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Mondschatten und das Schicksalslos
Mondschatten und das Schicksalslos
Mondschatten und das Schicksalslos
eBook357 Seiten4 Stunden

Mondschatten und das Schicksalslos

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Über dieses E-Book

»Das Los ist auf Mondschatten gefallen …!«

Es ist die Zeit »Reglas«, der »Alten Ordnung«, die unzählige Zeitalter vor der unsrigen liegt. Die Geschöpfe der Erde leben in Frieden und Gerechtigkeit miteinander. - Bis zu dem Tag, an dem ein Teil der Magierzunft die Alte Ordnung anzweifelt und sie mit Hilfe der Vier Heiligtümer stürzen möchte.
Mondschatten, Menschenkind der Westländer, wird vom Schicksalslos ihres Volkes erwählt, um mit ihren Gefährten loszuziehen und die heimtückischen Pläne des Gegners zu vereiteln. Keiner versteht, warum das Los ausgerechnet auf die erst elfjährige Mondschatten gefallen ist; am allerwenigsten sie selber.
Mit Vata, ihrer Falkenfreundin, und Nachtwind, dem großen, freundlichen Wolf an ihrer Seite, begibt sie sich auf die lange und gefährliche Reise zum Versteck der Vier Heiligtümer. Unterwegs muss sie nicht nur gegen die Feinde der Alten Ordnung kämpfen, sondern auch den Anfeindungen der eigenen Gefährten trotzen.
Was ist das für ein Geheimnis um Mondschatten, dass das Schicksalsos sie erwählte? Kann sie den drohenden Untergang der Alten Ordnung aufhalten?

Ein spannendes Fantasy-Abenteuer um Mut und Freundschaft für Leserinnen ab 9 Jahren.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum7. Jan. 2020
ISBN9783749790739
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    Buchvorschau

    Mondschatten und das Schicksalslos - Corinna Gottsmann

    Kapitel 1

    in dem zwei Nachrichten überbracht werden

    »Wolkentanz! Wo bleibst du denn? Beeil dich doch!«

    Hektisch suchte Mondschatten die Menschenmenge um sich herum nach ihrer Schwester ab. Sie waren rechtzeitig aufgebrochen, um auch ja nichts von dem angeblich alles veränderten Ereignis zu verpassen, das heute auf dem Marktplatz stattfinden sollte. Trotz der Aufregung, die die Stadt Vestura und ihre Bewohner gepackt hatte, waren die Eltern der Schwestern zu Hause geblieben. Allerdings hatte die Mutter Mondschatten eindringlich ermahnt: »Pass auf Wolkentanz auf! Dass sie dir ja nicht verloren geht!« Und jetzt konnte sie sie unter den Hunderten von Erwachsenen und Kindern einfach nicht finden.

    Langsam schoben sich die Menschenmassen die Gassen hinauf in Richtung Marktplatz. Über ihnen flatterte Vata, Mondschattens Falkenmädchen, auf der Stelle. Die dunklen Augen fixierten die Leute unter ihr.

    Mondschatten sah hoch und grinste: »Mal sehen, wer sie eher entdeckt.«

    Ein lautes Krächzen war die Antwort. Vatas zimtfarbenes Federkleid mit den hellen Sprenkeln darin glänzte in der späten Herbstsonne, die von einem wolkenlosen, blauen Himmel schien.

    Es war ein angenehm warmer Tag Anfang Oktober. Der weiße Gebirgsstein, aus dem die meisten Häuser der Stadt erbaut worden waren, schimmerte in den Sonnenstrahlen. Obwohl die Sonne nicht mehr mit ihrer vollen Kraft leuchtete, roch Mondschatten den erdigen Geruch, der von den aufgeheizten Häuserwänden aufstieg. Sie kniff die Augen zusammen und spürte den Ärger, der langsam ihren Rücken hinaufkroch. Wo war Wolkentanz nur? »Wolkentanz!«, rief sie erneut.

    »Was ist denn los? Hier bin ich doch!« Das schlaksige Mädchen schlüpfte aus dem Menschenstrom und stellte sich direkt vor Mondschatten.

    Diese blickte in die ungeduldigen Augen ihrer jüngeren Schwester. Eine Strähne der kinnlangen Haare fiel ihr ins Gesicht. Mondschatten verblüffte es immer wieder, wie sehr sie beide sich unterschieden.

    Die einzige Ähnlichkeit, die zwischen ihnen bestand, war der honiggelbe Ring, der sich um ihre Pupillen schloss. Wolkentanz’ Augen und Haare glänzten schokoladenbraun, wie bei ihrer beider Mutter Toya. Mondschattens Augen hingegen schimmerten kleegrün. Nur wenn sie traurig war, überzog ein gräulicher Schleier ihre hellen Augen. Ihr fuchsbraunes Haar fiel über ihre Schultern.

    Auch in ihrem Wesen unterschieden sich die beiden Mädchen vollkommen: Wolkentanz war quirlig und schnell aufbrausend. Sie war erst neun Jahre alt, hatte aber vor nichts und niemandem Angst. Obschon es verboten war, schlich sie an manchen Tagen zum Lager der Krieger ihres Volkes, das tief im Gebirge lag, und beobachtete heimlich deren Übungskämpfe. Mit dem Schwert, das ihre Großmutter mütterlicherseits ihr vererbt hatte und das beinahe so groß wie sie selber war, ahmte sie die Kampfbewegungen nach. Wolkentanz war sich sicher, dass sie eine hervorragende Kriegerin werden würde, genau so wie ihre Großmutter. Daran bestand für sie keinerlei Zweifel.

    Mondschatten hingegen liebte es, durch die Felder und den Wald zu streifen, an dessen Rand ihr Elternhaus stand, Vata stets an ihrer Seite. Dabei sammelte sie Pflanzen und verarbeitete sie zu Tees, Salben und Tinkturen. Alles, was sie über Pflanzen, ihre Verarbeitung und Anwendung wusste, hatte sie von Yunorus, ihrem Großvater gelernt. Er war ein großer Heiler ihres Volkes gewesen und hatte sein gesamtes Wissen mit ihr geteilt. Für die elfjährige Mondschatten stand fest, dass auch sie eine Heilerin werden würde.

    Seit einem Jahr nun weilte ihr Großvater nicht mehr unter ihnen. Ein Stich fuhr durch ihr Herz. Sie vermisste ihn schrecklich.

    »Jetzt komm schon!« Wolkentanz zog an Mondschattens Ärmel. »Oder willst du etwa, dass wir alles verpassen?«

    Mondschatten, die ihre Schwester um beinahe eine Kopflänge überragte, sah sie genervt an, riss sich aber zusammen und schwieg.

    Hand in Hand ließen sie sich von der Menschenmenge weiter in Richtung Marktplatz treiben.

    Mondschatten war froh, als sie endlich die Anhöhe erreichten, auf der der Marktplatz lag. Sie staunte, wie viele Menschen sich auf dem großen Platz versammelt hatten.

    Die beiden Mädchen quetschten sich bis ganz nach vorne in die erste Reihe. Vata ließ sich auf Mondschattens nieder. Diese stieß sanft mit ihrem Kopf gegen das Köpfchen des Falken. Der piepste wohlig auf.

    »Puh, ist das heiß hier«, beschwerte sich Wolkentanz. Sie strich sich mit einer Hand über ihre Stirn.

    Auch Mondschatten spürte, wie die tiefen Strahlen der Herbstsonne und die vielen Körper um sie herum eine bedrückende Wärme verbreiteten. Sie drehte sich um und sah in ein Meer voller Menschen, die sich um den Marktplatz drängten. Jung und alt waren gekommen, um auch ja nichts zu verpassen.

    Der riesige Platz erstreckte sich quer über die Anhöhe. Er zeichnete einen der höchsten Punkte Vesturas, der Stadt der Menschen des Westens: den Vesturen. Das schlichte Haus Merowans, ihrer Anführerin, grenzte an den westlichen Rand des Platzes. Die Stadt selber schmiegte sich an die unteren Ausläufer eines mächtigen Gebirges. Einige Gebäude waren direkt in den groben Fels dieser Berge gebaut worden. Wie die meisten Häuser Vesturas war auch der Platz aus dem hellen Bergstein errichtet.

    Selten ruhte das Leben auf dem Marktplatz. Tagsüber schacherten Händler und Käufer um allerlei Waren. Ihre Rufe und Schreie flirrten durch die Luft, bis hinein in die kleinste Gasse. Am Abend traf man sich hier, um den neuesten Klatsch und Tratsch auszutauschen. An besonderen Festtagen aber stellte das fahrende Volk seine Künste zur Schau. Die Bewohner der Stadt legten dann ihre unscheinbare Alltagskleidung aus grobem Leinen und harter Wolle ab und tauschten sie gegen feine und farbenfrohe Stoffe. An diesen Abenden tanzten, lachten und feierten sie alle im flackernden Licht mannshoher Fackeln, die um den Marktplatz verteilt standen. Erst wenn die Sonne wieder ihren mächtigen Körper über die Baumwipfel des östlich gelegenen Waldes schob, wankten die Letzten nach Hause.

    Heute jedoch herrschte auf dem Platz eine angespannte Stimmung. Mondschatten hörte die Menschen aufgeregt schnattern und tuscheln. Irgendwo lachte eine Frau nervös auf. Ein Mann tönte mit lautem Bass: »Ach, so ein Unsinn! Natürlich wird uns hier in unserer Stadt nichts passieren! Merowan wird die richtige Entscheidung treffen!«

    Mondschatten sah auf. Gleich war es soweit. Gleich würde Merowan die zwei Boten der beiden Magier Mulantan und Antilla hier auf dem Platz willkommen heißen und sie anhören. Anschließend würde die Anführerin zusammen mit ihrem Rat eine Entscheidung treffen müssen.

    In der Mitte des Platzes standen steinerne Bänke für Merowan und ihre vier Berater bereit. Die Menschenmenge zwängte sich bis auf wenige Meter an sie heran. Keiner wollte verpassen, was hier bald gesagt und entschieden werden würde.

    Mondschatten sah in die Gesichter der Umstehenden. Die Vesturen waren ein buntes und aufgeschlossenes Volk. Menschen aller Haar-, Augen- und Hautfarben lebten hier zusammen: blonde, braune, schwarze, rote und grauweiße Haare; Augen von hellblauer Färbung, über Grün, Grau und Braun bis zu einem funkelndem Rabenschwarz. Auch die Farben der Haut reichten von einem hellen Weiß bis zu einem tiefdunklen Ton. Die Händler und Boten, die durch Vestura reisten, berichteten, dass dies bei den anderen drei Menschenstämmen nicht so war.

    Die Unruhe unter den Schaulustigen wuchs.

    »Wann ist es denn endlich soweit?«, maulte Wolkentanz, die ganz dicht an Mondschatten gedrängt stand.

    Diese zuckte nur mit den Schultern und ließ ihre Gedanken weiter treiben. So fröhlich die Menschen ihres Volkes sonst waren, so sehr spürte sie die Anspannung, die gerade von ihnen ausging. Jeder von ihnen ahnte, dass heute eine Entscheidung getroffen werden würde, die ihr aller Leben für sehr lange Zeit verändern sollte – vielleicht für immer.

    Die ersten beunruhigenden Veränderungen hatte Mondschatten während des Schulunterrichts mitbekommen. Sie und ihre Mitschüler saßen verteilt auf dem gefällten Stamm einer alten, mächtigen Eiche, der am Rand des Schulhofs auf einer Wiese lag.

    Gebannt lauschten sie den Worten Solunas, ihrer Lehrerin für die Sternstunden. Obwohl es bereits früher Abend war, strich ein noch leicht wärmender Wind über ihre Köpfe hinweg. Das hohe Gras um sie herum wiegte sich leise raschelnd hin und her.

    Soluna wies ihren Schülern gerade die ersten erkennbaren Sterne am Abendhimmel, als plötzlich ein gewaltiger Donner über ihnen explodierte. Sie zuckten erschrocken zusammen. Ein Schüler rutschte vor lauter Schreck vom Stamm und plumpste ins Gras. Fragend schauten Mondschatten und ihre Mitschüler erst in den Himmel, dann zu ihrer Lehrerin und wieder zurück ans Firmament. Dort zuckten Blitze wild herum, als würden sie sich gegenseitig jagen.

    »Was bedeutet das?«,fragte Mondschatten.

    Doch Soluna starrte genauso ratlos zu dem Schauspiel hinauf wie ihre Schüler. Ungläubig schüttelte sie den Kopf und murmelte: »Das können eigentlich nur die Wanderer am Himmel sein. Aber was machen sie da bloß?«

    Die Magier und Magierinnen, oder auch Wanderer am Himmel genannt, waren einst wie alle anderen Lebewesen von Sonne und Mond erschaffen worden. Aber nur ihnen ward von ihren Schöpfern die Macht anvertraut, die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft zu lenken und so ins Geschick der Erde einzugreifen. Um jedoch keinem der Magier und Magierinnen zu viel Stärke zu geben, beherrschte jeder nur eines der Elemente. Und nur den Mächtigsten unter ihnen ward die Gabe geschenkt, über zwei der vier Kräfte zu gebieten. Die Wanderer zogen am Himmelszelt entlang, um von dort aus das Geschehen auf Erden überblicken zu können. Sie griffen nur ein, wenn ein Geschöpf oder gar ein ganzes Volk versuchte, sich über andere Kreaturen zu erheben.

    Diese Zeit wurde Regla, die Alte Ordnung genannt. Über viele Sonnen- und Mondwechsel hinweg sicherte sie den Frieden unter den Erdbewohnern. Sie lebten in Achtung untereinander und halfen sich gegenseitig. Kam es zu Uneinigkeiten, griffen die Magier umsichtig ein. Einigte man sich dennoch nicht, mied man den anderen einfach. Die Magier nutzen ihre Macht weise und sorgten für beständigen Frieden. So wuchs der Reichtum der Erde und verteilte sich gerecht unter allen. Keiner hatte Grund, an der Alten Ordnung zu zweifeln.

    Bis … ja, bis zu jenem Tag, an dem einige Magier und Magierinnen begannen, Regla infrage zu stellen. Warum etwa sollte man denjenigen, die stärker waren als andere, ihre Macht nicht zugestehen? War es nicht der Wille der Natur, dass sich der Schwächere dem Stärkeren zu unterwerfen habe? Waren es nicht sogar einst die Elemente selber, die vor der Größe und Macht von Sonne und Mond hatten zurückweichen müssen? Diese Stimmen konnten am Anfang vom Hohen Magierrat zum Schweigen gebracht werden, aber mit der Zeit schlossen sich immer mehr Magier dieser Meinung an. Innerhalb weniger Jahre hatte sich die Magiergemeinschaft in zwei Lager gespalten: Da gab es diejenigen, die weiterhin nach der Alten Ordnung handelten und durch sanftes, aber bestimmtes Eingreifen das Gleichgewicht der Welt aufrecht erhielten. Diese Gemeinschaft nannte man die Hüter der Eintracht. Ihre Anführerin war Mulantan, eine hochgewachsene Frau, die durch ihr ruhiges Wesen und ihre klugen Entscheidungen großes Ansehen genoss. Antilla dagegen führte die Hüter der Zwietracht an. Machthunger und Überheblichkeit trieben ihn. Sein Ziel war es, die Vier Heiligtümer in seinen Besitz zu bringen, denn die alten Geschichten erzählten, dass, wer eines der Heiligtümer besaß, das damit verbundene Element ganz alleine beherrschen würde. Wer hingegen alle vier sein eigen nannte, gebot über alles Leben und Sterben in der Welt.

    Die Vier Heiligtümer, einst von Sonne und Mond als Symbol ihres Sieges über Feuer, Wasser, Erde und Luft erschaffen, lagen geschützt in einer der zahlreichen Höhlen des Grauen Gebirges, weit im Nordosten. Sonne und Mond hatten einen mächtigen Zauber über die Höhle und ihren wertvollen Schatz gelegt. Dieser Zauber brach nur alle tausend Jahre und auch nur für sehr kurze Zeit. Sonne und Mond standen dabei gleichzeitig am Himmel. Die gewaltige Höhlendecke öffnete sich dann und die gemeinsamen Strahlen der beiden Himmelskörper spendeten den Heiligtümern Lebenskraft für die nächsten tausend Jahre. Wollte man die Heiligtümer stehlen, musste man also diesen einen Moment wählen. Man erzählte sich, dass Diebe immer wieder versucht hatten, die Heiligtümer vor der Zeit an sich zu bringen, doch keiner von ihnen war je wieder gesehen worden.

    Mondschatten wusste aus dem Geschichtsunterricht, dass dieser besondere Zeitpunkt kurz bevorstand und ein weiterer tausendjähriger Abschnitt zu Ende ging. Ihr Lehrer hatten ihnen erzählt, wie sich die Höhlendecke öffnen würde und der Schutzzauber so für kurze Zeit unterbrochen wäre.

    Die Boten Vesturas und die herumreisenden Händler berichteten, dass Antilla und seine Anhänger planten, die Heiligtümer in ihren Besitz zu bringen. Sie wollten die Macht über die vier Elemente und somit über alle Lebewesen an sich reißen.

    Doch mit Magierkunst alleine konnte Antilla dieses Unterfangen nicht bestreiten. Er begann, Boten auszusenden, um möglichst viele Völker von sich und seiner Idee zu überzeugen. Ganze Heere sollten die Hüter der Eintracht davon abhalten, sich ihm in den Weg zu stellen. Er wollte indes mit einer Gruppe weniger Auserwählter zum Grauen Gebirge ziehen und die Vier Heiligtümer rauben.

    Sobald Mulantan und ihre Anhänger von Antillas Plänen erfahren hatten, wurde beschlossen, diese zu durchkreuzen. Sie sandten eigene Boten durch das Land, um möglichst viele Völker für sich zu gewinnen. Sie würden gegen die Armeen der Hüter der Zwietracht kämpfen. Gleichzeitig brach Mulantan mit einer Gruppe Freiwilliger auf, um sich Antilla und den seinen im direkten Kampf zu stellen.

    Die Schlacht der Völker sollte im nördlichen Teil des Landes stattfinden, in Hernadur, einer öden und unbewohnten Gegend. Die beiden Anführer vereinbarten, dass der Kampf beginnen würde, wenn sie mit ihren Gefährten auf ihre Reise zum Grauen Gebirge aufbrächen; es würde enden, sobald einer den anderen besiegt hätte.

    Die Menschen Vesturas, sonst von Stärke erfüllt, waren verunsichert. Sie stellten sich die Frage, ob Regla, die Alte Ordnung, die den Frieden über so viele Zeitalter gesichert hatte, zu zerbrechen drohte. Und heute, endlich, sollten sie es erfahren.

    Die Aufregung auf dem Markt wuchs. Die Stimmen schwollen an. Auch Vata drückte ihre Krallen aufgeregt in die Schulter ihrer Freundin.

    »Blöde Steine«, brummte Wolkentanz neben ihr und schüttelte ihr Bein. Spitze Kieselsteine, die auf dem Marktplatzboden verstreut lagen, flogen von ihrem Schuh.

    Plötzlich tippte jemand auf Mondschattens Rücken. Aufgeschreckt fuhr sie herum und sah direkt in die bernsteinfarbenen Augen eines Jungen.

    »Hallo«, sagte Thorm. Er war nur wenige Monate älter als Mondschatten und ging eine Klasse über ihr in die Schule. Er lächelte und die dunklen Sprenkel in seinen Augen schienen zu funkeln.

    »Hallo«, antwortete Mondschatten schüchtern. Sie spürte, wie ihre Knie auf einmal weich wurden und ihre Wangen brannten. Na toll, dachte sie, jetzt werde ich gleich rot, und dadurch, dass ich das weiß, wird es noch schlimmer. Außerdem sah sie aus den Augenwinkeln heraus das feixende Grinsen ihrer Schwester.

    Wolkentanz wusste ganz genau, dass Mondschatten den Sohn des Jägers etwas mehr als nur ein wenig mochte. Bei jeder Gelegenheit, die sich der Jüngeren bot, zog sie sie damit auf.

    Mondschatten wollte ihrer giggelnden Schwester gerade einen Stoß versetzen, als die Stimmen um sie herum jäh verstummten.

    Mondschatten, Wolkentanz und Thorm wandten ihre Köpfe und sahen Merowan, die aus ihrem Haus trat. Ihre Berater, zwei Frauen und zwei Männer, folgten ihr. Das einfache Haus markierte den höchsten Punkt Vesturas. Nur vereinzelte Häuser, die in das Gebirge gehauen waren, lagen höher.

    Die fünf schritten zu ihren Bänken. Die Berater setzten sich, während Merowan den Blick über ihr Volk wandern ließ. Mondschatten stand so nahe, dass sie in die dunkelgrauen Augen der großen sehnigen Frau sah.

    Die Anführerin strahlte Ruhe und Gerechtigkeit aus, konnte ihr Gegenüber aber auch mit eiserner Strenge durchdringen. Eine leichte Böe kam auf und wirbelte durch das sonnenblonde schulterlange Haar der Vesturenanführerin. Merowan, einst Kriegerin des Vesturenvolks, war dem Rat vor vielen Jahren durch ihre weisen und beherzten Entscheidungen aufgefallen. Er war an sie herangetreten und hatte sie gebeten, sich zur Wahl aufstellen zu lassen. Die einstige Kriegerin war mit großer Mehrheit von den Vesturen gewählt worden. Seitdem lenkte sie, gemeinsam mit ihren Beratern, die Geschicke der Vesturen. Die Kleidung Merowans erinnerte an ihre Zeit bei den Kriegern. Während ihre Berater violette, rote, gelbe und grüne Umhänge trugen, war die Anführerin den Farben der Krieger treu geblieben: Ihr seidiger Umhang schimmerte in der typischen graublauen Farbe der Kriegergemeinschaft. Am unteren Saum blitzten graue Stiefelspitzen hervor.

    Sie lächelte in die Menschenmenge. »Liebe Vesturinnen, liebe Vesturen, heute ist ein bedeutender Tag in der Geschichte unseres Volkes. Danach wird nichts mehr sein wie zuvor.« Ihr Blick schien jeden einzelnen von ihnen einzufangen. »Keiner kann sagen, was das Schicksal für uns vorgesehen hat.«

    Es war, als ob die Menschenmenge die Luft anhielt. Jedes Paar Augen richtete sich gebannt auf die Anführerin, die ihrer aller Vertrauen genoss. Sie würde gewiss die richtige Lösung für das drohende Unheil finden. Sogar der leichte Wind hatte sich wieder gelegt.

    »Ich weiß, ihr denkt, dass es für diese Herausforderung eine einfache und schnelle Lösung gibt.« Ihr Lächeln wich einem ernsten Ausdruck. »Nichts wäre mir lieber, aber ich fürchte, dass wir Westländer, wie auch alle anderen Völker, äußerst schwierigen Zeiten entgegensehen. Allerdings«, und hier zuckte wieder ein zuversichtliches Lächeln um ihre Mundwinkel, »vertraue ich auf unsere Stärke, unseren Mut und das Schicksal. Doch bevor wir weiter im Ungewissen rätseln, lasst uns die Boten Mulantans und Antillas anhören. Sie werden Licht in diese dunklen Tage bringen können.«

    »Hoffentlich«, murmelte jemand.

    Mondschatten, Wolkentanz, Thorm und alle anderen sahen sich um. Wo waren die Boten? Unruhe kam auf und mit einem Mal teilte sich die Menge neben ihnen. Es entstand eine schmale Gasse, die sich zum Marktplatz hin öffnete. Mondschatten beugte sich etwas vor und sah am Ende der Gasse drei Gestalten, die auf Merowan und den Rat zugingen. Allen voran schritt Tylkon, ein Bote Vesturas. Sein langes dunkles Haar wurde von einem Band lose zusammengehalten. Hemd und Hose waren schlicht und von heller Farbe. Über beidem trug er eine braune Jacke aus leichtem Leder. Die Füße steckten in knöchelhohen Stiefeln. Seine blauen Augen blitzten vor Stolz. Gleich hinter ihm folgten zwei Wesen, die Mondschatten bisher nur von den Bildern und Erzählungen aus ihren Büchern kannte. Das erste gehörte zum Volk der Borraks.

    »Der sieht aus wie eine Mischung aus Bär, Troll und Zwerg«, flüsterte Mondschatten.

    Wolkentanz kicherte.

    Der Borrak war deutlich kleiner als ein ausgewachsener Menschenmann, dafür aber sehr breit. Unter seinem vollständig behaarten Körper vermutete Mondschatten eine unbändige Kraft. An Händen und Füßen wuchsen etwas weniger Haare. Winzige dunkle Augen schnellten unruhig in dem fast haarlosen Gesicht hin und her. Aus seinem Mund tropften zähe Speichelfäden, die er zwischenzeitlich mit einem scheußlichen Zischen in den Mund zurückzog. Die Fäden, die es nicht in den Mund zurückschafften, fielen auf sein dunkles Fell oder gleich auf den Boden. Seine Arme waren genauso lang wie seine Beine, sodass er sich auf allen vieren fortbewegen konnte, was er zwischendurch auch tun musste, um mit den beiden anderen mithalten zu können. Obwohl seine Bewegungen seltsam ungelenk aussahen, waren sie pfeilschnell. Seine schlammfarbene Kleidung war alt und verschlissen.

    »Bei den vielen Haaren hätte er sich das bisschen Stoff auch ganz sparen können«, höhnte eine Frau aus der Menge.

    Die Menschen lachten.

    »Wie wunderschön!«, piepste da eine Kinderstimme hinter Mondschatten.

    Alle Augen richteten sich nun auf das Geschöpf, das neben dem Borrak mit spielerischer Anmut an ihnen vorbeiglitt. Noch nie hatte Mondschatten eine so durchschimmernde mondweiße Gestalt gesehen. Die feinen Flügel, durchzogen von zartgelben Adern, schlugen sanft auf dem Rücken des Wesens.

    Eine Feenfrau, eine Faerunda, dachte Mondschatten. In ihren Büchern stand, dass der Feenmann an seinen grünen, die Feenfrau an ihren gelben Adern zu erkennen war.

    Tunika und Hose, getaucht in leuchtendes Orange, flatterten um den zerbrechlich wirkenden Feenkörper. Aus den Ärmeln des Oberteils lugten schlanke Hände hervor, die in langen Fingern endeten. Sie waren genauso fein, wie die Zehen an ihren schuhlosen Füßen. Goldene Augen funkelten aus dem weißen Gesicht, das von kinnlangem tiefschwarzen Haar eingerahmt wurde. Zwei kleine spitze Ohren ragten links und rechts aus dem glatten Haar empor.

    Alle drei Boten kamen direkt an Mondschatten vorbei. Sie und Wolkentanz sahen sich an und rümpften die Nasen, denn dem Borrak, der etwa so groß wie Thorm war, folgte ein übler Gestank nach saurem Schweiß. Die drei betraten den Marktplatz und blieben vor Merowan und ihrem Rat stehen.

    Die Anführerin hatte sich zwischen ihre Berater gesetzt und lächelte den Vesturenboten an: »Tylkon, ich hoffe, du hast unsere Gäste freundlich willkommen geheißen und ihnen eine Erfrischung angeboten.«

    Tylkon neigte respektvoll seinen Kopf. »Ja, Merowan.«

    »Vielen Dank, Tylkon«, entließ die Anführerin den Boten, der nickte und zur Seite trat.

    Merowan richtete ihre Augen auf den Borrak und die Faerunda. »Herzlich willkommen! Ich hoffe, ihr wart mit dem Empfang zufrieden.«

    Die Feenfrau neigte ehrerbietig ihren Kopf. »Ja, Merowan, Anführerin der Westländer, habt vielen Dank.«

    Merowan wandte sich an den Borrak. »Ist auch für dich alles zu deiner Zufriedenheit?«

    Grummelnd trat der Borrak gegen einen Kieselstein. »Meine Axt und mein Schwert musste ich dem da geben.« Er wies anklagend auf Tylkon.

    Der sah den Borrak seelenruhig an, ohne eine Miene zu verziehen.

    »Nun ja«, antwortete Merowan freundlich, »bei uns ist es Brauch, seine Botschaften ohne Waffen zu überbringen. Es tut mir leid, wenn dich dies erzürnt.«

    Der Borrak murmelte noch etwas Unverständliches, brummte dann aber: »Ist schon gut.«

    »Du wirst es ja wohl eine Weile ohne deine schäbige Axt und dein rostiges Schwert aushalten. Schließlich sind wir nicht hier, um zu kämpfen, sondern um die Anliegen unserer Anführer zu überbringen«, blaffte die Feenfrau. »Ich hatte ja auch kein Problem damit, Pfeil und Bogen abzulegen.« Ihre Augen glitzerten den Borrak gefährlich ruhig an. Dieser trat einen Schritt auf sie zu.

    Die Spannung zwischen den beiden knisterte so stark, dass Mondschatten ein Kribbeln auf ihrer Haut spürte.

    »Wie ich sehe, kennt ihr euch bereits«, beendete Merowan die Auseinandersetzung mit fester Stimme. »Mögt ihr uns dann bitte auch noch eure Namen verraten?«

    Die beiden Boten ließen nur äußerst langsam und widerwillig voneinander ab und wandten sich Merowan und dem Rat zu.

    Die Feenfrau antwortete als Erste: »Mein Name ist Kahja, vom Volk der Faerunden, euch besser bekannt als Feenwesen. Ich komme im Auftrag meiner Herrin Mulantan, der großen Magierin und Anführerin der Hüter der Eintracht.«

    »Große Magierin … Anführerin der Hüter der Eintracht«, äffte der Borrak sie verächtlich nach.

    Doch bevor die Feenfrau wortreich über ihn herfallen konnte, bat Merowan: »Und dein Name?«

    »Borrak, nein, äh, Trolek ist mein Name.« Er räusperte sich und begann noch einmal: »Trolek ist mein Name. Ich bin ein Borrak. Und mein Herr heißt Antilla. Er ist der größte Magier aller Zeiten und führt deswegen die Hüter der Zwietracht an.« Stolz lag in seiner rasselnden Stimme.

    »Größter Magier aller Zeiten, dass ich nicht lache«, spottete Kahja. »Du hast schon einmal die Geschichten über Gaios gelesen? Dem wirklich größten Magier unserer Zeit? Oh, entschuldige, mein Fehler – lesen kannst du wahrscheinlich gar nicht. Aber vielleicht hast du ja zumindest von ihm gehört?«

    Einige Menschen auf dem Marktplatz glucksten. Mondschatten und Wolkentanz grinsten.

    Merowan mahnte sie alle mit einem Blick aus ihren dunkelgrauen Augen zu schweigen.

    Jedes Geschöpf kannte die Geschichten, dass Gaios der mächtigste Magier ihrer Zeit war. Er war der Einzige, der alle vier Elemente beherrschte, und das, obwohl jeder Magier über höchstens zwei der vier Elemente gebieten durfte, so wie Sonne und Mond es am Beginn der Alten Ordnung festgelegt hatten. Trotz seiner außergewöhnlichen Begabung hatte Gaios jedoch von einem auf den anderen Tag der Macht entsagt. Warum, schien keiner zu wissen. Genauso wenig war bekannt, ob der Magier überhaupt noch lebte und wenn ja, wo. Wenn die Geschichte stimmte, musste Gaios mittlerweile viele Hundert Jahre alt sein. Mondschatten schüttelte ihren Kopf: Ein Magier, der Feuer, Wasser, Erde und Luft beherrschte und dann noch Hunderte von Jahren alt sein sollte? Von dem keiner wusste, wo und ob er überhaupt noch lebte? Mondschatten hielt das alles für ein Märchen.

    »Ich denke«, sagte Merowan, »wir hören uns jetzt an, was ihr uns von Mulantan und Antilla ausrichten sollt.« Sie sah den Borrak an. »Möchtest du vielleicht beginnen, Trolek?«

    Der straffte seinen stämmigen Körper und schaute demütig aus seinen schwarzen Knopfaugen. Anschließend verneigte er sich unbeholfen. »Merowan, Anführerin der Westländer! Habt Dank für Eure Worte. Ich, Trolek vom Volk der Borraks, bin von Antilla, dem Großen und Herrlichen ausgesandt worden, um die Stärksten und Klügsten davon zu überzeugen, dass der Weg meines Meisters der einzig wahre ist. Antilla der Weise will, dass jedes Lebewesen seiner Natur gemäß leben kann.«

    Immer, wenn Trolek den Namen Antillas aussprach, betonte er das letzte A. Sein Mund stand dann so weit offen, dass eine dunkelgraue fleischige Zunge herausschnellte, was feixende Blicke und leisen Spott der Menge zur Folge hatte. Ein langer Speichelfaden zog sich aus Troleks Mund. Ungelenk wischte er ihn mit einer Hand fort und schüttelte ihn ab. Tropfen davon trafen einige der Zuhörer in der ersten Reihe. Kreischend wischten sie sich über die Gesichter.

    Trolek, der von all dem nichts mitbekam, setzte seine Rede unbeirrt fort: »Die Magier sollen keinen Einfluss mehr auf den natürlichen Kreislauf nehmen. Die Stärkeren sollen sich die Schwächeren untertan machen können.« Er leckte über seine Lippen. »Und das zu verstehen, meint mein allwissender Herr, sei den Vesturen, diesem mächtigen und herrlichen Volk, gegeben. So ist es nur natürlich, dass Ihr Euch zu Antilla, dem großen Anführer der Hüter der Zwietracht, bekennt.« Die Stimme des Borraks erstarb. Er sah vollkommen erschöpft aus.

    Mondschatten dachte, dass er die Worte wahrscheinlich nur mit großer Mühe auswendig gelernt hatte. Er ist bestimmt immer sehr erleichtert, wenn er seine Nachricht überbracht hat.

    Merowan forderte Tylkon mit einem Nicken auf, dem Borrak einen Becher mit Wasser zu reichen.

    Trolek nahm einen großen Schluck und ließ den Becher anschließend achtlos auf den Boden fallen. »Was, oh Anführerin der Stärksten und Weisesten, darf ich Antilla dem Großen von Euch ausrichten?« Unterwürfig schaute

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