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Lise Meitner: Pionierin des Atomzeitalters
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Lise Meitner: Pionierin des Atomzeitalters
eBook302 Seiten3 Stunden

Lise Meitner: Pionierin des Atomzeitalters

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Über dieses E-Book

Lise Meitners Biografie zeigt die unglaubliche Geschichte einer Frau, die sich gegen alle sozialen und politischen Widerstände durchsetzte. Albert Einstein galt sie als "unsere Madame Curie", den Nazis als unerwünschte Jüdin, der Boulevardpresse als "Mutter der Atombombe". Sie promovierte 1906 als zweite Frau an der Universität Wien in Physik und etablierte sich in der männerdominierten Wissenschaft. Vor den Nationalsozialisten floh Meitner 1938 nach Schweden, wo ihr zusammen mit Otto Frisch ihr größter Durchbruch gelang: die Entdeckung des Prinzips der Kernspaltung. Doch der verdiente Nobelpreis blieb ihr versagt. Die letzten Jahre ihres Lebens verbrachte sie in Cambridge. Die Autoren zeichnen Meitners Leben vor dem Hintergrund der rasanten Entwicklung der Atomphysik und der großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts nach und geben neue Einblicke in die Welt der Wissenschaftlerin.
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum2. Okt. 2018
ISBN9783701745906
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    Buchvorschau

    Lise Meitner - David Rennert

    David Rennert · Tanja Traxler

    Lise Meitner

    Pionierin des Atomzeitalters

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

    der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

    sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

    www.residenzverlag.at

    © 2018 Residenz Verlag GmbH

    Salzburg – Wien

    Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

    Keine unerlaubte Vervielfältigung!

    Umschlaggestaltung: Sebastian Menschhorn

    Umschlagfoto: The Lotte Meitner-Graf Archive, www.lottemeitnergraf.com

    Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

    Lektorat: Barbara Köszegi

    ISBN ePub:

    978 3 7017 4590 6

    ISBN Printausgabe:

    978 3 7017 3460 3

    Inhalt

    Zu diesem Buch

    Prolog: Ein Spaziergang verändert den Lauf der Welt

    I. Teil – Aufbereitung: Lise Meitners Wiener Jahre

    1. Kapitel: Liberale Familie im Fin de Siècle

    2. Kapitel: Als Frau an der Universität

    3. Kapitel: Jahrhundertwende in der Wissenschaft

    II. Teil – Strahlung: Große Erfolge in Berlin

    4. Kapitel: Die Anfänge einer Karriere

    5. Kapitel: 1914 – Die Welt gerät ins Wanken

    6. Kapitel: Die goldenen Jahre der Lise Meitner

    7. Kapitel: 1933 – Aufstieg des Nationalsozialismus

    III. Teil – Kernspaltung: Flucht und wissenschaftlicher Durchbruch

    8. Kapitel: Vertreibung aus Berlin

    9. Kapitel: Schwierigkeiten in Schweden

    10. Kapitel: Folgenreiche Entdeckung

    IV. Teil – Spaltprodukte: Anbruch des Atomzeitalters

    11. Kapitel: Dunkle Jahre im Exil

    12. Kapitel: Lise Meitner und die Atombombe

    13. Kapitel: Kein Nobelpreis für Lise Meitner

    14. Kapitel: Die Frau in der Wissenschaft

    15. Kapitel: Lebensabend in Cambridge

    Epilog: Wissenschaft und Verantwortung

    Anhang

    Stammbaum der Familie Meitner

    Dank

    Anmerkungen

    Quellen

    Literatur

    Namenregister

    Zu diesem Buch

    Lise Meitner hätte diese Biografie vermutlich nicht gefallen. Das liegt aber nicht an den speziellen Inhalten oder der Aufbereitung dieses Buches, sondern hat mit dem Charakter von Österreichs bedeutendster Physikerin zu tun. Vielfach wurde ihr Bescheidenheit, Schüchternheit und Zurückhaltung nachgesagt. Als 84-Jährige ließ sie keine Zweifel offen, wie sehr ihr öffentliche Aufmerksamkeit widerstrebte: »Ich möchte aber keine Biographie über mich haben!«¹

    Diesem Wunsch können wir nicht entsprechen – zu wichtig ist das wissenschaftliche Werk dieser Frau, zu interessant war ihr Leben, als dass es nicht verdiente, erinnert zu werden. Lise Meitners Geschichte war so stark von Physik bestimmt, dass man leicht auf die Idee kommen könnte, ihr Leben selbst als wissenschaftliche Versuchsanordnung zu charakterisieren. Vielleicht wäre ein solches Buch mehr nach ihrem Geschmack gewesen.

    Welches Experiment würde sich besser für dieses Unterfangen eignen als jenes, das nicht nur Meitners wichtigster Erkenntnis zugrunde liegt, sondern auch die Welt für immer verändert hat? Die Entdeckung der Kernspaltung ermöglichte die Entwicklung der Atombombe ebenso wie die friedliche Nutzung der Nuklearenergie, sie revolutionierte aber auch die Wissenschaft und unser Verständnis von den kleinsten Bestandteilen der Materie.

    Der Aufbau des Versuchs, der das nukleare Zeitalter einleitete, lässt sich grob in vier Phasen einteilen. Zunächst erfolgt die Aufbereitung des radioaktiven Materials. Ein Präparat mit gereinigtem Uran wird in einen Paraffinblock eingebracht. In einem zweiten Schritt wird das Präparat der Strahlung einer Neutronenquelle ausgesetzt: Neutronen, die in einer Radium-Beryllium-Probe erzeugt werden, dringen durch das Paraffin zu den Uranatomen vor. Durch die Bestrahlung kommt es schließlich zur Spaltung der Urankerne. In einer vierten Phase des Versuchs werden die Spaltprodukte chemisch getrennt und analysiert.

    Dieses Experiment und seine Interpretation ebneten den Weg zu gigantischen Energiequellen, die zu gesellschaftlichem Fortschritt, ökologischer Problematik und menschlicher Tragik führten. Lise Meitners turbulentes Leben ist auf vielfache Weise mit der Kernspaltung verbunden. Davon handelt dieses Buch.

    Prolog: Ein Spaziergang verändert den

    Lauf der Welt

    Als die österreichische Physikerin Lise Meitner Ende Dezember 1938 ihren Neffen Otto Robert Frisch in Schweden trifft, steht ihre Welt auf dem Kopf. Nur wenige Monate zuvor ist sie überstürzt aus Berlin geflohen, aus der Stadt, die drei Jahrzehnte lang das Zentrum ihrer Forschung und ihres Lebens gewesen ist. Lange hat sie gezögert, Deutschland zu verlassen, beinahe zu lange. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933, die viele deutsche Wissenschaftler in die Emigration trieb, wurde Meitner die Lehrbefugnis an der Berliner Universität entzogen. Bestärkt durch Freunde und Kollegen, blieb sie dennoch in Berlin und hoffte, dass die politischen Entwicklungen noch eine vernünftige Wendung nehmen würden. Ihre Arbeit am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie konnte sie fortsetzen.

    Doch mit dem »Anschluss« Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im März 1938 zerbrachen alle Hoffnungen. Mit einem Mal war Meitner akut gefährdet: Ihr österreichischer Pass war ungültig geworden, sie wurde nun als »reichsdeutsche Jüdin« betrachtet und war damit den antisemitischen Verfolgungsmaßnahmen der Nazis schutzlos ausgeliefert. Auch am Kaiser-Wilhelm-Institut wurde Stimmung gegen sie gemacht. Dass sie sich bereits 1908 in Wien hatte evangelisch taufen lassen und längst die prominenteste Physikerin des Landes war, änderte an alledem nichts.

    Die legale Ausreise war nun unmöglich. Eine versuchte Intervention im Innenministerium, um die Ausstellung gültiger deutscher Papiere für sie zu erwirken, schlug fehl: Gegen eine Ausreise Meitners gebe es politische Bedenken, so die Antwort, »namhafte Juden« durften Deutschland nicht mehr verlassen. Nun wussten die Behörden auch von Meitners Absicht, auszureisen, ihre Lage wurde immer bedrohlicher. Im Juli gelang mithilfe von Freunden schließlich die riskante Flucht über die Niederlande und Dänemark nach Schweden, wo Meitner eine befristete Stelle am Nobel-Institut erhielt. Ihre ersten Weihnachten im Exil feiert sie bei Freunden in Kungälv, einem Städtchen im Südwesten Schwedens, und wartet auf ihren Neffen.

    Für Otto Robert Frisch ist es eine Tradition, die Weihnachtsferien mit seiner Tante Lise zu verbringen – er hält auch unter den dramatischen Umständen, in denen sich die Familie nun befindet, daran fest. Von welch enormer wissenschaftlicher Tragweite ihr Zusammentreffen diesmal sein wird, können beide noch nicht ahnen. Rückblickend wird Frisch es als »bedeutungsvollsten Besuch meines Lebens« bezeichnen.²

    Wie seine Tante in Wien geboren und an der Wiener Universität in Physik promoviert, hat Frisch mehrere Jahre in Deutschland gearbeitet. Anders als Lise Meitner ist er schon 1933 emigriert – zunächst nahm er eine Stelle in London an, dann wechselte er nach Kopenhagen, wo er seit 1934 Mitarbeiter des Nobelpreisträgers Niels Bohr ist. Seine Eltern, Meitners Schwester Gusti und ihr Mann Justinian Frisch, leben in Wien. Sie hoffen, bald ebenfalls nach Schweden ausreisen zu können, doch Justinian ist im Zuge der Novemberpogrome in Wien verhaftet und im KZ Dachau interniert worden.

    In Ungewissheit über das Schicksal seines Vaters trifft Frisch am 23. Dezember 1938 in Kungälv ein und findet seine Tante tags darauf nachdenklich und sorgenvoll vor. Er will ihr von seinem neuesten Experiment in Kopenhagen erzählen, doch Meitner hört nicht zu. Stattdessen drückt sie ihm einen Brief in die Hand, den sie kurz zuvor aus Berlin erhalten hat. »Dessen Inhalt war tatsächlich so erstaunlich, daß ich zuerst zur Skepsis neigte«, schreibt Frisch später in seiner Autobiografie.³ Es ist, wie sich bald zeigen wird, eine physikalische Revolution, die den Lauf der Welt verändern wird. Absender ist der deutsche Chemiker Otto Hahn, mit dem Meitner bis zu ihrer Flucht aus Berlin eng zusammengearbeitet hat.

    Aufbauend auf der gemeinsamen Forschung mit Meitner sind Hahn und sein Kollege Fritz Straßmann bei Experimenten mit Uran auf ein unerklärliches Phänomen gestoßen. Hahn ist verunsichert, was die Resultate bedeuten, ahnt aber, dass sie von enormer Tragweite sein könnten. Er will also so schnell wie möglich publizieren. »Wir können unsere Ergebnisse nicht totschweigen, auch wenn sie physikalisch vielleicht absurd sind«, schreibt er an Meitner und bittet sie um eine Interpretation: »Du tust ein gutes Werk, wenn du einen Ausweg findest.«

    Meitner teilt Frischs Skepsis nicht: Sie zweifelt keinen Augenblick an der korrekten Durchführung der Experimente, zu gut kennt sie die Erfahrung und Expertise der beiden Chemiker. Doch was Hahn da schreibt, ist nicht mit den Ende der 1930er-Jahre gängigen Vorstellungen über den Atomkern vereinbar. »Ich begriff, dass diese Resultate einen ganz neuen wissenschaftlichen Weg eröffneten«, schreibt sie später.⁵ Aber welchen?

    Aufgeregt brechen die beiden Physiker zu einem Winterspaziergang auf, um einen klaren Kopf zu bekommen. Frisch schnallt sich Langlaufskier an, Meitner geht zu Fuß. Unterwegs erweitern sie gedanklich das bisher anerkannte Atomkernmodell, bis ein »Auseinanderfliegen« des Nukleus möglich scheint – das könnte die Ergebnisse aus Berlin erklären. Mitten im verschneiten Wald setzen sie sich auf einen Baumstamm und beginnen, »auf kleinen Zettelchen zu rechnen«, erinnert sich Frisch.⁶ Mit einem Mal wird klar, dass hier tatsächlich eine Spaltung des Atomkerns vorliegen muss. Nicht nur das: Bei einem solchen Prozess müssten gewaltige Mengen an Energie freigesetzt werden! Dieser Gedanke wird bald eine regelrechte Kettenreaktion auslösen, an deren Ende Atombombe und Kernenergie stehen. Der Weg ins Atomzeitalter ist eingeschlagen.

    I. Teil – Aufbereitung: Lise Meitners Wiener Jahre

    1. Kapitel: Liberale Familie im Fin de Siècle

    »Papa gab mir die Freiheit der Gedanken, die Lust zur Wissenschaft, und hat mich ihr geschenkt.«

    In der Wiener Staatsoper steht Verdis »Aida« mit Anna d’Angeri in der Hauptrolle auf dem Programm, als keine zweieinhalb Kilometer entfernt Elise Meitner geboren wird.⁸ Es ist Sonntag, der 17. November 1878 – in Neapel überlebt an diesem Tag Italiens König Umberto I. ein Attentat, in New York hat in dieser Woche Thomas Alva Edison die Edison Electric Light Company gegründet, um seine Entwicklung der elektrischen Glühlampe zu finanzieren. In der Wiener Wohnung der liberalen jüdischen Familie Meitner in der Kaiser-Joseph-Straße 27, später Heinestraße 27, beginnt soeben das Leben einer künftigen Wissenschaftlerin von Weltrang.

    Elise, die unter dem Namen Lise durchs Leben gehen wird, feiert ihren Geburtstag später zwar am 7. November und auch ihre amtlichen Dokumente werden dieses Datum tragen. Im Geburtenbuch der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien ist aber der 17. 11. verzeichnet.⁹ Die Vermutung liegt nahe, dass die Ziffer 1 irgendwann in Lises Kindheit durch das Versehen eines Beamten abhandenkommt und sie so formal zehn Tage älter wird.

    Ein »Tag der Namensertheilung« wird im Geburtenbuch nicht angegeben – Lises Eltern Hedwig und Philipp Meitner verzichten wohl auf die bei religiösen Juden für neugeborene Mädchen übliche Namensverlesung in der Synagoge, die bei den beiden älteren Schwestern noch vorgenommen wurde.¹⁰ Jüdische Traditionen spielen für die Eltern nur eine geringe Rolle.¹¹ Lise ist das dritte von insgesamt acht Kindern: 1876, im Jahr nach Hedwigs und Philipps Hochzeit, kommt die älteste Schwester Gisela zur Welt, jeweils ein Jahr später folgen Auguste, genannt Gusti, und Lise. In den nächsten 13 Jahren werden noch fünf weitere Kinder geboren: Moriz, den alle Fritz rufen, Carola¹², oft Lola genannt, Max, Frida und Walter.¹³ Die Familie bleibt für Lise ihr ganzes Leben lang ein wichtiger Anker, vor allem mit ihrem jüngsten Bruder Waltl ist sie bis zu seinem Tod 1961 eng verbunden.

    Aus dem Kronland in die Metropole

    Lises Eltern zieht es wie so viele junge Menschen aus den österreichischen Kronländern im 19. Jahrhundert in die Metropole Wien. Der Vater Philipp Meitner kam in Mähren zur Welt, die Mutter Hedwig Meitner, geborene Skovran, in der Slowakei. Zu jener Zeit erlebt die Reichshauptstadt innerhalb weniger Jahrzehnte eine ungeheure Expansion und wandelt sich zu einer der modernsten Großstädte der Welt. Aus rund 550 000 Wienerinnen und Wienern im Jahr 1850 sind zwei Dekaden später schon über 900 000 geworden. Ende der 1870er-Jahre, als Lise geboren wird, ist die Million längst überschritten.¹⁴

    Mit der enormen Zuwanderung verändert sich auch das Stadtbild deutlich. Nach der Eingemeindung der Vorstädte sind Stadtmauer und Befestigungsanlagen nicht nur obsolet geworden, sie behindern den wachsenden Verkehr und besetzen wertvolles Bauland. 1857 ordnet Kaiser Franz Joseph im Zuge der »Stadterweiterung« ihre Schleifung an und lässt stattdessen einen Prachtboulevard errichten, der Wien bis heute architektonisch prägt: 1865 wird die Ringstraße feierlich eröffnet.

    Unter den neuen Hauptstädtern sind viele Juden. Im Staatsgrundgesetz 1867 wird nach Jahrhunderten der Verfolgung und Diskriminierung ihre gesetzliche Gleichstellung in der neu geschaffenen Doppelmonarchie Österreich-Ungarn festgeschrieben – es ist der Beginn eines »goldenen Zeitalters« des jüdischen Wiens. Das spiegelt sich nicht nur in den steigenden Mitgliederzahlen der Israelitischen Kultusgemeinde wider, sondern auch in der Sozialstruktur des Wiener Judentums. Waren 1860 noch 6200 Juden in Wien verzeichnet, sind es zehn Jahre später 40 000, um 1900 umfasst die jüdische Bevölkerung Wiens bereits 147 000 Menschen und damit mehr als acht Prozent der Wiener Gesamtbevölkerung. Die Einwanderung erfolgt zunächst vorwiegend aus Ungarn, Böhmen und Mähren, später vermehrt aus Galizien und der Bukowina.¹⁵ Der starke Antisemitismus in den Kronländern ist ein wichtiges Motiv für den jüdischen Zuzug nach Wien, wo der Zugang zu öffentlichen Ämtern, die uneingeschränkt mögliche Schaffung pädagogischer und kultureller Institutionen und die völlige Religionsfreiheit Juden endlich den gesellschaftlichen und beruflichen Aufstieg ermöglichen.¹⁶

    In seinen Erinnerungen Die Welt von Gestern schreibt der in Wien gebürtige Schriftsteller Stefan Zweig über die jüdischen Einwanderer aus Mähren, zu denen wie Lise Meitners Vater auch sein eigener gehörte: »Früh vom orthodox Religiösen emanzipiert, waren sie leidenschaftliche Anhänger der Zeitreligion des ›Fortschritts‹ und stellten in der Ära des politischen Liberalismus die geachtetsten Abgeordneten im Parlament. Wenn sie aus ihrer Heimat nach Wien übersiedelten, paßten sie sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit der höheren Kultursphäre an, und ihr persönlicher Aufstieg verband sich organisch mit dem allgemeinen Aufschwung der Zeit.«¹⁷

    Auch Philipp Meitner ist ein progressiver Freigeist, für den Bildung und Kultur zu den höchsten Gütern zählen. 1839 in Woechowitz nahe Mährisch-Weißkirchen (Hranice na Moravě) in eine religiöse jüdische Familie hineingeboren, zieht es ihn als knapp 20-Jährigen nach Wien. Er inskribiert im Dezember 1862 an der Juridischen Fakultät der Universität Wien und wird wenige Jahre später zum Doktor der Rechtswissenschaften promoviert.¹⁸ Er schlägt eine Laufbahn als Hof- und Gerichtsadvokat ein. Im Sommer 1875 heiratet Philipp Meitner seine um elf Jahre jüngere Verlobte Hedwig Skovran, geboren 1850 in Novák im Komitat Neutra in der heutigen Westslowakei.

    Es ist den Aufzeichnungen von Lises ältester Schwester Gisela zu verdanken, dass sich die Geschichte der Meitners heute ein gutes Stück weit nachvollziehen lässt.¹⁹ Der Familienname leitet sich vom mährischen Ort Meiethein ab, aus dem Philipps Vorfahren stammen. Als Kaiser Joseph II. 1787 für Juden das Führen deutscher Familiennamen anordnet, nennt sich die Familie Meietheiner – daraus wird im Lauf der Zeit Meitheiner, dann Meithner und schließlich Meitner. Lises Urgroßvater Reb²⁰ Meitner ist im Dorf hoch angesehen. Jeden Freitagabend, dem Schabbat, schleicht er im Schutz der Dunkelheit durch die Gassen und legt Brot vor die Türen armer jüdischer Familien. Er tut es heimlich und will von niemandem ein Dankeswort hören, doch der ganze Ort weiß, wer der Wohltäter ist.

    Reb Meitners vermutlich 1803 geborener Sohn Moriz, Lises Großvater, heiratet in den 1830er-Jahren die verwitwete Charlotte Löwy, geborene Kohn. Sie bringt zwei Söhne in die Ehe mit und besitzt eine Landwirtschaft mit Gasthaus im mährischen Woechowitz. Hier kommt 1839 Lises Vater Philipp Meitner zur Welt. Moriz ist in seiner Jugend als Lehrer tätig, spricht Französisch und liest Rousseau. Obwohl er selbst nach den Vorschriften orthodoxer Juden lebt, zeigt er sich weltoffen und tolerant gegenüber Andersgläubigen. Als sein Sohn Philipp in der Jugend freigeistige und areligiöse Ansichten entwickelt, entgegnet er mild: »Vielleicht hast du recht.«

    Lises Großmutter Charlotte ist eine arbeitsame und selbstdisziplinierte, aber sehr heitere Frau. Sie ist schön, trägt gern elegante Kleider und lässt sich durch nichts und niemanden aus der Ruhe bringen, wie Philipp später seinen Kindern erzählt: »Das Haus brannte ab – die Großmutter sang, im Dorf war Cholera – die Großmutter sang!«

    Über die Vorfahren von Lises Mutter Hedwig ist weniger bekannt. Ihr Vater Bernhard Skovran wandert jedenfalls aus Russland in die Slowakei ein und heiratet dort um 1840 Julie Reinitz. Lises Großmutter Julie sagt zeit ihres Lebens, sie wisse nicht genau, wie alt sie ist. Großvater Bernhard wird Heereslieferant für Gewehrschäfte und handelt mit Rebstöcken für Tokajer Wein, ein einträgliches Geschäft. Mit dem wachsenden Vermögen kauft er zwei Häuser in Wien. Als Hedwig fünf Jahre alt ist, erhält sie einen Hauslehrer und lernt Lesen und Schreiben. Sie ist ein aufgewecktes, fröhliches Kind und der Liebling des Vaters, leicht sind ihre Kindheit und Jugend dennoch nicht. Die Ehe der Eltern ist unglücklich, der Vater jähzornig und streng. Seine langjährige schwere Erkrankung belastet die Familie stark, 1872 stirbt er 51-jährig. »Die guten Tage [für Hedwig] kamen erst mit Papa«, schreibt Lise Meitners Schwester Gisela.²¹

    Kindheit in Wien

    Nach ihrer Hochzeit beziehen Lises Eltern die Wohnung in der Kaiser-Joseph-Straße in der Wiener Leopoldstadt, zwischen dem Augarten und dem Wiener Prater gelegen. Philipp eröffnet eine Kanzlei, die direkt mit der Wohnung verbunden ist. Aus den Kanzleifenstern sieht man auf einen kleinen Garten und Richtung Donaukanal und Ringstraße. Hier werden die Kinder später, nach Büroschluss, oft den Ausblick in der Abendsonne genießen. 1881 beobachten die älteren Geschwister vom Fenster aus sogar den verheerenden Ringtheaterbrand. Im Kinderzimmer gibt es zunächst nur zwei Betten mit grünen Netzen, von denen eines eine Lade besitzt. Abends wird das Ausziehbett herausgezogen, erinnert sich Gisela: »In der Lade schlief Lise.«²²

    Die dunkelhaarige, ernste Lise ist das zierlichste der Kinder. Ihr paradoxer Spitzname, den sie sich fallweise auch als Erwachsene noch selbst gibt, ist »Wuzerl«, was auf Wienerisch dickes Mädchen bedeutet. Sie interessiert sich schon früh für naturwissenschaftliche Fragen, verschlingt Bücher und ist stiller, vielleicht auch schwieriger als ihre Geschwister. Statt im Haushalt mitzuhelfen (Haushaltsführung wird ihr ein Leben lang ein Graus bleiben), liest sie lieber, worüber sich die Geschwister gern lustig machen.²³ »Lise war in einer speziellen Art ein für Mutter schwer erziehbares Kind. Sie war die einzige von uns, die die Mutter zu Jähzorn und Schlägen hinreißen konnte«, schreibt Gisela in ihren Erinnerungen.²⁴

    Die Volksschule am nahe gelegenen Czerninplatz, die Lise von 1884 bis 1889 besucht, stillt ihren Wissensdurst nicht. Rückblickend erinnert sie sich vor allem an die ungeliebte Lehrerin und »meinen vergeblichen Kampf mit Tintenflecken, die ein richtiger Kummer für meine Eltern waren und sie fast zur Überzeugung brachten, ich sei ein ganz hoffnungsloses Kind«.²⁵

    Doch hoffnungslos ist Lise keineswegs. Die Eltern beschäftigen sich viel mit ihr und ihren Geschwistern und fördern sie nach Kräften. Die Mutter bringt ihnen Lesen und Schreiben bei, mit dem Vater lernen sie Latein, etwas Hebräisch, Französisch und Englisch. Die Familie unternimmt ausgedehnte Spaziergänge durch die Wiener Innenstadt, an einem 1. Mai sehen sie die Kaiserin Elisabeth aus nächster Nähe von der Aspernbrücke aus im offenen Wagen vorbeifahren. Philipp nimmt die Kinder mit zu Pferderennen, in die Oper, ins Theater und in Museen. »Ich fühle beinahe täglich mit Dankbarkeit, wieviel ich an Gutem und Schönem von zuhaus mitbekommen habe. Letzten Endes ist es noch heute der Boden, auf dem ich stehe«, schreibt Lise 1951 in einem Brief über diese Zeit.²⁶

    Im Herbst 1889 kommt Lise in die dreijährige Bürgerschule am Czerninplatz. Diese 1869 geschaffene Schulform soll »eine über das Lehrziel der Volksschule hinausreichende Bildung« sicherstellen – für Mädchen ist der Rahmen des »Hinausreichens« allerdings stark begrenzt.²⁷ Ein Blick auf Lises erstes Bürgerschulzeugnis vom Juli 1890 offenbart bereits die Begabungen und Interessen der Elfjährigen: Sie hat größtenteils gute Noten, in allen Wissensfächern – etwa in Rechnen, Geometrie, Naturgeschichte oder Geografie – wird sie mit »Sehr gut« benotet. In den Fächern Freihandzeichnen, Schönschreiben und »Weibliche Handarbeiten« sind ihre Leistungen hingegen gerade einmal »Genügend«. Auch in den Kategorien »Sittliches Betragen« und »Fleiß« gibt es keine Bestnoten: Hier wird Lise mit »Entsprechend« beziehungsweise »Befriedigend« beurteilt.²⁸ Womöglich langweilt sich das belesene Kind in der Schule.

    An Sonntagen holen Lise und ihre Geschwister den Vater oft vom Schachklub ab – Philipp Meitner ist ein leidenschaftlicher und exzellenter Schachspieler. Als er nach Wien kommt, trifft er schnell einen Schachpartner: den legendären Wilhelm Steinitz, der es später als erster allgemein anerkannter Schachweltmeister und Revolutionär der Schachtheorie zu Weltruhm bringen wird. Die beiden verabreden sich in Kaffeehäusern rund um die Wiener Universität, zunächst ist Philipp noch der bessere Spieler. Er nimmt, obwohl Amateur, an internationalen Turnieren teil und erreicht Plätze im

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