Im Berg ist ein Leuchten
Von Andri Perl und Adina Andres
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Buchvorschau
Im Berg ist ein Leuchten - Andri Perl
1. DIE ESEL
Wo die Esel hin sind damals, möchte ich wissen.
»Das ist lange her, Lisa«, antwortet Mattia Bischoff, der Buchbinder. Ich besuche ihn in seiner Altstadtwohnung, die er zur Miete nimmt. Er sitzt auf einem weinrot gepolsterten Sessel. Die Regale hinter dem Sessel quellen über. »Sechzig Jahre. Mehr sogar.«
Es war in einem Sommer, den sie einen griechischen Sommer nannten, weil er die Bäche trockenlegte und die Wiesen versengte. Mattia arbeitete hier in der Stadt bei der Großdruckerei und wartete auf das Ende des zweiten Lehrjahres. Darauf, dass endlich der Urlaub anfangen und er nach Hause fahren würde zu den Eltern. Zu den Freunden, die im Tal geblieben waren. An einem der letzten Arbeitstage rief ihn der Lehrmeister ins Büro. Telefon. Für ihn.
Seine Tante Dorina schilderte ihm aufgeregt, wie sich nun alles zum Guten wenden würde. Wie sie wieder jemanden kennengelernt habe, verwitwet wie sie und ein Lieber und ein Lehrer und einer, der nicht nur mit den Schülern könne, sondern auch mit seinem Dorf. Einem Dorf, das zwar drei Autobusstunden entfernt liege, aber sehr einladend sei. Bald ziehe sie zu ihrem Lehrer. Es gebe noch vieles zu tun wegen des Verkaufs des Hofs und der Tiere.
Deshalb müsse sie außer Haus. Und da sie von Mattias Mutter gehört habe, dass er die folgende Woche wieder im Tal sei, frage sie ihn also, ob er zu ihren Eseln schauen könne, für die sie bereits einen Käufer gefunden habe. Besonders auf die trächtige Stute müsse man schauen. Drei bis vier Tage. Danach komme der Transporter, und die Esel kämen auf den Hof des Käufers. Sie habe die Tiere schon von der Alp geholt. Mattia Bischoff sagte Ja.
Seine Eltern empfingen ihn besorgt. Noch nie hatten sie die Rinnen unter ihrem Haus so staubig gesehen. Die Regentonnen neben den Gemüsegärten lagen leer. Eine Feuerwache ging durch die Gassen des Dorfkerns. Als Gemeindekanzlist hatte Mattias Vater bereits vor Wochen die Bevölkerung angeschrieben, dass die Brunnen auf den Plätzen abgestellt würden. Alle sollten von nun an sparsam mit Leitungswasser umgehen. Als Mattia am Abend seiner Rückkehr zum ersten Mal nach den Eseln sah, versiegte der Zufluss zur Tränke. Der Stall lag außerhalb des Dorfs, gleich nach der Abzweigung vom alten Saumweg. Wasser herbeikarren? Viel zu aufwendig. Außerdem: welches Wasser? Die Bauern, die er um Hilfe bat, hatten selber kaum mehr Wasser für die Tränken.
Der erste Bauer bedauerte Mattia. Der zweite bedauerte, dass Mattias Tante wegzog, und dann sich selbst. Der dritte lachte Mattia aus. Alle empfahlen sie ihm, die Esel unten am Fluss zu tränken.
»Kennst du Sulvaschin ein wenig?« Der Buchbinder schaut aus dem Fenster, als er mich fragt, und fährt weiter, ohne meine Antwort abzuwarten. Er weiß, dass ich im Dorf aufgewachsen bin. Der Abstieg von der Stallung hinunter zum Fluss ist steil und mühsam.
Doch die Esel brauchten Wasser bei dieser Hitze, besonders die trächtige Stute. Also führte er sie zum Fluss. Sechs Tiere insgesamt, darunter ein Wallach, der lahmte, weil ihn die Hufe plagten. Die jüngeren Stuten scherten immer wieder aus, um unter den Zäunen hindurchzugrasen. Es dauerte eine Stunde, bis Mattia die Tiere zum Fluss und über die Brücke getrieben hatte, hinüber auf die Insel, zur Stelle, wo das Ufer abflacht.
»Warum man die Insel Insel nennt?« Mattia Bischoff überlegt. »Vielleicht weil sie nur über das Wasser zu erreichen ist. Im Westen liegt der Fluss; gegen Osten ist sie vom Fels eingekesselt. Ich glaube nicht, dass man von oben her auf die Insel kommt. Ein seltsamer Ort.«
Ein seltsamer Ort, aber offensichtlich gefiel er den Eseln weit besser als die ausgedorrte Weide um den Stall. Der trächtigen Stute gefiel die Insel so gut, dass Mattia sie nicht mehr zur Rückkehr über die Brücke bewegen konnte. Rasch gab er es auf. Ohnehin hatte er keine Lust, die Esel auch die folgenden Abende mühsam zum Fluss hinunter- und dann wieder zum Stall hochzutreiben. Ihm kam eine Idee, wie er die Tiere einhegen konnte für die Zeit, da Tante Dorina außer Haus war. Einhegen musste er die Esel. Denn selbst ohne Brücke, selbst bei höherem Wasserstand wäre der Fluss für sie nur ein kleines Hindernis gewesen.
Zwar nicht zurück über die Brücke, aber mit etwas Zucker konnte Mattia die Tiere vom Ufer durch eine Böschung locken und gelangte so auf den Weg, der zur Bergbausiedlung auf der Insel führte. Die Siedlung war bereits im 19. Jahrhundert aufgegeben worden. Zunächst kam er an der Steinkirche vorbei. Die Tiere folgten ihm. Sie folgten ihm zwischen den verfallenen Schmelzen hindurch bis zum Knappenhaus, wo einstmals die Bergleute gewohnt hatten. Es stand damals noch, wenn auch beinahe alle Fenster eingeschlagen waren. Mattia Bischoff staunte: Im Gegensatz zu den Dorfbrunnen führte der Brunnen vor dem Knappenhaus Wasser. Umso besser also. Nachdem Mattia selber getrunken hatte, rief er nach dem alten Stuppan.
Der wohnte da. Ganz allein. Ohne viel Kontakt zum Dorf. Noch ein paar Jahre zuvor hatte er sommers auf der Alp die Ziegen gehütet, doch nun war er nicht mehr gut zu Fuß. Man