von seiner Mutter kannte er die beiden Legenden, die sich um diesen Ort rankten. Eine besagte, die Bäume hätten magische Kraft. Sie seien von den ersten Siedlern gepflanzt worden, um über die Menschen Stillerthals zu wachen. Eine andere Version erzählte, die Bäume seien zur Erinnerung an die Fehriner gepflanzt worden, die über die Berge in ein grünes und fruchtbares Land jenseits des Kharr-Gebirges gezogen seien. Matthis’ Mutter hatte den Ort in Ehren gehalten und ihn regelmäßig besucht, selbst als die Geschichten wie auch der Ort selbst bei den Stillerthalern in Vergessenheit geraten waren. In der ersten Zeit nach ihrem Tod hatte Matthis versucht, diese Tradition seiner Mutter aufrechtzuerhalten, aber die Mühsal des Alltags hatte seine Besuche bald einschlafen lassen. Sein letzter Gang hinauf zu den Wächterbäumen lag schon Jahre zurück. Zu viele Jahre, dachte Matthis, brach eine besonders schöne Lichtnelke und stapfte den kurzen Weg zu den beiden Bäumen hinauf.

    Matthis war fast angekommen, als er wie angewurzelt stehen blieb.

    «Sol, Sal und Seller!», entfuhr es ihm.

    Am Fuße der Bäume lag eine menschliche Gestalt. Es war eine junge Frau. Das lange Haar war verfilzt und staubig, das helle Wollkleid und der einst hochwertige Umhang hingen in Fetzen. Die nur notdürftig mit Lappen umwickelten Füße waren übersät von blutigem Schorf. Trotz des Schmutzes leuchtete ihr Haar in der Farbe eines reifen Einkornfeldes und ihre Haut war unnatürlich hell. In der schattigen Kuhle unter den Bäumen wirkte sie fremd und unwirklich. Matthis kniete nieder und berührte sie leicht.

    «Hayda, fremde Frau, hörst du mich?»

    Sie bewegte sich nicht. Matthis tastete nach ihrem Puls. Er war schwach, aber vorhanden. Als er die Frau vorsichtig umdrehte, löste sich der Umhang und gab ihren linken Arm frei. Eine tiefe, blutig-eitrige Wunde klaffte über die gesamte Länge des Armes und verstümmelte dessen makelloses Ebenmaß. Matthis zog scharf die Luft ein. Er kannte solche Wunden von Kühen, die nach einem Absturz tagelang durchs Gelände geirrt waren, ehe sie gefunden wurden. Und er wusste, es war höchste Zeit zu handeln, wenn es nicht schon zu spät war. Entschlossen riss er den Umhang in Streifen und band damit den verletzten Arm am Körper der jungen Frau fest. Dann warf er sie sich über die Schulter und stieg zur Alm hinunter.

    Vince kam fröstelnd aus dem kühlen Naturkeller, in dem Matthis’ Käse reifte. Er kippte den kleinen Rest Sole, die er zum Abreiben der Käselaibe genommen hatte, in den Bottich, der neben der Käserei stand. Dann hockte er sich zufrieden auf die kleine Holzbank vor der Stube und wärmte sich in der Morgensonne.

    Vince war gern Kuhbub auf dem Matthishof. Der Hof lag fernab vom Dorf auf einem kleinen wiesengesäumten Plateau mitten im Bannwald. Das war ihm gerade recht. Hier hatte man seine Ruhe. Keine keifenden Nachbarn, und der Vater, der ihn immer schlug, wenn er etwas falsch machte, weit weg. Matthis schlug nie. Weder ihn noch die Kühe. Zu den Kühen war er besonders freundlich. Vince verstand nicht, warum manche die Stirn runzelten, wenn sie von Matthis redeten. Nur seine Eutersalbe nahmen alle gern. Vince war überzeugt, dass niemand so viel von Kühen verstand wie Matthis. Matthis hatte sogar eine von Lundis’ besten Milchkühen, die sich ein Bein gebrochen hatte, so gut geschient, dass man nach ein paar Monden nichts mehr merkte.

    Dösig saß Vince auf der Bank, als ihn das tiefe Muhen von Matthis’ Leitkuh aus dem Halbschlaf riss. Kurze Zeit später sah er Maya und die anderen Kühe in dichtem Gedränge den schmalen Fußweg, der den Hof mit der Alm verband, hinunterstapfen, Matthis folgte dicht dahinter. Aber Matthis kam nicht allein. Über den Schultern hatte er den leblosen Körper einer Frau hängen. Vince sprang auf und lief ihm entgegen. Mit offenem Mund starrte er das fremde Stück Mensch an. Matthis blieb kurz stehen und reichte Vince seinen Stock.

    «Hier, bring die Kühe auf die Hausweide und dann komm ins Haus, ich brauch dich.»

    Vince nickte und trieb die Kühe auf die kleine umzäunte Wiese, die direkt neben dem Hof lag. Die Kühe kannten Vince und sie kannten die Weide und so folgten sie ihm brav. Sobald das letzte Kalb auf der Wiese stand, schloss Vince das Holzgatter und rannte ins Haus. Als er in die Stube kam, blieb er abrupt stehen.

    «Igitt!», japste er. «Das stinkt!»

    Matthis sah ihn streng an.

    «Ein verkoteter, kranker Körper riecht nie gut. Komm jetzt, ich will, dass du was lernst.»

    Matthis hatte die Fremde auf den langen Küchentisch gelegt, der den Küchenbereich vom übrigen Raum abtrennte. Über der gemauerten Feuerstelle hing ein Topf mit brodelndem Wasser. Eilig trug Matthis Schüsseln, Schöpfkelle und allerlei Kräuterutensilien aus Regalen und Schränken zusammen. Als er alles beisammen hatte, holte er ein Messer und zerschnitt in zügigen Schnitten die zerfetzten Kleider, zog sie vorsichtig ab und warf sie ins Feuer. Dort, in den prasselnden, lodernden Zungen fanden sie ein schnelles Ende.

    «Reinheit und Sauberkeit, das ist das Wichtigste, wenn du Krankheit besiegen willst», erklärte Matthis. «Vergiss das nie!»

    Vince nickte. Andächtig sah er zu, wie Matthis die Waschschüssel mit heißem und kaltem Wasser sowie einigen Kräutern und Seifenraspeln füllte. Dann wusch er mit einem Lappen den nackten Körper so oft ab, bis das Wasser dunkel war. Vince beobachtete atemlos, wie sich aus dem dreckverkrusteten Fleisch ein weißer Körper schälte.

    «Sie sieht ekelig aus. Wie eine Made!», meinte er.

    Matthis blickte ihn nachdenklich an.

    «Fass sie an», befahl er.

    Zögernd streckte Vince die Hand aus und berührte den hellen Körper.

    «Was spürst du?», fragte Matthis.

    «Es ist glatt und da sind kleine Härchen.»

    «Nun berühre deinen eigenen Arm.»

    Vince tat, wie ihm geheißen.

    «Was spürst du nun?»

    «Er ist auch glatt und hat kleine Härchen», gestand Vince.

    Matthis nickte.

    «Es ist nicht die Hautfarbe, die einen Mensch zum Menschen macht. Präge dir das gut ein!»

    Dann machte er sich wieder an die Arbeit. Er wickelte der Fremden mit flinken Bewegungen eine Windel um den Schritt und deckte sie mit einem sauberen Tuch zu. Schließlich näherte er sich dem linken Arm und zeigte auf das feuchte Tuch, mit dem er den Arm abgedeckt hatte.

    «Warum habe ich das gemacht?», fragte er. Vince schüttelte den Kopf.

    «Weiß nicht.»

    «Sie hat eine böse Wunde. Stoff hat sich darin verklebt. Der Stoff muss sauber entfernt werden.»

    Matthis hob das Tuch ab. Vince zog scharf die Luft ein. Eine tiefe, eitrige Wunde zog sich über die gesamte Länge des Armes. Vince hatte noch nie eine so schlimme Wunde gesehen. Beklommen beobachtete er Matthis, der unschlüssig dastand und den Arm betrachtete.

    «Was machst du, wenn du so eine Wunde vor dir hast?», fragte er, mehr zu sich selbst als zu Vince.

    Vince schluckte und versuchte, nicht zu genau hinzusehen.

    «Weiß nicht.»

    «Eigentlich müsste man den Arm amputieren», murmelte Matthis, und Vince merkte, wie sehr ihm die Vorstellung zuwider war.

    Wieder stand Matthis minutenlang da, ohne sich zu bewegen. Nachdenklich fuhr er fort: «Aber sie ist noch so jung … Wenn ich Mutters Vorrat aufbrauche, wir könnten es schaffen …»

    «Was?»

    «Den Arm wieder gesund zu machen!»

    Er überlegte kurz, dann nickte er.

    «Wir könnten es schaffen!»

    Matthis holte eine flache Schüssel und füllte sie mit einer Flüssigkeit aus einer Flasche. Dann legte er ein schlankes Messer und andere Gerätschaften hinein, holte sie wieder heraus und hielt sie kurz über das Feuer. Blaue Flammen schossen in die Höhe, es sah aus, als wollten sie die Dinge verzehren, aber kurz darauf erloschen die Flammen von allein.

    «Feuer reinigt», sagte Matthis. «Alles, was mit so einer schlimmen Wunde in Kontakt kommt, muss vom Feuer gereinigt werden! Alles!»

    Matthis badete kurz seine Hände in der Flüssigkeit und hielt sie ebenfalls über das Feuer. Vince schrie auf, als blaue Flammen um die Hände emporzüngelten. Aber dann zog Matthis seine Hände schon wieder aus dem Feuer und die Flammen erstarben.

    Atemlos verfolgte Vince, wie sich Matthis an die Arbeit machte. Zuerst band er den Arm ab und entfernte die verklebten Stofffetzen. Dann öffnete er die alte Wunde, entfernte Eiter, Narbengewebe, schnitt faules Fleisch weg. Immer wieder tunkte er saubere Tücher in eine Flüssigkeit und reinigte damit die Wunde. Am Ende vernähte er das klaffende Fleisch, umwickelte den Arm mit dünnen Rindenstücken und löste den Druckverband.

    Matthis zeigte auf den Rindenverband und sah Vince scharf an.

    «Das da hast du nie gesehen, ist das klar?»

    Vince nickte ängstlich.

    «Was ist das?», fragte er.

    «Binha-ban. Rinde vom Fehnbaum. Die Leute denken, es ist Frevel, Hexenwerk. Aber das ist es nicht. Es ist vom Bruchholz, ein Schatz, freiwillig gegeben!»

    Schließlich nahm er die Bastschale, in die er das faule Gewebe und die Lappen geworfen hatte, und hielt sie Vince vor die Nase.

    «Was passiert damit?»

    Vince musste den Kopf abwenden, so übel wurde ihm bei dem Geruch.

    «Ein tiefes Loch graben und reintun?», presste er mühsam hervor.

    «Das ist nicht schlecht, aber damit ist das Kranke nicht tot. Es ist immer noch da, wenn auch vergraben. Was habe ich über Wunden gesagt?»

    «Dass alles, was mit einer Wunde in Berührung kommt, vom Feuer gereinigt werden muss.»

    «Richtig. Und das tun wir nun.»

    Matthis trug die Schale zum Feuer und warf sie mitsamt dem Inhalt in die lodernden Flammen. Dichter, beißender Rauch qualmte auf. Vince riss die Hände vor den Mund und rannte nach draußen, wo er sich übergab.

    Vince fegte den Staub des Sommers aus dem Kuhstall. Er machte den Hühnerstall sauber. Brachte reifen Dung im Gemüsegarten auf. Riss die Brennnesseln, die in Massen rund ums Haus wuchsen, aus. Nur um nicht an die Frau in der Stube denken zu müssen. Um die Bilder nicht mehr sehen zu müssen. Dabei merkte er nicht, dass die Luft dumpfer wurde und der Himmel zuzog. Erst als es in der Ferne donnerte, blickte er auf. Eine gelbgraue Wolkenfront jagte aus Richtung der untergehenden Sonne heran und hatte in kurzer Zeit den Himmel erobert. Gerade noch rechtzeitig scheuchte Vince die Hühner in ihren Verschlag, dann brach das Unwetter los. Unter heftigen Hagelschauern trieb er die Kühe in den Stall, dann floh er in die warme Stube.

    «Puh!» Er schüttelte sich und zog das durchnässte Hemd aus. «Gut, dass die Kühe unten sind. Dieses Wetter hätte ihnen gar nicht gefallen.»

    Matthis sah nur kurz auf den prasselnden Eisregen vor dem Fenster.

    «Gut, dass sie unten ist», sagte er und nickte in Richtung der Kranken. «Sie hätte die Nacht dort oben nicht überlebt.»

    Vince sah scheu auf die Fremde, die jetzt in Matthis’ Alkoven nahe der Herdstelle lag. Ihr Atem ging schnell und stoßweise, dicke Schweißtropfen standen auf der kalkweißen Stirn. Manchmal warf sie unter krampfartigen Zuckungen den Kopf hin und her oder bäumte sich auf. Matthis saß mit verbissenem Gesicht neben ihr, wischte ihr immer wieder mit einem feuchten Tuch Stirn und Hände ab und träufelte ihr mit einem Löffel etwas Flüssigkeit in den leicht geöffneten Mund.

    Jetzt stand er auf, tauchte zwei Tücher in den Wassereimer, der auf Küchentisch stand, und wrang sie aus.

    «Komm her, damit du was lernst.»

    Er gab Vince die Tücher in die Hand.

    «Hier, das kannst du machen. Wickel die Tücher fest um die Unterschenkel. Achte darauf, dass das Wasser nicht zu kalt ist, gib im Zweifel etwas warmes Wasser vom Topf dazu. Das Tuch wird schnell warm, dann hilft es nicht mehr. Deswegen musst du es regelmäßig erneuern. Und achte darauf, dass das Bettzeug nicht nass wird. Leg immer ein Stück Fell unter. Und wechsle auch das Fell regelmäßig. Dort drüben auf dem Stuhl liegen zwei Kuhfelle bereit, die kannst du nehmen.»

    Vince hob die Bettdecke und machte sich daran, die Tücher um die Beine der Kranken zu wickeln. Beim ersten Kontakt zuckte er zusammen.

    «Sie ist so heiß!»

    Matthis nickte und flößte der Fremden weiter kleine Löffelchen Sud in den Mund.

    «Aber du machst sie wieder gesund, nicht?»

    Matthis sagte nichts.

    «Du bist der beste Heiler, den ich kenne», versuchte Vince sich und seinem Lehrvater Mut zu machen. «Besser als Marvis! ‹Einläufe mit leicht gesalzenem Honigwasser bei Durchfall, Molke mit einem Sud aus Tammil gegen Entzündungen und Wurmbefall, Birkenknospentee zur Fiebersenkung, Wundbehandlung mit Birkenrinde›», zitierte er stolz. «Ich habe mir alles gemerkt!»

    Matthis legte Becher und Löffel beiseite und wandte sich Vince zu. Eindringlich blickte er ihm in die Augen.

    «Vince, du musst mir etwas versprechen, das sehr wichtig ist. Lebenswichtig.»

    Vince nickte eingeschüchtert.

    «Ich bin kein Heiler, Vince. Ich DARF kein Heiler sein! Ich bin Matthis, der Kuhbader, mehr nicht. Das Wissen um das, was wir hier tun, darf nie den Matthishof verlassen. Nie! Du wirst darüber kein Wort zu niemandem sagen, auch nicht zu deinem Vater. Versprichst du mir das?»

    Vince starrte ihn an.

    «Ich verspreche es!», flüsterte er.

    Matthis legte seine kräftige rechte Bauernhand auf seine Brust.

    «Auf dein schlagendes Herz?»

    Vince tat es ihm nach. Seine Bubenhand mit dem zerrissenen Hemdsärmel legte sich auf die magere Brust.

    «Auf mein schlagendes Herz!», schwor er andächtig.

    Matthis nickte.

    «Gut. Dann wäre das geklärt.»

    Er wandte sich wieder der Kranken zu.

    Vince beobachtete, wie er Löffel um Löffel in den kleinen Spalt zwischen den ausgetrockneten Lippen flößte.

    «Aber du machst sie wieder gesund?»

    Matthis antwortete nicht gleich.

    «Wir können heil machen, was zum Leben bestimmt ist. Wir sind machtlos, wenn dem Tod die Herrschaft gebührt», sagte er dann, mehr zu sich selbst als zu Vince.

    Nachdenklich wischte Matthis der Fremden mit einem feuchten Tuch die Schweißperlen von der glühenden Stirn.

    «Und ich weiß noch nicht, was Aoum für sie vorgesehen hat.»

    Danach wurde nicht mehr gesprochen. In Stille verstrichen die Stunden, die nur von dem regelmäßigen Wechsel der Wadenwickel, der Zubereitung von frischem Tee und dem Beträufeln der Lippen unterbrochen wurden. Einzig der wütend an die Fensterscheiben klopfende Eisregen erinnerte daran, dass es eine Welt jenseits der Stille gab. Als das letzte fahle Abendlicht verloschen war und der Schwärze der Nacht Platz gemacht hatte, stand Matthis auf und legte Vince die Hand auf den Arm.

    «Das reicht, Vince, das reicht. Hol dir was zu Essen aus der Kammer, du weißt, wo alles ist. Schau auch noch einmal nach den Kühen. Gib den Trächtigen ein wenig Korn, sie brauchen jetzt eine Zusatzration. Und dann leg dich ins Bett. Ich komme hier allein zurecht.»

    «Aber …»

    «Kein Aber, geh jetzt.»

    Vince tat, wie ihm geheißen. Nachdem er die Kühe versorgt und sich ein dickes Stück Käse und eine große Scheibe Brot gegönnt hatte, huschte er zu seinem Bett und ließ sich müde auf

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